Das forcierte Vergessen und Verschweigen

Ständig sich der Öffentlichkeit in einer Art präsentieren zu müssen, die im Kern unwahr ist, verformt auch den Charakter.

Es gibt vermutlich eine hauchdünne Trennlinie zwischen dem Bewusstsein, zu manipulieren und zu lügen, und dem Glauben an die eigene Konstruktion. Helmut Kohls berühmtes Ehrenwort gehört zu ersterer Kategorie. Er war sich bewusst, dass er eine Wahrheit zurückhielt. Ich habe den Verdacht, dass dieses Bewusstsein bei vielen, nicht nur Politikern, nicht mehr vorhanden ist.

Ein auffälliges Thema in der gegenwärtigen politischen Landschaft ist das forcierte Vergessen: Ein Bundeskanzler, der sich nicht an Meetings erinnern kann, bei denen erhebliche Summen verschoben wurden, ein Rechner mit tausenden von E-Mails zur Sache, der auf seltsame Weise sichergestellt (gestohlen?) und offensichtlich von der Presse schon vergessen wurde, Minister, die mit ihrer Energiepolitik die Wirtschaft abwürgen, die Schuld daran aber keineswegs bei sich selbst sehen, andere Politiker, die ihre Äußerungen und Handlungen während der Coronazeit ebenso verdrängt oder vergessen haben wollen wie die Tagespresse mit einem Erinnerungsvermögen einer Fliege. Simple Logik scheint nicht mehr vorhanden zu sein, und wenn dann die hehren Projekte definitiv an der Wand physikalischer Unmöglichkeit oder nicht verstandener mathematischer Stringenz scheitern, sieht man eine Mischung aus Beleidigtsein, Ignoranz und den Versuchen, den Schwarzen Peter weiterzureichen.

Interessant dabei sind die Bruchstellen, die Punkte, an denen ein Narrativ umschlägt, in der Versenkung verschwindet, umgedeutet wird oder in einer Woge des Moralismus untergeht. Eine wichtige Frage ist, ob die politischen Protagonisten dieses großen Vergessens sich ihrer, sagen wir es platt, Lügen überhaupt bewusst sind, oder ob sie letztendlich selbst an sie glauben. Ob es einen intrinsischen Mechanismus gibt, der sie von der Realität abkoppelt, oder ob dieses – um jetzt auf die Terminologie von George Orwell zu kommen – Doppeldenk und Doppelsprech mehr ist als Zynismus und Selbsterhöhung, nämlich schon eine Art von dissoziativer Persönlichkeitsstörung, die sich im politischen Alltagsgeschäft einfach notwendig einstellt: Ständig sich der Öffentlichkeit in einer Art präsentieren zu müssen, die im Kern unwahr ist, verformt auch den Charakter.

Schon die völlig überflüssige Plakatierung bei Wahlkämpfen mit geschönten Gesichtern, die nahelegen sollen, dass hier Individuen zu wählen sind, ist eine bewusste Irreführung. Fraktionszwang und Parteilinie ebnen diesen Anspruch ein. Ausnahmen wie Wolfgang Bosbach bestätigen so sehr die Regel, weil sie als absolute Ausnahme auffallen. Hinter den Parteisoldaten steht immer ein großer Bruder – und hinter diesem vermutlich noch ein noch größerer. Davon abgesehen, wird ein Großteil der Gesetzgebung sowieso in Brüssel von ungewählten Bürokraten eines nicht mehr durchschaubaren Molochs gemacht.

Die Mär vom geringeren Übel

Aber warum lassen sich die Volksvertreter auf dieses Spiel ein? Einmal gilt: „Follow the money.“ Für einen Studienabbrecher oder einen Aufsteiger aus der Parteijugend gilt immer, dass ein Abgeordnetensitz immer noch besser ist als das großzügigste Bürgergeld. Und wenn einen die Ahnung beschleicht, dass man vielleicht nicht einmal für die Discounterkasse qualifiziert wäre, dann fängt man an, an seiner Pfründe zu hängen und die geforderten Stichwörter zu papageien.

Und es gibt noch viel mehr: Pensionen, Dienstwagen, Büros. Nicht zu vergessen ist, dass man plötzlich Leute unter sich hat: Sekretärinnen, Laufburschen, Praktikanten, Chauffeure und in höheren Ämtern auch Hoffotografen, Visagistinnen, Berater und nochmals Berater, eine freundliche Presse – und am Ende der Karriere sicher den Posten eines Frühstücksdirektors bei einem bedeutenden Unternehmen oder bei einer NGO. Die Klügeren können sogar die Lobbyistenkarriere einschlagen. Also Pfründe zuhauf. Wem da das eigene Hemd näher ist als der löcherige Rock seiner Wähler, der kann durchaus auf Verständnis hoffen, zumal der Wähler nur alle paar Jahre in Aktion tritt und ihm dann wieder die Mär vom bald kommenden, gelobten Land erzählt wird. Heutzutage ist das eher die Mär vom geringeren Übel, aber das reicht auch, mehr wird ja schon nicht mehr erwartet.

