Von Wolfgang Meins.
Neulich fragte mich ein ärztlicher Kollege, ob denn bei den im Flüchtlingsherbst und seitdem zu uns Gekommenen eine Traumatisierung tatsächlich so häufig vorkomme, wie man immer lese. Denn obwohl er beruflich viel mit diesem Personenkreis zu tun habe, vor allem mit jüngeren Erwachsenen, sei er noch keinem Traumatisierten begegnet. Hier nun die (ausführliche) Antwort.
Zunächst einige Basics zu dieser psychischen Störung. Bei der PTBS kommt es zu psychologischen Stresssymptomen nach der Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis. Gemäß einer 2008 publizierten repräsentativen Studie an einer deutschen Stichprobe entwickeln nach Kriegshandlungen 8 Prozent, nach schwerer körperlicher Gewalt 11 Prozent, nach schweren Unfällen 13 Prozent und nach Vergewaltigungen 38 Prozent eine solche Störung.
Die Symptomatik ist vielfältig: Typisch sind angstvolles, sich aufdrängendes Wiedererleben des Ereignisses, ängstliches Vermeidungsverhalten und negative Veränderung von Stimmung und Gedanken. In der Hälfte der Fälle bildet sich die Symptomatik innerhalb von drei Monaten zurück, bei vielen anderen Betroffenen besteht sie jedoch länger als 12 Monate. Bezogen auf ein Jahr beträgt die Häufigkeit bei allen Erwachsenen in Deutschland 2,3 Prozent, bei der Gruppe der 14- bis 29-jährigen dagegen nur 1,4 Prozent. Allerdings darf man sich die Beziehung zwischen Schwere des Traumas, soweit die messbar ist, und Erkrankung nicht zu eng und statisch vorstellen. Vielmehr dürften auch psychologische Faktoren der Ereignisbewertung eine wesentliche Rolle in Bezug auf das Erkrankungsrisiko spielen.
Die Verbreitung der PTBS variiert naturgemäß zwischen verschiedenen Welt- oder politischen Regionen – in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Häufigkeit von Traumata, einschließlich Folter. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass bei Flüchtlingen weltweit im Vergleich zur deutschen Bevölkerung von einer höheren PTBS-Rate auszugehen ist.
Eine internationale Übersichtsarbeit berichtet von stark unterschiedlichen PTBS-Raten bei Flüchtlingen und Asylbewerbern, nämlich zwischen 4 Prozent und 68 Prozent, wobei die Studien von hoher Qualität mit eher niedrigen Raten einhergehen. Unabhängig davon ist klar: je stärker eine Flüchtlingspopulation durchsetzt ist mit Wirtschaftsmigranten und Glücksrittern, desto niedriger wird in aller Regel die PTBS-Rate ausfallen.
Die Psychotherapeuten-Kammer macht Alarm
Mitte September 2015 – die Willkommenskultur hat ihren ersten Höhepunkt erreicht – werden alle Register gezogen, die hiesige Bevölkerung moralisch in die Pflicht zu nehmen. Da will auch die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), der Dachverband der psychologischen Psychotherapeuten, nicht hintanstehen und schlägt sogleich Alarm: Nach in Deutschland durchgeführten Studien litten 40 bis 50 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge unter einer PTBS, wobei deren Behandlung „unerlässlich“ sei. Letzteres ist in dieser Absolutheit schlicht fachlicher Unsinn. Aber es soll natürlich die große Bedeutung herausstellen, die der eigenen Berufsgruppe beim Meistern dieser humanitären Großaufgabe zukommt.
Einschränkend weisen die Obertherapeuten zwar darauf hin, dass von den bereits 2014 eingereisten Flüchtlingen aus Kapazitätsgründen bisher nur ein Bruchteil behandelt werden könne. Wie das künftig bei zu erwartenden hunderttausenden von weiteren Flüchtlingen, alle zudem des Deutschen nicht mächtig, funktionieren soll, wird jedoch genauso wenig thematisiert wie die zwangsläufig zu erwartende (noch) schlechtere Versorgung für die, die hier schon länger ihre Krankenkassenbeiträge zahlen.
So beklagt die BPtK an anderer Stelle die zu lange durchschnittliche Wartezeit auf ein Erstgespräch von 12,5 Wochen. Möglicherweise ging man von der Annahme aus, es würden nicht ausschließlich Ärzte und Ingenieure kommen, sondern auch gaaanz viele Psychotherapeuten. Auf jeden Fall fordert man markig, die Versorgung von psychisch kranken und traumatisierten Flüchtlingen sicherzustellen.
