Diese Frage ist durchaus berechtigt, insbesondere, wenn man sich die Arbeit der Fachkommission Fluchtursachen und die des Bundesministeriums für wirtschafltiche Zusammenarbeit inklusive dessen Evaluierungsinstituts anschaut.
Der Entwicklungshilfe war einmal eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der unkontrollierten Migration nach Deutschland zugedacht. Bereits 2014 propagierte der umtriebige CSU-Entwicklungshilfeminister Müller vor dem Hintergrund steigender Flüchtlingszahlen in Deutschland: „Fluchtursachen bekämpfen heißt, in Entwicklung investieren.“ Im Dezember 2015 legte er nach: „Wenn wir Fluchtursachen bekämpfen wollen, müssen wir uns dort engagieren, wo viele Flüchtlinge herkommen, auch wenn das schwierig ist. Es geht um eine friedliche und stabile Entwicklung in der Region. Insbesondere junge Menschen brauchen Perspektiven in ihrer Heimat – Bildung, Ausbildung und berufliche Angebote. Gibt es diese nicht, machen sie sich auf den Weg nach Europa.“
Den dabei bereits unschwer erkennbar mitschwingenden Größenwahn toppte Müller dann ein Jahr später noch mit seinem „Marshallplan für Afrika“, der im Ergebnis möglichst viele Afrikaner daran hindern sollte, ihren Kontinent in Richtung Europa zu verlassen – dank Deutschland, das aus Afrika einen Kontinent schafft, in dem man fortan gut und gerne lebt. Irgendwie scheint das aber alles nicht so recht geklappt zu haben: Die positiven Nachrichten aus Afrika halten sich weiterhin in engen Grenzen, und auch die Migrantenströme ließen sich – zumindest nach Augenschein – von diesem Marshallplan nicht wirklich beeinflussen.
Aber wie ging es seinerzeit nach der Proklamation des Marshallplans à la Müller mit der Bekämpfung von Fluchtursachen konzeptionell weiter? Im Juli 2019 – Minister Müller war noch im Amt – berief die neue Bundesregierung die Fachkommission Fluchtursachen, deren 24 Mitglieder ein Vierteljahr später ihre Arbeit aufnahmen. Nach zwei Jahren legte die Kommission ihren Bericht vor. Der erste, aber auch der bleibende Eindruck: Ganz offensichtlich hat sich im Laufe der Zeit der ursprüngliche Fokus nicht unerheblich gewandelt. Denn der Bericht listet jetzt praktisch nahezu die gesamte Palette der Entwicklungshilfe auf, obwohl die doch in der Vergangenheit bereits nichts oder wenig gegen den Sog nach Norden auszurichten vermochte. Der Leser lernt zudem, dass Entwicklungshilfe jetzt Entwicklungszusammenarbeit heißt.
Die zentralen Vorhaben dieser ja doch etwas einseitigen Zusammenarbeit sind: Anpassung an den Klimawandel und Förderung nachhaltiger Stadtentwicklungen, massive Unterstützung des „Globalen Südens“ beim klimafreundlichen Umbau ihrer Wirtschaft, hohe Priorität für eine gute Grund- und Sekundarbildung, massiver Ausbau von Basisgesundheitsstrukturen und, natürlich, die Einbindung von Frauen als „eigenständigen Akteurinnen“ in alle Maßnahmen. Damit nicht genug, denn darüber hinaus gilt es, in den Partnerländern auch leistungsfähige und an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete staatliche Institutionen zu schaffen. Alles klar, wenn es weiter nichts ist, das kriegen wir doch wohl hin.
Das verborgene Institut
Dass sich die deutsche Entwicklungspolitik an diesem umfassenden Maßnahmenkatalog – allerdings zunächst noch ohne das ganze Klima-Klimbim – in den vergangenen Jahrzehnten mit doch wohl eher bescheidenem Erfolg bereits in extenso und mit zig Milliarden versucht hat, geschenkt. Frei von solchen Überlegungen machte sich die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vom November 2021 diese Vorschläge der Kommission weitgehend zu eigen. Soweit zum aktuellen konzeptionellen Stand der Fluchtursachenverhinderung qua Entwicklungshilfe bzw. Entwicklungszusammenarbeit.
