Von Marina Müller.
Der Kommunist Jean-Luc Mélenchon bewirbt sich am Sonntag als Premierminister des größten EU-Mitgliedstaates. So richtig zu verstehen, was er eigentlich will und denkt, ist nicht gerade einfach. Und das Wahlprozedere auch nicht.
Abstruse Ideen und eine große Klappe – so sieht man ihn sehr häufig in französischen Fernseh-Talkshows –, aber so richtig zu verstehen, was er eigentlich will und denkt, ist nicht gerade einfach. Dennoch hat es Jean-Luc Mélenchon geschafft, verschiedene soziale Gruppen zu mobilisieren und mit ihrer Hilfe den immerhin dritten Platz bei der letzten Präsidentschaftswahl zu belegen – mit satten 21,95 Prozent!
Während alle Aufmerksamkeit deutscher Zuschauer vor allem auf Präsident Emmanuel Macron und Marine Le Pen gerichtet war, hat Jean Luc Mélenchon bei dieser Wahl den linken „vote utile“ verkörpert, also jenen Kandidaten, den man aus „taktischen Gründen“ wählt. Natürlich darf man die altlinken Traditionswähler hierbei nicht unterschätzen, aber sein starkes Wahlergebnis ist eher einem bunten Strauß sozialer, gesellschaftlicher und grüner Themen zu verdanken. Getragen wurde sein Erfolg von einer Koalition der engagierten Jugend aus unterschiedlichen sozialen Klassen, dem gebildeten Mittelstand und den Bewohnern (ausländischer Abstammung) der einkommensschwachen Vorstädte, den sogenannten Banlieues. Als interessante Randnotiz sei angemerkt, dass Mélenchon bei den ca. 10.000 Gefängnisinsassen, die in diesem Jahr an der Wahl teilnehmen durften, (seit 2019 darf man in Frankreich auch vom Gefängnis aus wählen) den ersten Platz belegt hat!
Geboren in Marokko
Jean-Luc Mélenchon wurde 1951 in Tanger (damals eine internationale Zone im hauptsächlich französischen und zum kleinen Teil spanischen Marokko) geboren. 1972 gründet er eine Studentengewerkschaft an der Universität von Besançon im Osten Frankreichs und schließt sich der internationalen Organisation der Kommunisten (Trotzkisten) an. 1974 tritt er der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste, das Gegenstück zur deutschen SPD) bei und sammelt politische Erfahrung vor allem in der Region Essonne bei Paris. Später wird er Stadtrat und stellvertretener Bürgermeister von Massy (Stadt südlich von Paris). 1986 wird er zum Senator gewählt, einen Posten, den er erst 2000 für den Posten des Ministers für Berufsausbildung in der Regierung des sozialistischen Premierministers Lionel Jospin aufgibt.
Mélenchon macht sich in seiner Partei ganz besonders im Jahre 2005 bemerkbar, als er gegen die Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages aufruft, der zwar 2004 feierlich von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet wird, dessen Umsetzung aber nicht zuletzt auch daran scheitert, dass tatsächlich eine Mehrheit der Franzosen diesen Vertrag in einem Referendum ablehnt.
Von links zu noch linker
Mélenchon verlässt schließlich im November 2008 die Sozialistische Partei (PS) und gründet mit Marc Dolez die „Parti de Gauche“ (PG, = Partei der Linken) und schließt sich im Senat der Gruppe „Communiste, republicain, citoyen“ (CRC = Kommunisten, Republikaner, Bürger) an. Für die Europawahlen 2009 führt er die „Front de Gauche pour changer d’Europe“ (Linke Front, um Europa zu verändern) an und wird mit der Gruppe „Gauche unitaire européenne – gauche verte nordique“ (GUE-NGL = Europäische Linke + Nordische grün-linke Allianz) auch ins Europäische Parlament gewählt (Wiederwahl 2014).
2011 wird er erstmals als Präsidentschaftskandidat aufgestellt und fährt für seine „Front de Gauche“ 2012 immerhin 11,1 Prozent der Stimmen ein, unterliegt allerdings bei den Legislaturwahlen (elections legislatives) – also jenen, die auch morgen wieder anstehen – in seinem Wahlbezirk um Calais im direkten Wettbewerb gegen die Vorsitzende der „Front National“ (FN), Marine Le Pen. 2014 rumort es in der „Front de Gauche“, und nach einem schlechten Ergebnis der Partei bei den Europawahlen, das zu einem nicht geringen Teil auf diese internen Streitigkeiten zurückzuführen ist, verlässt Jean-Luc Mélenchon den Parteivorstand, um ein ganz großes linkes Bündnis zu gründen aus „Front de Gauche“, den „Ecologistes“ (= Grüne) und um alle Enttäuschten der „Parti Socialiste“ zusammenzutrommeln. Ergebnis dieser Bemühungen ist im Februar 2016 die neue linksradikale Partei „La France insoumise“ (LFI = das rebellische Frankreich) und erringt bei den Präsidentschaftswahlen 2017 19,58 Prozent, die er, wie erwähnt, 2022 sogar auf 21,95 Prozent ausbauen konnte.