Die Botschaft der BPtK mit den mindestens 40 bis 50 Prozent traumatisierten Flüchtlingen ist nun in der Welt, auch dank einer im Vergleich zu der oben erwähnten Stellungnahme deutlich knapperen, aber im Kern identischen Pressemitteilung. Die Zahlen werden natürlich ohne genauere Prüfung von den Medien weiter verbreitet, etwa vom Deutschen Ärzteblatt, dem Spiegel oder der Zeit. Das Problem dabei ist nur, dass bis heute niemand weiß, wie hoch der Anteil Traumatisierter im Flüchtlingsherbst 2015 tatsächlich war, und in welchem Maße er sich seitdem verändert hat.
Schrott-Studien entsorgen, aber nicht recyceln
Die BPtK hat schlicht die Öffentlichkeit mit ihren vermeintlich wissenschaftlich belegten Zahlen getäuscht. Denn diese basieren ausschließlich auf einer Studie, die 2003/4 von Mitarbeitern der Psychologischen Forschungs- und Modellambulanz für Flüchtlinge der Universität Konstanz durchgeführt wurde. Die ursprünglich hinter einer Bezahlschranke verborgene, für eine wissenschaftlich-empirische Studie ungewöhnlich geschwätzige Publikation wurde übrigens vom Münchner Flüchtlingsrat der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Untersucht wurde eine Stichprobe von sage und schreibe 40, überwiegend (93 Prozent) männlichen und in Süddeutschland gelandeten Asylbewerbern. Die im Mittel knapp 27 Jahre alten Personen seien „zufällig“ aus einer Gruppe von insgesamt 72 Personen ausgewählt worden, nachdem allerdings vorher bereits 82 Personen die Teilnahme verweigert hatten, über die der Leser nichts Näheres erfährt. Deshalb kann diese Studie keine Repräsentativität für die Gruppe der 2003 in Deutschland angekommenen Asylbewerber beanspruchen.
Insgesamt 16 Personen (40 Prozent) hätten die diagnostischen Kriterien für eine aktuelle PTBS erfüllt. Die vier häufigsten Herkunftsländer waren Türkei (11 Personen), Algerien (6), Irak (5) und Indien (4), also eine ganz andere Zusammensetzung als im Flüchtlingsherbst 2015. Selbst wenn es sonst an der Studie nichts auszusetzen gäbe, ist es deshalb nicht zulässig, die Ergebnisse auf die Situation 2015 zu übertragen. Aber im Rausch der Willkommenseuphorie können natürlich schon mal die wissenschaftlichen Sicherungen rausspringen, so sie denn jemals eingeschraubt waren.
Nun weist die Studie noch andere Schwächen auf, die ihre Aussagefähigkeit stark einschränken. So führt die kleine Fallzahl naturgemäß zu einem sehr unsicheren und ungenauen Ergebnis. Für Statistikfreunde: Will man das Ergebnis zufallskritisch absichern, dann stammt die untersuchte Stichprobe mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent aus einer Population, deren PTBS-Rate zwischen 20 und 60 Prozent liegt.
Systematische Abweichung von den wahren Werten
Darüber hinaus gibt es weitere wesentliche Schwachpunkte, bei denen es jeweils um einen „Bias“ geht, einen auf Seiten der Untersucher und einen auf Seiten der Untersuchten. Ein Bias bezeichnet die Tendenz, Ergebnisse zu erzeugen, die systematisch von den wahren Werten abweichen. Zunächst zum Untersucher-Bias.
Die Asylbewerberzahlen gingen von 1992 bis 2004 dramatisch und nahezu kontinuierlich um deutlich mehr als das Zehnfache zurück. Man kann also begründet annehmen, dass die Flüchtlingsambulanz der Uni Konstanz damals unter einer gewissen Patienten-Auszehrung litt, also ein eigenes Interesse an einer hohen PTBS-Rate hatte.
Zu dieser Interessenlage passt auch ein Nebenaspekt der Studie, nämlich beweisen zu wollen, dass die psychologischen Mitarbeiter der Ambulanz besser im Aufspüren von PTBS-Fällen seien als die Asyl-Einzelentscheider vom Bundesamt. Was auch gelang, denn die Bundesbeamten, immerhin mit dem Status von Sonderbeauftragten für Folteropfer und Traumatisierte versehen, ermittelten auf der Grundlage einer „subjektiven“ Beurteilung nur etwa ein Viertel so viele PTBS-Fälle wie die Psychologen.
Der Bias auf Seiten der Untersuchten ist anders gelagert. Zum einen gibt es zwar die traumatisierten Fälle, die ihr Leiden nicht an die große Glocke hängen oder es gar vermeiden, darüber zu sprechen, weil es ihnen vielleicht peinlich ist oder es ihnen anschließend schlechter geht, wenn alles wieder hochgekommen ist.