Macht ist sicher ein Motiv: Ein Flugzeug herbeiwinken zu können, zu bestimmen, wer auf die Klassenfahrt mitdarf, sich in der Sonne öffentlicher Aufmerksamkeit zu bräunen, eingecremt mit der Milch der frommen Denkungsart. Unabdingbar, geradezu unverzichtbar für diese Geisteshaltung, die bar jeder Realitätswahrnehmung und Selbstreflexion Kuchen empfiehlt, wenn's am Brote fehlt, ist aber einmal das Gefühl, zu den Guten zu gehören, im Recht zu sein, was immer auch die Notwendigkeit eines am besten personalisierten Bösen bringt. Ohne Satanas geht's halt nicht, ob der nun Trump oder Höcke heißt. Diese Ausgeburten einer medialen Hölle sind für die Selbstvergewisserung des Systems so notwendig wie die Schuldentragfähigkeit des Staates.

Die Realitätsverdrängung der letzten Jahre

Der Parteienstaat fördert keinen wahrhaft verstandenen Individualismus. Im Gegenteil: Er fordert Unterwerfung zugunsten einer umfassenden Versorgung und nimmt damit eine bestimmte Tendenz unseres Gemeinwesens vorweg. Es ist fast müßig, auf die zahlreichen Beispiele für Realitätsverdrängung in der Politik der letzten Jahre hinzuweisen; interessant ist lediglich, das Platzen von Narrativen und die darauf folgenden Reaktionen zu beobachten. Beispiele hierfür sind die Mär von der nebenwirkungsfreien und wirksamen Coronaimpfung oder auch die Demontage der öffentlichen Figur der heiligen Greta.

Eine Reaktion ist schlichtes Verschweigen, das Thema nicht mehr aufkommen zu lassen. Eine andere ist der Einwand, man hätte es zum damaligen Zeitpunkt nicht besser wissen können. Auffällig ist jedoch weiterhin das fortgesetzte Lügen. Orden für Merkel, weitere Impfwerbung und die Diffamierung von Gegnern gehen trotz offensichtlichem Unrecht weiter, wie im Fall von Reitschuster oder Michael Ballweg. Im Extremfall wird sogar der institutionelle Selbstmord eher in Kauf genommen, als momentane Vorteile zurückzuweisen oder das Scheitern der eigenen Programmatik zu konstatieren. Dies gilt offensichtlich besonders für die FDP.

Während der Coronakrise tauchte ein halb vergessener Klassiker wieder auf: „1984“ von George Orwell. Das Werk wurde verstärkt gelesen, und die Bezüge zur Gegenwart waren unübersehbar. Der Held des Romans, Winston Smith, lebt in einer düsteren Diktatur. Seine Aufgabe besteht darin, Berichte über vergangene Ereignisse an die politischen Erfordernisse der Gegenwart anzupassen und das kollektive Gedächtnis zu manipulieren, indem er missliebige Texte und eliminierte Personen auslöscht. Die Machthaber verlangen ständig von ihm, widersprüchliche Aussagen gleichzeitig als wahr zu akzeptieren. Im dritten Kapitel seines Klassikers definiert George Orwell Doppeldenk mit den folgenden Worten:

„Sein Geist glitt ab in die labyrinthartige Welt des Doppeldenkens. Zu wissen und nicht zu wissen, sich der vollständigen Wahrhaftigkeit bewusst zu sein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählt, gleichzeitig zwei Meinungen zu haben, die sich aufheben, wissend, dass sie widersprüchlich sind, und an beide zu glauben, Logik gegen Logik zu verwenden, die Moral abzulehnen, während man darauf Anspruch erhebt, zu glauben, dass Demokratie unmöglich war und die Partei die Hüter der Demokratie war, zu vergessen, was immer es notwendig war zu vergessen, es dann im Moment, wenn es gebraucht wurde, wieder ins Gedächtnis zu rufen und es dann prompt wieder zu vergessen: und vor allem, denselben Prozess auf den Prozess selbst anzuwenden. Das war die ultimative Feinheit: bewusst Unbewusstsein herbeizuführen und dann, noch einmal, sich des Akts der gerade durchgeführten Hypnose nicht bewusst zu werden. Selbst das Verständnis des Wortes 'Doppeldenkens' erforderte den Einsatz von Doppeldenken.“ (1984, Kapitel 3).

