Fluthilfe-Kritik von Friedrich Merz: Haarscharf vorbei

Friedrich Merz war stets bereit, als Kai aus der Kiste zu springen, wenn man ihn nur riefe. Doch niemand rief, oder die Falschen zur falschen Zeit. Als braver Soldat mit jedem Platz zufrieden, den die Granden seiner Partei ihm zubilligten, ist er zwar zurück in der Politik, die er jedoch eher von der Seitenlinie aus kommentiert. Mal besser, mal schlechter. Beides zugleich in einem Interview, das er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) gegeben hat und in welchem er eine seltsame Mischung aus Klarsicht und getrübter Wahrnehmung zeigte.

Positiv stach etwa folgender Satz heraus: „Überflutungen wird es immer wieder geben, selbst wenn man sofort die kompletten Vorstellungen von Fridays for Future übernehmen würde.“ Das angesammelte Realitätsdefizit hingegen kann man in folgender Merz’schen Aussage finden. RND fragt: Es gibt Klagen, dass zu wenig oder zu spät gewarnt wurde. Muss der Katastrophenschutz neu aufgestellt werden? Merz:

„Katastrophenschutz ist keine Einbahnstraße. Es kommt nicht allein auf die Behörden, sondern auch auf die Bürgerinnen und Bürger an. In weiten Teilen der Bevölkerung gibt es zu wenig Risikobewusstsein, das muss sich ändern. Nur wenn wir verdrängen, dass Katastrophen passieren können, werden wir von ihnen überrascht. Es ist Aufgabe jedes Einzelnen, verantwortungsvoller Eltern, jedes Betriebes, den Umgang mit Gefahrensituationen zu üben. Das gilt von der Schule bis zum Altenheim. Es kann jeden Tag etwas passieren. Und ja, das Bundesamt für Katastrophenschutz muss gestärkt und das Warnsystem verbessert werden, bis hin zu einer flächendeckenden Absicherung durch analoge und digitale Warnsysteme. Das ist aus meiner Sicht die zweite Konsequenz aus der Katastrophe: Wir müssen Risiken besser einschätzen lernen.“

Auf den ersten Blick klingt das alles so logisch wie liberal. Risikobewusstsein, sich nicht auf den Staat verlassen, Eigenverantwortung… Roland Baader hätte es kaum besser ausdrücken können. Wir verdrängen, wir sind überrascht, wir müssen besser einschätzen… und in der Konsequenz: wir müssen selbst denken und handeln und dürfen uns nicht auf den Staat verlassen. So steht es da, so meint es Merz. Schließlich ist von „Bürgerinnen und Bürgern“, dem größten anzunehmenden „Wir“ die Rede. Doch wir müssen das aufgeforderte „wir“ in Augenschein nehmen, von dem die Rede ist und in welchem Zustand es sich aktuell befindet.

Eigeninitiative als vorauseilender Gehorsam

Denn welcher Bürger wagt es heute noch, eigene Einschätzungen zur Basis seines Handelns zu machen und kann davon ausgehen, damit durchzukommen? Ganz gleich, ob es sich um die Wahl des Fortbewegungsmittels, der Wohnform, Impfangebote oder Essgewohnheiten geht. Viele vergewissern sich heute erst, dass ihre Einschätzungen die erwartete politische Stromlinienform haben. Eigeninitiative ist lediglich erwünscht, wenn sie staatlichem Handeln und der Regierungslinie vorauseilt oder dieses für einen kleinen Moralbonus noch übertrifft.

Problematisiert wird hingegen, wo dies nicht der Fall ist und eigene Einschätzungen von der Regierungslinie abweichen. Dann findet man sich schnell als Klimaleugner oder Querdenker etikettiert und Essig ist es mit Eigenverantwortung und Risikobewusstsein, selbst dann, wenn rechtlich nichts zu beanstanden ist. Die Gerichte der Moral urteilen schnell und ohne Berufungsinstanz.

Das Selberdenken ist den Deutschen in den letzten Jahren systematisch abtrainiert worden. Es ist der Staat, der die großen Linien zieht und handelt, und wenn der sich mal nicht ganz sicher ist, holt er sich Schützenhilfe bei der EU, „der Wissenschaft“, Medien oder aktivistischen NGOs, die zusammen ein affirmatives Amalgam bilden, mit dessen Hilfe dem einzelnen Bürger die schlechte Angewohnheit ausgetrieben werden soll, eigenständiges Denken zur Basis seines Handelns zu machen.