Aber wesentlicher im hier interessierenden Kontext des Ausländer- und Asylrechtes ist die umgekehrte Tendenz, also eine verschlimmernde beziehungsweise überhöhende Darstellung der Störung, was als Aggravation bezeichnet wird. Oder gar ein absichtliches Vortäuschen von Beschwerden oder Störungen, also eine Simulation.
Psychische Störung als eine Art Währung
Denn für die Gruppe der Asylbewerber stellt eine psychische Störung wie die PTBS eine Art Währung dar. Sie glauben, zutreffend oder nicht, damit leichter den Nachweis führen zu können, politisch verfolgt oder besonderer Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Und zwar so stark, dass sie auch noch eine Traumatisierung erlitten haben. Hilfreich ist dann natürlich, dass es sich nicht um eine seltene Störung handelt, sondern eine, die (angeblich) bei fast jedem Zweiten vorkommt.
Also: Bei Angaben zur Häufigkeit psychischer Störungen von Asylbewerbern mit noch nicht abgeschlossenem Verfahren muss immer an diesen Bias gedacht werden, der verbunden ist mit einer unbegründet hohen Störungsrate. In der Publikation aus der Konstanzer Flüchtlingsambulanz wird diese Problematik nicht thematisiert, wohl aber in der oben erwähnten Übersichtsarbeit und hier.
Sollte der Asylantrag abgelehnt worden sein, kann bekanntlich – wenn es ganz dumm für den Abgelehnten läuft – eine Abschiebung drohen. In einem Interview beklagte Innenminister de Maizière, „dass 70 Prozent von Männern unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden“. Auf Nachfrage konnte der Minister diese extrem hohe Rate von „Gefälligkeitsattesten“ zwar nicht genauer begründen.
Dass der Innenminister allerdings so völlig schief gelegen haben soll, wie die Bundesärztekammer noch am selben Tage empört behauptete, muss man bezweifeln. Denn dazu ist das Thema auch in der Ärzteschaft moralisch zu aufgeladen und die Rolle von gut und böse zu eindeutig verteilt. Und bestimmte Überzeugungen und Wertvorstellungen sind nun einmal – neben materiellen Aspekten – die wesentliche Triebfeder für parteiische medizinische Gutachter. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass psychologische Psychotherapeuten nicht befugt sind, Gutachten zur Reisefähigkeit zu erstatten.
Fragwürdige Zahlen und erstklassige Moral
Man muss nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, um zu wissen, wie in parteiischen Gutachten im Interesse des Abzuschiebenden typischerweise argumentiert wird, in Kurzform etwa so: Wie so viele andere Flüchtlinge (fast jeder Zweite!) leidet Herr XY unter einer PTBS, die angesichts der drohenden Abschiebung und der damit verbundenen Konfrontation mit den Ursachen seiner Traumatisierung zu einer depressiven Dekompensation mit akuter Selbstmordgefährdung geführt hat. Eine Reisefähigkeit ist deshalb bis auf weiteres nicht gegeben.
Und die BPtK? Hat sie sich inzwischen von ihrem grob fahrlässigen Umgang mit Forschungsergebnissen distanziert? Oder auf Grundlage ihrer jetzt gestiegenen praktischen Erfahrungen in der psychotherapeutischen Versorgung von Asylbewerbern realistischere Häufigkeitsangaben zur PTBS mitgeteilt? Mitnichten.
Sie kritisiert das Asylpaket II der Bundesregierung scharf und beruft sich dabei weiter munter auf die Konstanzer Studie, um beim Leser zu suggerieren, dass nachgewiesenermaßen 40 Prozent der PTBS-Betroffenen selbstmordgefährdet seien. Und macht sich die IPPNW-Empfehlung zur Abschiebung zu eigen, deren Leitmotiv lautet: „Wir stellen uns schützend vor unsere Patientinnen und Patienten und weigern uns, gegen unser Gewissen mit den Abschiebebehörden gemeinsame Sache zu machen.“ Da kann man für die BPtK nur hoffen, es möge weiterhin so wenig Mut erforderlich sein, um auf der Seite des Guten zu stehen. Ansonsten könnte es doch noch zu Gewissenskonflikten kommen.
Zum Autor: Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe und Arzt für Psychiatrie und Neurologie sowie außerplanmässiger Professor für Psychiatrie (UKE-Hamburg). Nach leitender Tätigkeit in der Geriatrie niedergelassen in Hamburg. Gutachterliche Tätigkeiten, in den letzten 6 Jahren als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.