Weiten Teilen der Öffentlichkeit dürfte nicht bekannt sein, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) sich seit 2012 ein eigenes Evaluierungsinstitut namens DEval leistet, also das Deutsche Evaluierungsinstitut zur Entwicklungszusammenarbeit. Dieses in Bonn angesiedelte Institut blüht, wächst und gedeiht – allerdings weitgehend im Verborgenen. Nur selten, wenn überhaupt, steht es im Fokus des politischen oder medialen Interesses. Dabei ist das DEval nicht nur äußerlich recht ansehnlich, sondern auch personell mit 101 Mitarbeitern – davon 61 Evaluatoren – bemerkenswert gut ausgestattet.
Das Institut beschreibt seine Aufgabe wie folgt: „Das DEval evaluiert die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Es gibt den staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit unabhängige und wissenschaftsbasierte Evidenz an die Hand, um ihre Strategien, Instrumente und Programme zu optimieren.“ Der Begriff des Optimierens soll dem Leser ganz offensichtlich suggerieren, dass hier etwas bereits Gutes noch besser gemacht werden soll. Die andere Variante, nämlich strukturell nicht verbesserungsfähigen Entwicklungshilfe-Schrott als solchen zu erkennen und auch zu benennen, scheint bei der Evaluation folglich ganz grundsätzlich nicht vorgesehen zu sein.
Das DEval und die Fluchtursachen
Schauen wir uns dennoch einmal etwas näher an, was das DEval zum Thema Bekämpfung oder Minderung von Fluchtursachen so evaluiert hat. Die Suchfunktion des Evaluationsarchivs enthält insgesamt 61 Einträge, also pro Evaluator durchschnittlich eine Evaluation – darunter allerdings keinen einzigen Treffer. Die weitere Recherche ergibt, dass ganz offensichtlich die Parole Bekämpfung von Fluchtursachen unter Entwicklungshilfepolitikern und ihren Evaluatoren nicht mehr zeitgemäß bzw. politisch korrekt ist. Wird stattdessen der aktuell korrektere Begriff Fluchtkrisen eingegeben, resultiert tatsächlich ein echter Treffer, nämlich die Evaluierung mit dem schönen Titel: „Wirksamkeit deutscher Entwicklungszusammenarbeit bei der Bearbeitung konfliktbedingter Fluchtkrisen“.
Fluchtursachen werden also nicht mehr bekämpft, sondern zunächst thematisch eingeengt auf konfliktbedingte Fluchtkrisen, die es dann zu bearbeiten gilt. Das eigentliche Ziel – weniger Menschen aus bestimmten Weltregionen sollen sich auf den Weg nach Deutschland machen – gerät dabei allerdings völlig aus dem Blickfeld. Tatsächlich wird mit keinem Satz, geschweige denn mit irgendwelchen Zahlenangaben, das ursprüngliche Hauptthema auch nur berührt. Stattdessen wird lapidar festgestellt, dass „längerfristige Wirkungen in Form von neuen Beschäftigungsperspektiven, Qualifizierungen oder einem Aufbau beruflicher Kontakte“ kaum nachweisbar seien. Klar, dass auch die in den allermeisten Empfängerländern unserer Entwicklungshilfe grassierende Korruption nicht thematisiert wird. Kurzum, wieder einmal das alte Problem der deutschen Entwicklungshilfe: ihre Immunität gegenüber den eigenen Irrtümern und Irrwegen oder, etwas schlichter formuliert: außer Spesen nichts gewesen.
Aber das DEval versucht natürlich dennoch irgendwie Optimismus zu verbreiten, und zwar indem es auf noch laufende Maßnahmen verweist, die auf eine „dauerhafte Perspektivbildung“ für Flüchtlinge in benachbarten Aufnahmeländern abzielten. Dabei müsse allerdings der Fokus „neben der Unterstützung von Flüchtlingen auch auf dem Aufbau und Erhalt zentraler Infrastruktur in den aufnehmenden Gemeinden“ liegen. Diese abschließende Absichtserklärung kommt dem Müllerschen Größenwahn wiederum bedenklich nahe. Wir haben es jetzt zwar nicht geschafft, aber beim nächsten Mal ganz bestimmt. Dabei versteht sich von selbst, dass die doch wohl naheliegende Frage gar nicht erst gestellt wird, ob nämlich ein Land wie Deutschland, dessen eigene Infrastruktur gerade zunehmend verfällt, allen Ernstes dazu berufen sein kann, im großen Stil den „Globalen Süden“ mit nachhaltiger Infrastruktur zu beglücken.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im zivilrechtlichen Bereich.