Unlängst belohnte mich der Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – mutmaßlich als Entschädigung für eine mehrtägige Nichtzustellung – mit einem (Werbe-)Exemplar des Hochglanz-Produktes "Frankfurter Allgemeine Quarterly". Anstrengende oder – für Leser mit Flugmeilenbonus – eher leichtverdauliche Lektüre? Schwierige Frage.
178 Seiten, inklusive der Werbeseiten, beispielsweise: "Ulrich Tukur fragt: Verdient meine Bank mit meinem Geld mehr als ich. Fragen Sie doch mal uns. qurinprivatbank.de". Auf der linken Seite zuvor geht es um "Offene Fragen" zu "wirklich existentiellen Themen", obenan zu Markus Söders Kreuz-Erlass. Frage 03: "Spürt man in Bayern schon den Effekt. Fühlt man sich dort jetzt christlicher, abendländischer, identischer?" Frage 16: "Gibt es keine wichtigeren Probleme [als die Flüchtlingsdebatte]?" Erheiternd Frage 20: "Wann fordert Horst Seehofer eine Obergrenze für Algorithmen?"
Offenbar zielt das zukunftsorientierte Magazin auf noch klügere Köpfe als das – der Antifa zum Trotz? – noch immer in altdeutscher Fraktur im Titel aufgemachte Tagesleitmedium. Jedenfalls ermutigt das "Quarterly" den Leser zum angstfreien Blick in die Zukunft, nicht zuletzt in der Rubrik "Wirtschaft". Auch da geht es um "Frequently Asked Questions". Ein Bericht über die boomende – unlängst von der Kanzlerin besichtigte – 21-Millionen-Stadt Shenzhen ermuntert den von jäher Zukunftsangst beseelten Leser unter Verweis auf die beispielhaften Lebenserfahrungen Angela Merkels.
"Was geschieht, wenn man den Wettbewerb um die Zukunft selbst aufgibt, hat die Kanzlerin in der späten DDR erfahren. Sie hat gesehen, dass ein ganzes System zusammenbricht, wenn es wirtschaftlich nicht mehr mithalten kann. Sie hatte nie die Illusion, dass allein die Bürgerrechtler mit ihrem Ruf nach Demokratie zum Einsturz brachten. Zur Implosion kam es erst, als die Mehrheit an den materiellen Verhältnissen verzweifelte. Deshalb weiß sie: Die Zukunft der Demokratien auf der Welt entscheidet sich auch daran, ob sie noch Lust auf jene Zukunft haben, die in Shenzhen schon zu besichtigen ist."
Exemplarisch tritt in derlei Sätzen die bei Marx noch dialektisch gespaltene Einheit von Sein und Bewusstsein hervor.
Grünen-Chef Robert Habeck als Experte für Historisches
Merkel ("Ich als Physikerin") macht Hoffnung. Was bedarf es da noch eines Blicks in die Vergangenheit, in die Realgeschichte? Warum an Afghanistan, an das Ende des Kalten Krieges – Folge des von der Sowjetunion verlorenen Rüstungswettlaufs – an Reagan, an Gorbatschow und an Helmut Kohl erinnern? Wir vertrauen auf Angela Merkels nüchtern-kühlen Blick in die postdeutsche Zukunft. Wir schaffen das.
Ganz ohne Geschichte geht es dann im "Quarterly" doch nicht. Als Experte für Historisches, als Kronzeuge dafür, dass "die Deutschen [nicht] nur Gehorsam und Untertanengeist kennen", wird der Grünen-Chef Robert Habeck interviewt. Habeck verpasste als Zwanzigjähriger leider den 9. November 1989, was ihn "heute total ärgert". Er hat indes mit seiner Ehefrau ein Theaterstück "Neunzehnachtzehn" über den die Novemberrevolution auslösenden Matrosenaufstand in Kiel verfasst. (Anmerkung des Autors: Die Männer hatten recht, als sie die Kessel löschten, um sich nicht in einer "letzten" Prestigeschlacht verheizen zu lassen.) Habeck freut sich, dass am Ende der Aufführung seines Stückes 2008 auch ranghohe Marineoffiziere lange klatschten.
Das Verhältnis zu revolutionärer Gewalt ist bei Habeck nicht ganz eindeutig zu definieren. Er seziert die Dialektik der Revolution, etwa der Französischen, wo "der Mordrausch das Gute [vernichtete], für das sie einst eintrat." Gewalt – wie zuletzt beim G20-Gipfel in Hamburg – ist nicht seine Sache. "Scheiben einschmeißen ändert nicht die Politik. Das ist die falsche Projektion einer Haltung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aus einer totalitären Kaiserzeit auf die Gegenwart." Mit dieser ins Kaiserreich projizierten Ausweitung des Totalitarismusbegriffs findet der Grünen-Vorsitzende Habeck womöglich auch bei bei Katja Kipping und der Geschichtskommission der "Linke"-Partei Zustimmung.
Dieser Beitrag erschien auch auf Herbert Ammons Blog