Bauunternehmer, Bauern, Supermärkte und Baumärkte

Zum Glück ist diese Eigenständigkeit noch nicht völlig verschwunden, und an der Zusammensetzung der Helfer, die vor Ort in den Flutgebieten als erste Initiative zeigten, kann man deutlich ablesen, wo sie noch existiert: in den Gemeinden selbst und der vielgescholtenen Marktwirtschaft. Es waren Bauunternehmer, Bauern, Supermärkte und Baumärkte, die nach der Flut als erste Initiative und Selbstorganisation bewiesen, lange bevor die Hilfe von Land und Bund auch nur anrollte.

Die nun auch bei Merz vernehmbaren Rufe nach Zentralisierung des Katastrophenschutzes gehen meiner Meinung nach am Kern des Problems vorbei. Die Tendenz, Verantwortung nach oben durchzureichen, haben wir schließlich seit vielen Jahren. Mit der Delegierung der Verantwortung an immer weiter entfernte Instanzen liegt diese irgendwann so weit oben, dass sie selbst keine nassen Füße mehr bekommen kann. Nichts spricht dafür, diesen Trend auch noch zu verstärken. Vermutlich wären die Bewohner von Gebieten, in denen des Öfteren mit Extremwettern zu kämpfen ist, nicht wie die Bundesregierung im Jahr 2014 auf die Idee gekommen, Gelder der Fluthilfe in die Flüchtlingshilfe umzuleiten. Sowas fällt sehr viel leichter, wenn man im Ernstfall nicht selbst im Schlamm stehen muss.

Merz geht in seiner Einschätzung also vom Bürger aus, wie er sein sollte. Es ist traurig, dass er nicht erkennt, zu was dieser Bürger nicht zuletzt von seiner eigenen Partei gemacht wurde. Risikobewusstsein entsteht nicht ohne Verantwortung, und die hat man zugunsten eines nicht einlösbaren Vollkasko-Versprechens abgeschafft. Aus der Tugend eigenständigen Denkens und Handelns ist längst ein Verdacht, ein Misstrauen geworden. Niemanden fürchtet ein übergriffiger und allzuständiger Staat mehr als jene, die ihn nicht brauchen oder wenigstens um Rat und Erlaubnis fragen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt

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Leserpost

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Peter Bauch / 26.07.2021

Herrn Merz hätte besser differenziert. Ihm schwebt eine “gute” und eine “böse” Eigenverantwortung vor. Die “böse” hat er deshalb auch nicht benannt. Leute, die eine solche pflegen sind nämlich Prepper (also welche, die mit dem Strom-Blackout oder schlimmer mit Plünderung und Bürgerkrieg rechnen). Oder “Nazis” die gerne ein Waffe mit sich führten, um sich vor psychisch kranken Einzeltätern zu schützen. Oder “Impfleugner” die eigenverantwortlich dem Coronavirus begegnen wollen. Wie Herr Merz Hoffnungsträger von konservativen Wählern sein kann ist mir schleierhaft.

Reiner Strauss / 26.07.2021

Die Äußerungen von Herrn Merz sind doch Wasser auf die Mühlen der Versicherungswirtschaft !  Da ist doch ein Boom zu erwarten wenn der Herr Merz von Eigenverantwortung spricht ? Was soll er sonst gemeint haben ?

Werner Arning / 26.07.2021

Mangels Alternativen setzen Konservative oder freiheitlich Denkende immer wieder ihre Hoffnung auf die immer wieder gleichen Hoffnungsträger. Zu diesen gehört Merz. Seit neuestem sogar Laschet. Oder Kubicki, gar Lindner. Und immer wieder wird diese Hoffnung enttäuscht. Nein Leute, schminkt euch das ab. Das wird alles nichts. Da gibt es nichts zu erhoffen. Das Bessere kommt nicht aus dem alten Personal. Betrachtet sie lieber als Teil des Problems, niemals als eine potentielle Lösung. Deshalb gebt nicht besonders acht darauf, was dieses Personal von sich gibt oder nicht von sich gibt. Dahinter ist keine Substanz.