 

Hubert Geißler stammt aus Bayern und war Lehrer für Kunst/Deutsch/Geschichte.

Foto: Montage Achguit.com

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Leserpost

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Bertram Scharpf / 19.12.2023

Man muß nicht Orwell bemühen. Schon mehr als dreihundert Jahre früher hat Shakespeare alles in seinem Macbeth beschrieben.

Wolfgang Schlage / 19.12.2023

Vielen Dank für diese Überlegungen und Beschreibungen. Auch ich habe mir verschiedentlich Gedanken gemacht, wie die Innenwelt unserer Politiker wohl beschaffen sein mag und wie die das durchhalten. – Die hier beschriebene Geisteshaltung ist kein individueller Charakterfehler. OHNE diesen Charakterfehler hat man im heutigen Politiksystem keine Chance. Das heutige Politiksystem befördert (fast, es mag Ausnahmen geben) nur noch Leute nach oben, die kein Problem mit der hier beschriebenen Lügenhaftigkeit haben. (Andere machen das nicht lange mit oder werden aussortiert.) Das politische System muss deshalb dringend geändert werden. Aber wie? (Siehe etwa meinen Achgut-Artikel vom 11.12.23, “Warum deutsche Politiker sind, wie sie nicht sein sollten”. Das ist nur EINE Idee; JEDE Idee, wie man die Qualität unserer politischen Klasse verbessern könnte, ist mir willkommen.)

finn waidjuk / 19.12.2023

Hier stellt sich die Frage: Wer war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Oder, in diesem Falle: muss man einen deformierten Charakter zu haben, um ständig in der Öffentlichkeit die Realität zu leugnen, oder führt dieses Verhalten erst zu einem deformierten Charakter? Ich denke, es ist absolut notwendig, schon von Geburt an ein widerlicher Drecksack zu sein, um in der Hierarchie der Einheitspartei nach oben zu kommen und schmatzend und furzend seinen Platz am Trog der Macht einzunehmen. Und wenn man es dann endlich bis dahin geschafft hat, dann kann man auch noch zusätzlich seinen niedrigsten Instinkten öffentlich frönen und wird, neben den üblichen Pfründen, mit Beifall und Anerkennung in der eigenen (Eiter)Blase belohnt. Siehe auch: geübte Praxis der Ordensverleihung in Deutschland

Charlene Riske / 19.12.2023

Der Artikel erinnert mich an eine Begegnung mit einem Ex-Grünen vor einigen Jahren. Bis dahin war ich völlig unpolitisch und nur auf Natur, Umwelt und Biogemüse fixiert. Ich wählte die Grünen und wähnte mich in einer heilen Welt. Er sagte nur ein paar Sätze, aber die hatten es in sich. Mein Geist zerfiel augenblicklich in zwei Parallel-Welten. Ich spürte, dass er recht hatte und gleichzeitig war mein Kopf voll mit dem ganzen Grün-Framing. Ich brauchte mehrere Monate, um die Trugbilder abzuschütteln und mich der Wirklichkeit zu stellen. Für mich war das erst mal ein Schock. Das muss man berücksichtigen, wenn Menschen aufklären will.

Thomas Taterka / 19.12.2023

Der springende Punkt ist der Eid auf die “Loge des WEF”  . Und der ist verpflichtend für die Karriere . Wer ihn nicht leistet , ist draußen , möglicherweise für den Rest seines Lebens . Und das wird gefürchtet. Alles andere leitet sich daraus ab.

Manni Meier / 19.12.2023

Sehr gute Analyse Herr Geißler. Allerdings “... sich der Öffentlichkeit in einer Art präsentieren zu müssen, die im Kern unwahr ist, verformt auch den Charakter.”, wo Sie noch einen Charakter sehen, der verformbar ist, sehe ich nur ein ein großes schwarzes Loch. Nicht umsonst sind die in der Hierarchie ihrer Parteien nach oben geklettert. Es gilt mehr denn je die alte Wahrheit: “Freund, Feind, Parteifreund”

S. Andersson / 19.12.2023

Doppeldenken erfordert das man das Hirn nutzen kann um zu denken. Die letzten Jahrzehnte haben bewiesen das das Spiel bei Otto Normal nicht funktioniert. Ich hau mich wech. Jedes Tier ist klüger als Michel. Was braucht es noch um diese Geld & Machtgeilen in die ewigen Jagdgründe zu schicken? Die Knaller klauen denen die etwas erwirtschaften über neue Steuererfindungen das Geld und die Deppen sagen noch danke oder ich kann doch nichts machen??? Versteuerte Geld noch 5 mal versteuern?? Wie blöd muss man sein??

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