Sommer, Sonne, sich auf dem eigenen Grundstück im Garten räkeln und liebe Nachbarn, die man zum Grillen oder zum Kaffee einlädt oder von denen man eingeladen wird. Was kann es eigentlich Schöneres geben? Wohl dem, der solche Nachbarn hat.
So oder ähnlich dachte vermutlich unser Bundespräsident, als er am 22. August zu einer deutsch-türkischen Kaffeerunde ins Schloss Bellevue einlud. Nun ja, ganz so spontan, wie ich das mit meinen Nachbarn lebe, wird es wohl nicht abgegangen sein, der eine oder andere Berater dürfte Frank-Walter Steinmeier zur Seite gestanden haben, als es darum ging, auszuwählen, wer zu Kaffee und Kuchen kommen darf. Möglich auch, dass der eine oder andere dabei war, den er überhaupt nicht kannte, weil der einfach zu weit vom Zaun des Schlosses entfernt wohnt und eben nicht so ohne Weiteres über selbigen rufen kann, „Hallo Walter, wie geht’s denn so in deiner Riesenhütte?“
Doch Spaß beiseite und zurück zu den lieben Nachbarn. Der Bundespräsident konnte sein Erstaunen darüber, dass seine türkischen Nachbarn selbst das Opferfest vernachlässigten, um seiner Einladung zu folgen, nur mit Mühe verbergen, denn dieses für die Muslime so bedeutsame Fest hatte er beim Schreiben der Einladungen glatt vergessen. Das kann durchaus mal vorkommen, auch ein Bundespräsident kann nicht an alles denken.
Hey Walter, komm doch mal rüber!
Umso größer war die Freude des Bundespräsidenten darüber, endlich mit seinen Nachbarn ins Gespräch zu kommen und sich mit ihnen über ihren Alltag, ihre Erfahrungen und das Zusammenleben in Deutschland auszutauschen. Denn obwohl er ja schon ziemlich lange Schlossherr ist, hatte er bis dato keine Gelegenheit hierfür gefunden, und auch keiner der Nachbarn hatte sich bisher befleißigt, über den Zaun zu rufen, „Hey Walter, komm doch einfach mal rüber“. So wie das Nachbarn eben machen und so, wie es der Bundespräsident in seiner Rede vor Ort betonte. Irgendetwas war wohl immer dazwischengekommen. Jetzt aber war es endlich soweit.
Als ich den eingeladenen Personenkreis sah, verspürte ich so etwas wie Neid. Nicht, dass ich mit meinen eigenen Nachbarn nicht zufrieden bin. Aber so ein durchweg gebildetes Publikum kommt in einer Nachbarschaft doch eher selten vor, was sicherlich der Ortslage geschuldet ist. Auch früher wohnte der ungebildete Bauer oder das fahrende Volk nicht unmittelbar an der Schlossmauer, sondern eher in gehörigem Abstand. Frank-Walter Steinmeier teilt also mein Glück, sich nicht mit Nachbarn herumärgern zu müssen, die einem das Leben zur Hölle machen können, denn solche, soll es tatsächlich geben, auch in Berlin.
Die eingeladenen Nachbarn lauschten andächtig den Worten des Bundespräsidenten, als er darüber philosophierte, dass es „keine halben oder ganzen, keine Bio- oder Passdeutschen“ und auch keine “richtigen oder falschen Nachbarn“ gäbe, und natürlich auch „…keine Deutschen auf Bewährung, die sich das Dazugehören immer neu verdienen müssen und denen es bei angeblichem Fehlverhalten wieder weggenommen wird“.
Wer bin ich? Und warum?
Während er nachfolgend vom alltäglichen Rassismus und der Diskriminierung sprach, denen viele Menschen in der Gesellschaft ausgesetzt seien, und dass ihn das unruhig mache, machte mich etwas anderes unruhig. Gibt es hierzulande überhaupt noch Deutsche, und als was oder wie sollte ich mich künftig fühlen, da ich noch immer einen deutschen Pass habe und auch eine Geburtsurkunde mit dem Hinweis auf die Nationalität? Ich war verwirrt. Nun lege ich keinen besonderen Wert auf meine Nationalität, denn ich konnte sie mir nicht aussuchen, doch schämen tue ich mir ihrer auch nicht.
Ich fragte mich jedoch, weshalb Herr Steinmeier nur von Deutschen sprach und nicht davon, dass in dieser Gesellschaft eine zunehmend größere Anzahl von Menschen lebt, denen seine Überlegungen völlig schnuppe sind, weil sie sich eben nicht als Deutsche, sondern zuerst als Türken fühlen und sich auch so verhalten. Aktuelle Studien zeigen, dass sich viele der Türken oder türkisch-stämmigen Deutschen vorrangig zur Türkei hingezogen fühlen. Dass dies nicht nur eine Behauptung ist, kann jeder am Wahlverhalten derselben erkennen oder es bei Auftritten türkischer Politiker in Deutschland beobachten. Ich will an dieser Stelle auch nicht darüber mutmaßen, welchen Stellenwert der Bundespräsident unter dieser Bevölkerungsgruppe einnimmt.