Johannes Schumann / 26.07.2021

Das ist seltsam: Beim Virus traut man uns Risikoverantwortung nicht zu und verrammelt deshalb den Einzelhandel. Beim Hochwasserschutz haben jedoch die Behörden ein Mandat, denn irgendwer muss ja die Verantwortung über die Talsperren haben, das Wetter beobachten und notfalls evakuieren. Der Staat wird übergriffig in einem Bereich, wo er kein Mandat hat und dort wo er ein Mandat hat, schlampt er herum. Und ich bin heute morgen zornig geworden, als es im DLF hieß, dass die Politik sich berät, den Bundesbehörden mehr Kompetenzen bei Katastrophenschutz zu geben. Aber es war doch eine Bundesbehörde, die versagt hat und keine Landes- oder lokale Behörde. Ich sehe es genau wie der Autor, dass die Gemeindevertreter möglichst viel selbst Verantwortung tragen, denn die sind es, deren Hinterteil im Ernstfall unter Wasser ist. Bundesbehörden sind vielleicht gut für das Sammeln von Informationen und das Entgegennehmen von Informationen aus dem Ausland, aber genau das wurde ja nicht gemacht. Mich beschlich heute morgen das Gefühl (nach dem Hören der DLF-Nachricht), dass es Kalkül war, Leute sterben zu lassen, um noch mehr Kompetenzen auf die Bundesebene zu holen.

Mathias Rudek / 26.07.2021

Diese so wichtigen Posten für diese extremen Ausnahmesituationen sind längst von irgendwelchen Polit-Pfeifen besetzt, die längst auf den Schleimspuren der Parteien-Phalanx nach oben gekrochen sind. Und da sitzen sie jetzt, keine wirkliche Erfahrung in funktionalen Berufen, aber viel Erfahrung in moralischer Selbstdarstellung und extremer Hybris; und so gebiert das Nichts eben das Nichts und wir müssen da durch, solange wir kein anderes kompetentes Personal dafür freimachen. Die Grünen sind für solche Jobs einfach zu dumm, das sollte man jetzt endgültig wissen. Diese Partei ist im absoluten Nirwana des Nichtskönnens angekommen. Ganz herzlichen Dank für nix.

Stefan Schade / 26.07.2021

Die Stellungnahme von Herrn Merz wäre noch OK, wenn die Warnungen an die Bürger weitergegeben worden wären und es dann Besserwisser gegeben hätte, die eine Empfehlung zur Evakuierung unterlaufen - in der Tat aber wurde die Warnkette unterbrochen (Stichwort: Keine Sirenen, WDR-Popnacht) Das ist Verantwortung des Systems, nicht des Einzelnen.

Burkahrt Berthold / 26.07.2021

Am 23. 11. 1980 ereignete sich ein Erdbeben in der italienischen Provinz Avellino, im Hinterland von Neapel, mit 2.800 Toten.  Sofort gab es Überlegungen, deutsche Pioniere zur Hilfe zu schicken.  Am 27. 11. gab die Bundesregierung den Einsatzbefehl . Am 28. 11. verlegte das Leichte Pionierbataillon 240 (Ingolstadt) mit unterstellten Einheiten in vier Eisenbahnzügen nach Italien, baute am 29. 11. dort ein Lager auf und begann am 30. 11. mit der Hilfe. Eingesetzt wurden rund 900 Soldaten mit 300 Fahrzeugen. Der Einsatz dauerte bis zum 22. 12. 1980 und räumte ein halbes Dutzend zerstörter Dörfer auf. So etwas konnten wir damals. Leiter war Oberst Mackowiak, einer der besten Offiziere, den die Bw je hatte, Ehre seinem Andenken.

Boris Kotchoubey / 26.07.2021

Nicht nur normale Bürger, sondern auch Experten dürfen im besten Deutschland aller Zeiten nicht mehr selbständig denken. Ein gewisser Herr Kohn war ausgerechnet ein Fachmann für Katastrophenschutz, der sich im Mai 2020 selbständige Gedanken, die von den Gedanken seiner Vorgesetzten abwiechen, geleistet hat. Das hat ihm seinen Posten gekostet. Wir verwandeln uns in eine Art Armee des Inka-Imperiums, die, mehrere Millionen Mann, nichts gegen einige Hundert Spanier unternehmen konnte, weil es keinen Befehl des Kaisers gab. Wir, wie die Inkas, gehen lieber mit unserem Land und unserer Kultur zugrunde als wagen, eine selbständige Entscheidung zu treffen, ohne Befehl der Kaiserin.

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