Hansjörg Müller / 26.03.2015 / 14:08 / 9 / Seite ausdrucken

Flugzeugunglück: Deplatzierte Selbstdarsteller

11.36 Uhr war es, als am Dienstag die ersten Meldungen über den Flugzeugabsturz in den französischen Alpen über die Ticker der Nachrichtenagenturen liefen. Noch am Nachmittag flogen der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier und sein Kabinettskollege, Verkehrsminister Alexander Dobrindt, nach Marseille. Von dort reisten sie an den Unglücksort weiter, um sich im Lagezentrum über den Stand der Dinge informieren zu lassen.

Gestern taten es die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident François Hollande und Spaniens Premier Mariano Rajoy den Ministern gleich. «Die Tragödie bestimmt die Agenda», liess Merkel verlauten. Sie wolle «sich selbst ein Bild machen».

Tatsächlich muss die Berechtigung derartiger Reisen jedem vernünftig denkenden Menschen fragwürdig erscheinen: Glaubten Merkel, Hollande und Rajoy allen Ernstes, sie könnten durch ihre Anwesenheit irgendetwas zu den Bergungsarbeiten oder zur Aufklärung der Unglücksursache beitragen? Wohl kaum. Eher dürfte es so sein, dass der Besuch der Politiker vor Ort Kräfte gebunden hat – und damit störte.

Nun mag mancher einwenden, nach einem Unglück solchen Ausmasses Präsenz zu zeigen, sei etwas, das die Öffentlichkeit von den Repräsentanten des Staates erwarte. Doch wer so argumentiert, unterschätzt – hoffentlich – Bürger und Medien. Dass Politiker ihr Beileid ausdrücken, ist nur recht und billig; dass der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck einen Staatsbesuch in Peru abgebrochen hat, war ebenso richtig wie die Entscheidung des spanischen Königs Felipe, eine Visite in Paris vorzeitig zu beenden: Hätte das Königspaar wie geplant eine Velazquez-Ausstellung im Grand Palais besucht und am Abend ein Staatsbankett im Elysée-Palast, die Tage der Monarchie in Spanien wären verdientermassen gezählt gewesen.

Doch angemessene Beileidsbekundungen, an deren Aufrichtigkeit zu zweifeln kein Grund besteht, sind etwas anderes als politischer Katastrophentourismus. Handelt es sich bei Ersteren um eine Selbstverständlichkeit, offenbart sich in Letzterem ein seltsames, geradezu vordemokratisches Staatsverständnis: als müssten Staats- und Regierungschefs bei Bergungsarbeiten eine Führungsrolle demonstrieren wie mittelalterliche Fürsten, die an der Spitze ihrer Heere ins Feld zogen. Derartige PR-Stunts sind nichts als ein peinliches Sich-hinein-Drängen in das Leid fremder Menschen und in die Fernsehbildschirme, ein deplatzierter Akt, der keinen Sinn hat und keinen Zweck erfüllt – ausser dem der Selbstdarstellung.


Erschienen in der Basler Zeitung hier.

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Roland Tluk / 28.03.2015

Die Profitsuche auf Kosten von Verunglückten war schon immer fragwürdig, nur spielen die Medien darin ihre eigene Rolle: Wer zwingt sie dazu den Selbstdarstellern ein Podium zu geben?

Margret Popp / 27.03.2015

“Kommen [die Politiker] nicht, sind sie kaltherzig und desinteressiert. Kommen sie, sind sie Selbstdarsteller….” Meine auch ich. So viel Kräfte werden sie nicht gebunden haben. Viel schlimmer als ein vielleicht redundanter Besuch einiger hochgestellter Politiker an der Absturz-Stelle erscheinen mir die schon wieder ausufernden Verschwörungstheorien zum Hergang, die im Gegensatz zur Evidenz gesponnen werden. Die gestrigen Ausführungen des Marseiller Staatsanwalts Brice Robin waren wohldurchdacht, klar, präzise und mieden Spekulationen. Die wird man mit solchen Theorien nicht ausräumen können. Man wird sich mit der Annahme einer Wahnsinns-Tat abfinden müssen, die bei aller Inghenieurskunst nicht vorausgesehen und nicht verhindert werden konnte, weil sich solche Personen nicht menschlich verhalten.

Detlef Dechant / 27.03.2015

Bei diesem Katastrophentourismus geht es gar nicht darum, was die allgemeinen Bürger und auch die Betroffenen dazu sagen. Geht alleine um das Verhältnis zwischen politischen Akteuren und Medien. Die einen brauchen die Medien, um ihre Bestürzung zu zeigen, die anderen brauchen tolle Bilder, um die Seiten mit irgendeinem Inhalt zu füllen, beiden geht es um Selbstdarstellung und Selbstvermarktung. Es wäre auch die Journaille, die das Fehlen der Politiker/innen als kaltherzig und desinteressiert anprangern würden (ihnen fehlen ja dann die Bilder), nicht die Bürger. Obwohl ich politisch sicher ganz woanders stehe und die NRW-Schulpolitik nicht gutheiße, der Gang von Frau Löhrmann nach Haltern ans Gymnasium war der richtige und für diese auch ein schwerer Gang. Vielleicht hätte auch Frau Kraft statt des Fluges nach Frankreich lieber den Weg zu den vergebens wartenden Angehörigen am Düsseldorfer Flughfen wählen sollen.

Hans-Peter Hammer / 27.03.2015

@ Dieter Müller Das wäre mit der richtigen Aussage: “Wir/Ich wollen/will die Arbeit der vor Ort befindlichen Bergungsmannschaften und Spezialisten nicht stören! Darum bleiben wir/bleibe ich hier und lassen uns/lasse mich regelmäßig über den Stand der Dinge unterrichten!” aus der Welt. Das würde jeder einsehen! So kommen mir die “sich vor Orte begebenden” Politiker eher vor wie Gaffer beim Unfall auf der Autobahn, die wir zu recht verurteilen!

Lambert Matthes / 26.03.2015

Hatte ganz ähnliche Gedanken. Den Politiker-Katastrophen-Tourismus kann ich nicht ausstehen. Und am Ort der Katastrophe, um zumindest im Stillen zu gedenken, waren sie sowieso nicht, denn dieser ist für Merkel und Steini unerreichbar (bei Dobrindt weiß ich es nicht). Das wäre eigentlich eine Stunde für die Kirchen, für die Seelsorge. Denn die allermeisten der deutschen Opfer waren wohl (Taufschein)-Katholiken und -Protestanten.

Dr. Wolfgang Mohr / 26.03.2015

Wenn die Amtierende Bundespräsidentin der Schweiz, Frau Sommaruga, zum Schauplatz dieses leidvollen Unglücks geeilt wäre, hatte es wohl diesen herabschätzenden Kommentar der Basler Zeitung nicht gegeben. “Politischer Katastrophentourismus” - ich fasse es einfach nicht, zumal ich im Land der begrenzten Unmöglichkeiten und der sogenannten politischen Korrektheit lebe.

Dieter Müller / 26.03.2015

Angesichts dieses Kommentars gilt den Politikern ausnahsmweise mal mein Mitleid (ja ja, den Politikerinnen natürlich auch). Kommen sie nicht, sind sie kaltherzig und desinteressiert. Kommen sie, sind sie Selbstdarsteller….

Martin Lahnstein / 26.03.2015

Sprachlosigkeit ist schwer zu vermitteln. Vielleicht war Dienstag morgen ein Pilot auch nicht recht imstande, mitzuteilen, was ihm auf der Seele lag, und so sagte ihm niemand: bleib hier! Wir finden für den Flug einen Ersatzmann!

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