Spinnt man den Faden weiter, so erscheint es also durchaus möglich, dass es doch falsche Nachbarn geben könnte. Das herauszufinden, hieße aber, den Schlossgarten zu verlassen und sich in andere Stadtteile zu begeben. Dorthin, wo das wahre Leben tobt. Dorthin, wo in der Regel keine deutsch-türkischen Kaffeetafeln stattfinden und von Türken keine Statements in erstklassigem Deutsch abgegeben werden wie bei Frank-Walter nach der Kaffeerunde.
Was ist mit der Inländerfeindlichkeit?
Es gibt in dieser Stadt und nicht nur in dieser Stadt durchaus Nachbarn, die man nicht zum Nachbarn haben möchte. Auch nicht an der Kaffeetafel. Herr Steinmeier weiß das natürlich, unternimmt aber alles, um der Bevölkerung weiszumachen, der angeblich so häufig anzutreffende Rassismus richte sich ausschließlich gegen Türken und andere fremde Nationalitäten.
Kein Wort von zunehmender Deutschfeindlichkeit und zunehmendem Antisemitismus, ausgehend zumeist von islamisch geprägten Zugewanderten. Nahezu immer erscheinen die Deutschen als Täter, wenngleich jede Tageszeitung eine andere Sprache spricht. Ich will das Vorhandensein von Rassismus in der deutschen Gesellschaft nicht bestreiten. Andererseits ist es mehr als weltfremd, anzunehmen, dass in den Ballungszentren unserer türkischen Mitbürger der antitürkische Rassismus an der Tagesordnung ist. Selbst der dümmste Neonazi, der an seiner Gesundheit interessiert ist, würde sich das dort nicht wagen. Insofern steht die berechtigte Frage im Raume, wo Türken täglich diese schlimmen Erfahrungen machen. Im Bürgeramt? Bei ALDI an der Kasse? Im Schwimmbad?
Weder ich noch sonst jemand hätte Probleme mit türkischen oder anderen Nachbarn, die so sind wie diejenigen, die der Bundespräsident zu sich eingeladen hatte. Gebildete, gut integrierte Bürger, die sich an der Mehrung des Wohlstandes der Gesellschaft beteiligen. Doch um die geht es nicht, wie wir alle wissen.
Insofern erspare ich es mir, diejenigen aufzuzählen, um die es wirklich geht. Frank-Walter Steinmeier hat sich das auch erspart, weil er an der Schlossidylle nicht kratzen wollte.
Nur wenige Deutsche lehnen Ausländer aus "rassistischen" Gründen ab. Es gibt solche Ausländerfeinde, doch man erkennt diese Idioten schon von weitem am Gang. Die meisten Deutschen wissen hingegen ganz genau, weshalb sie einige nicht oder nicht mehr hier haben möchten. Ihre durchaus triftigen Gründe werden zu rechten Motiven und Phobien umgedeutet, als ginge es um einen Nachbarschaftsstreit aus niederen Beweggründen.
Mit der U-Bahn zur Arbeit
Der Bundespräsident pflegt das Bild des überall und jederzeit benachteiligten Ausländers, wenn er Sätze wie diesen sagt: „Und immer wieder höre ich von Einwandererkindern und sogar von Einwandererenkeln: Obwohl ich hier geboren bin, obwohl ich mich ganz besonders anstrenge, gehöre ich trotzdem nicht richtig dazu.“ Ja, so etwas hört unser Bundespräsident immer wieder, wenn er mal wieder bei seinen Nachbarn unterwegs ist oder mit der U-Bahn zur Arbeit fährt. Selten begegnen ihm die 40 Prozent jener Enkel, die sich nicht besonders anstrengen, über keinen Schulabschluss verfügen und nie in der Lage sein werden, mit qualifizierter Arbeit hinreichend Geld für die eigene Familie zu verdienen.
Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt die folgende Aussage des Bundespräsidenten in seiner Gartenrede eine besondere Bedeutung:
„Ohne sie, ohne ihre Familien, die nachkamen, ohne ihre Kinder und Enkel wäre der wirtschaftliche Wohlstand unseres Landes, mehr noch: Unsere heutige Gesellschaft gar nicht denkbar.“
Die Leistungen der vielen "Gastarbeiter", insbesondere aus der Türkei, sind unbestritten, wenngleich nicht vergessen werden sollte, dass die Türkei sich damals nicht selbstlos von ihren Bürgern trennte. Dieser Teil der Geschichte wird gern vergessen.
Ich bin Frank-Walter Steinmeier dankbar für all diese Klar- und Richtigstellungen. Auch dafür, dass er sich nahezu ausschließlich auf die Rolle von Migranten bezog und nicht etwa auch auf die Lebensleistungen der Deutschen – auch derjenigen, die in der DDR ein in Trümmern liegendes Land wieder aufbauen mussten – ganz ohne Hilfe der Türkei.
Weshalb diese Kaffeetafel im Vorfeld des Besuches von Erdogan in Berlin stattfand, wissen oder ahnen wohl nicht einmal die Gäste des Präsidenten. Das Timing ist wohl kein Zufall. Kleine Zeichen erhalten die deutsch-türkische Freundschaft.