Von Jacques Offenburg.
Aus der Krise des Lockdowns, versichern uns Funktionäre von Kirche und Politik, können wir gestärkt hervorgehen: spirituell, indem wir lernen, uns an Weihnachten nicht vor dem Alleinsein zu fürchten, moralisch, indem wir durch Stubenhocken zu Helden reifen. Offenbar bedarf es nur einer gewissen Flexibilität und eines geistigen Perspektivwechsels, um aus großer Not in eine noch größere Tugend zu machen.
Ich gestehe, dass ich derlei Ratschläge zunächst für wohlfeile Manipulation hielt. Um nicht in Depressionen zu verfallen, beschloss ich dennoch, mich auf sie einzulassen. Nach dem Motto: „Nicht querdenken, sondern umdenken“. Dieser Tage schien mein Bemühen von Erfolg gekrönt. Ich musste meinen Personalausweis verlängern und weil das Amt meines Berliner Bezirks wegen Corona geschlossen hatte, war eine Stunde Anfahrt im Öffentlichen Nahverkehr zu einer Ersatzbehörde unumgänglich.
Ich beschloss, die Zeit für sinnvolle Bildungslektüre zu nutzen. Doch es kam noch besser. Als ich nach einer gewissen Zeit aus meinem Buch aufblickte, gewahrte ich einige Meter vor mir eine anmutige Erscheinung. Meiner Einschätzung nach eine Frau Ende Zwanzig, die stehend an den Fahrkartenautomaten lehnte. Unter der wohlgeformten hohen Stirn glänzten tiefgründige Augen, das dunkelblonde, weiche Haar war leicht gelockt, die Haltung des Körpers im eng geschnittenen Hosenanzug verriet lässige
Eleganz.
Allerdings war die Hälfte des Gesichts bedeckt. „Zum Teufel mit Corona und dieser elenden Maskenpflicht“, durchfuhr es mich. Doch dann begann ich umzudenken. Meine Phantasie vervollständigte die nicht sichtbaren Partien, wobei sie Nase, Lippen, Wangenknochen und Kinn – nunmehr frei von allen Sachzwängen – nach dem Vorbild von Tizians „La Bella“ in Florenz formte.
Zeit für den Perspektivwechsel
Während mein Geist ein ideales Frauenportrait malte, kreuzten sich mehrmals unsere Blicke. Mir wurde sogar ein flüchtiges Lächeln geschenkt. Verschämt sah ich nach unten. Als ich kurz darauf die Augen wieder hob, bemerkte ich zu meinem Leidwesen, dass sich ein wohlbeleibter Passant zwischen uns gestellt hatte. Anfangs hegte ich noch die Hoffnung, er werde sich setzen, sobald ein Platz frei würde. Doch offensichtlich überwog sein Bedürfnis, zu den sitzenden Mitreisenden eine Armlänge Hygieneabstand zu wahren. Auch machte er keinerlei Anstalten, auszusteigen.
Spätestens jetzt war es Zeit für den Perspektivwechsel. Ich beugte mich zur Seite, um an dem menschlichen Hindernis vorbei zu lugen. Indes hatte ich nicht mit meinem Sitznachbarn zur Rechten gerechnet. Ein blasser Student wich verstört zurück. Ebenso erfolglos blieb mein Versuch, meinen Sichtkreis durch eine leichte Beugung nach links vorne zu verbessern. Die ältere Dame, die mir gegenübersaß, hielt panisch die Hände vor ihre Maske, als müsse sie sich gleich zweifach schützen. Und der Herr neben ihr blickte mich so streng an, dass ich unwillkürlich zurückzuckte.
Nun erwog ich aufzustehen, doch war die Straßenbahn inzwischen so voll, dass es unwahrscheinlich war, einen günstigeren Standort zu finden. Nach einer Weile schien mir das Schicksal dann doch gnädig. Die Tram fuhr in einen Tunnel und ich konnte das Objekt meiner Verehrung im Spiegelbild des gegenüberliegenden Fensters bewundern. Leider endeten der Tunnel und damit auch mein Vergnügen nach knappen 50 Metern. Das war umso schmerzlicher, als ich erste Anzeichen des Verliebtseins spürte und der Entzug des Anblicks meine Sehnsüchte verstärkte.
Da bewegte sich „La Bella“, es waren zwei Stationen vor meinem Zielbahnhof, dem Ausgang zu. Nun war erneut Flexibilität gefragt. Kurzentschlossen stieg ich aus und lief hinterher. An einer Fußgängerampel kamen wir zu stehen. Inzwischen hatten wir beide die Maske abgenommen. Endlich würde ich das Antlitz in seiner eigentlichen Schönheit erblicken. Ich gab mir einen Ruck und trat furchtlos näher: „Entschuldigen Sie bitte, meine Dame, ist das der Weg zum Bürgeramt?“
Vielleicht sollte man doch besser zu Hause bleiben!
Ein strahlendes Augenpaar wandte sich mir zu. Die weichen Lippen umschloss ein akkurat geschnittener Henri-Quatre-Bart. Und sanfte Worte in Tenorlage gaben mir Auskunft. Ich weiß: Gerade in Zeiten von Transgender und Diversity hätte sich mir die Chance geboten, auf dem Gebiet der Liebe neue Erfahrungen zu sammeln. Doch meine guten Vorsätze waren plötzlich dahin. Verlegen murmelte ich etwas von „Oh, dann bin ich zu früh ausgestiegen“, und wandte mich ab. Zu allem Überfluss begannen einige der Umstehenden zu lachen.
Unwillkürlich zog ich die Maske hoch, um mein Gesicht wenigstens etwas zu wahren. Ich fühlte mich elend. Von wegen aus der Not eine Tugend machen! Doch dann keimte eine verlockende Überlegung in mir auf. Was bedeuteten in einer solchen Situation schon meine flüchtigen Sehnsüchte? War jetzt nicht zivilgesellschaftliche Haltung gefragt? Widerwillig blickte ich auf die lachenden Münder, die leichtfertig ihre Aerosole verbreiteten. Ein Gefühl moralischer Überlegenheit durchströmte mich. Die Tugend, dessen war ich mir jetzt gewiss, trägt Maske.
Doch schon auf dem Heimweg regten sich neue Zweifel. Ich erinnerte mich an das Sprichwort, wonach der Mensch erst hinter der Maske sein wahres Gesicht zeigt. Hatte ich meine Furcht etwa hinter Hochmut versteckt und mich somit selbst als Heuchler entlarvt? In diesen Zeiten ein Held zu sein, ist wahrlich nicht leicht. Vielleicht sollte man doch besser zu Hause bleiben!