Was er will
Sein Programm beinhaltet kurz gefasst die Abwendung von der Marktwirtschaft hin zur ökologischen Planwirtschaft, die soziale Notstandsgesetze ermöglicht sowie den Ausbau des öffentlichen Dienstes und eine verstärkte Besteuerung der Reichen. Volksabstimmungen und das derzeit bei den linken Parteien Europas so populäre Wahlrecht ab 16 Jahren, ein Preisdeckel für Grundnahrungsmittel, ein bedingungsloses Grundeinkommen (SMIC) von etwa 1.400 Euro, die Rente mit 60, weltweite Steuerpflicht für Franzosen (um Steuerflucht zu verhindern) und eine Erbschaftssteuer von 100 Prozent auf alles, was über 12 Millionen geht, gehören ebenfalls zum Werkzeugkasten Mélenchons.
Eine Parallele zur deutschen Kommunistin Sahra Wagenknecht (die seinen Erfolg vermutlich gerne hätte!) ist seine äußerst kritische Sicht auf die EU und die Forderung nach einem NATO-Ausstieg Frankreichs – eine sehr umstrittene Forderung gerade in Zeiten des Ukraine-Krieges (dass er außerdem gegen Waffenlieferungen für die Ukraine ist, erklärt sich damit fast von selbst). Zudem fordert er ein Verbot von verletzenden Polizeiausrüstungen (z.B. Schlagstöcken) und die vom Staat bezahlte Renovierung von 700.000 Wohnungen pro Jahr (man denke an die Banlieues in den französischen Vorstädten, gegen die deutsche Problemviertel wie Berlin-Neukölln oder Köln-Chorweiler geradezu Gold sind!) und die Legalisierung des Aufenthaltsstatus von illegalen Immigranten. Seiner Kooperation mit den Grünen geschuldet ist seine Forderung, dass auch in Frankreich bis 2030 die Treibhausgasemissionen auf 65 Prozent gesenkt werden sollen.
Ein schwer durchschaubares Wahlsystem
Wie so oft gehört zu einem solchen Konglomerat linker Ansichten auch eine tiefe Abneigung gegen den jüdischen Staat Israel: Nachdem der Labour-Kandidat Jeremy Corbyn (der ebenso anti-israelisch denkt wie Mélenchon) die britischen Unterhauswahlen 2019 verloren hatte, führte Mélenchon das auf dessen nachgiebige Reaktion gegenüber Antisemitismus-Vorwürfen zurück. Corbyn hätte sich nicht entschuldigend äußern und dadurch Schwäche zeigen sollen. Während des Israel-Gaza-Konflikts 2021 bezeichnete er die israelische Regierung gar als „rechtsextrem“.
Der Vollblut-Politiker, der u.a. die DDR als „von Westdeutschland annektiert“ bezeichnete, sieht sich selbst bereits als Premierminister. Dazu müsste er jedoch erst einmal am Sonntag die Mehrheit der 577 Abgeordneten der Nationalversammlung (Assemblée Nationale) erringen. Und dann wird es gerade für Nicht-Franzosen richtig anstrengend, das System zu durchschauen: Präsident Emmanuel Macron, der viel mehr Macht besitzt als beispielsweise der deutsche Bundespräsident, hat mit Elisabeth Borne bereits seine eigene Wunschkandidatin als Premierministerin eingesetzt, die gewissermaßen als „Erfüllungsgehilfin“ ihres politischen Freundes Macron das Kabinett leitet (ganz anders wären die Dinge jedoch gelagert, wenn der Premierminister einem anderen politischen Lager als der Präsident angehört).
Und ob Madame Borne nun im Amt verbleibt oder Monsieur Mélenchon sie schon nach wenigen Monaten beerbt, hängt davon ab, ob nach der morgigen Wahl die Parlamentsmehrheit in Opposition zum Präsidenten stehen wird oder nicht. Tritt dieser Fall ein, so kommt es zur sogenannten cohabitation: Weil der Premierminister vom Vertrauen der Nationalversammlung abhängig ist, ist der Staatspräsident gezwungen, den Führer der Opposition zum Premierminister zu ernennen. In diesem Fall können sich die Kompetenzen des Premierministers im Zusammenspiel mit der ihn stützenden Parlamentsmehrheit voll entfalten und der Staatspräsident zieht sich in dieser cohabitation auf eine Moderatorenrolle und seine übergeordnete Verantwortung in Außen- und Verteidigungspolitik zurück. Kein Wunder, dass das Wort „Cohabitation“ nur im Französischen vorkommt – dieses verworrene politische System wollte den Franzosen niemand nachmachen.
Auf jeden Fall wäre es die Krönung von Mélenchons Laufbahn, der in seinem Leben neben einem ganz kurzen Intermezzo als Lehrer wenig anderes außer Politik betrieben hat. Die Chancen für seinen Erfolg haben sich nun noch einmal verbessert, seit er erst vor ein paar Wochen ein noch breiteres linkes Bündnis unter seinem Vorsitz namens NUPES geschaffen hat, dem nun sogar seine frühere Partei, die Parti Socialiste, angehört.