Fleisch, Milch und andere Nahrungsmittel lassen sich auch künstlich erzeugen. Die heutige Lebensmittelproduktion konnte sich vor 100 Jahren auch niemand vorstellen. Die Bauern werden in eine neue Rolle hineinwachsen.
Das Idyll existiert. Zufriedene Kühe auf smaragdgrünen Weiden unter einem lichtblauen Sommerhimmel, wiederkäuend sinnierend über das, was Rindviecher so beschäftigt. Die am Abend in ihren geräumigen, tiergerecht konzipierten Stall zurückkehren, in dessen Schutz sie die Nacht verbringen. Stolz präsentiert die Landwirtin dem interessierten Bauernhofurlauber das zwischenzeitlich abgeschöpfte Ergebnis dieser Routine. Eine wässrige, weiße Emulsion aus Wasser und Fett, in der Zucker, Eiweiße und Vitamine gelöst sind. Als Grundnahrungsmittel, als Vorstufe der weiteren Veredelung zu Käse, Butter, Quark oder Joghurt und als Lieferant wichtiger Zutaten wie Molkepulver ist diese Milch für die Lebensmittelherstellung unverzichtbar. Und dennoch wird sie, trotz aller Optimierungen im Detail, immer noch auf dieselbe Weise produziert wie in grauer Vorzeit. Was nicht der Art entspricht, in der Menschen ihre Welt gestalten, gestaltet haben und gestalten sollten.
Freiheit meint immer die Unabhängigkeit von äußerer Willkür. Das schließt die Autarkie von der Umwelt ein, in der sich die Menschheit derzeit aufhält. Jene dünne, sich an eine gerade mal dreißig Kilometer tiefe Felskruste aus Graniten und Basalten klammernde Schicht komplexer Kohlenstoffchemie dient ohnehin nur der Vermehrung einer stetigen solaren Entropiezufuhr. Aufrechtgehende Zweibeiner der Gattung Homo zu ernähren und zu versorgen, geschweige denn, diesen eine technische Zivilisation zu ermöglichen, zählt nicht zu den Talenten der Biosphäre. Die Milchkuh muss der Mensch schon selbst erschaffen und ebenso die Weiden, auf denen sie grast, die Maschinen, die sie melken und die Gebäude, in denen sie vor widrigen Wetterbedingungen, Raubtieren oder Diebstahl geschützt ist. Sein Vieh muss der Mensch schon selbst pflegen und hegen, es füttern und rüsten gegen Parasitenbefall und Infektionskrankheiten. Und dabei eine Menge in Strukturen investieren, die überhaupt nicht zur Milchproduktion beitragen. Effiziente und effektive Prozesse sehen anders aus.
Denn für die Milch braucht es im Grunde nur einige Drüsen der Kuh, wenn nicht gar nur die Zellen, die in diesen Geweben die gewünschte Arbeit verrichten. Und vielleicht braucht es nicht einmal die, weil künstliche, gentechnisch perfektionierte organische Nanomaschinen das noch viel besser können. Maßgeschneidert für eine spezifische molekulare Konstruktionsaufgabe, die sie unter optimalen Bedingungen in einem von allen störenden Umgebungseinflüssen abgeschotteten Reaktionsraum durchführen. Präzisionsfermentation heißt diese Säule einer neuen Form der Lebensmittelproduktion, zelluläre Landwirtschaft genannt. Eine noch junge Technologie, die momentan die Phantasie der Ernährungsindustrie und vieler Investoren anregt. Hunderte meist neugegründete, sich dieser Thematik widmende Unternehmen weltweit haben bereits Risikokapital im Milliardenumfang eingesammelt.
Eines davon nennt sich Remilk, gegründet im Jahr 2019. Das israelische Unternehmen, von seinem Sitz in den USA mittlerweile international tätig, produziert auf genau die beschriebene Weise jene Proteine, die Milch ausmachen, chemisch absolut identisch mit denen aus den Eutern echter Kühe. Das auf diesen aufbauende Milchsubstitut kommt geschmacklich und texturell der traditionell erzeugten Kuhmilch schon sehr nahe, enthält aber kein Cholesterin, keine Lactose, keine Hormone und keine Rückstände von Antibiotika. Joghurt, Käse und Speiseeis kann man daraus ebenfalls machen. In den USA, Kanada, Israel und Singapur hat Remilk bereits die Zulassung für die Vermarktung erhalten. Unter seinen Kapitalgebern befindet sich auch der große deutsche Molkereikonzern Hochland, was der Schwarzwaldbäuerin zu denken geben sollte.
Kultiviertes Fleisch ist echtes Fleisch
Neben der Milch und Milchderivaten stehen auch Eier im Fokus der Biotechniker, denen es um nicht weniger geht als die Substitution der konventionellen Agrarwirtschaft mittels edelstahlsilberner Fermenter. Hinzu treten zahlreiche Ansätze, Ausgangs- und Zwischenprodukte pflanzlichen oder tierischen Ursprungs durch künstliche Varianten zu ersetzen, von bestimmten Enzymen über Duftstoffe, Geschmacksverstärker und Gelatine bis hin zu Seide und Leder. Und rund 150 Firmen fokussieren sich auf synthetisches Fleisch, ob Rind, Schwein, Geflügel oder Fisch.
Bei dieser Gewebezüchtung werden statt eines ganzen Tieres nur dessen mitunter ebenfalls gentechnisch veredelte Stammzellen verwendet, die sich in einer Nährlösung zu Muskel- oder Fettgewebe entwickeln. Um dabei die fleischtypische Faserstruktur zu erhalten, erfolgt das Wachstum auf geeigneten Stützstrukturen. Noch entsprechen die entlang dieses Pfades erzielten Resultate nicht in jedem Aspekt ihren herkömmlichen Pendants, aber weitere Forschungsanstrengungen werden diese Differenzen minimieren. Weil es hier gerade nicht darum geht, Fleisch mittels einer Mixtur aus Ersatzstoffen pflanzlicher Herkunft mehr schlecht als recht zu imitieren, um Burgerketten ein zeitgeistkonformes Angebot zu ermöglichen. Kultiviertes Fleisch ist echtes Fleisch, chemisch absolut identisch zu den gewohnten Schlachterzeugnissen. Und wenn der Kram aus dem Bioreaktor schmeckt wie ein Steak, aussieht wie ein Steak, sich anfühlt und duftet wie ein Steak, dann gibt es kein rationales Argument, ihn nicht als Steak zu akzeptieren.
Ohnehin ist die Verwendung von Mikroorganismen oder Katalysatoren zur künstlich induzierten, gesteuerten und geregelten chemischen Umwandlung organischer Verbindungen außerhalb von Lebewesen schon lange Bestandteil der Lebensmitteltechnik. Man denke an den Einsatz von Hefe beim Brauen von Bier oder von Bakterien bei der Joghurt-Produktion. Neu ist der Ansatz, die Synthese eines ess- oder trinkbaren Produktes vollständig artifiziell durchzuführen und hierzu auch neu geschaffene, spezifisch auf den jeweils betrachteten Verfahrensschritt ausgerichtete Zellen zu verwenden. Preiswertere Nahrung entsteht auf diese Weise noch nicht, wie beispielsweise das deutsche Unternehmen Kaesler Nutrition in diesem Interview einräumt. Viele Firmen rechtfertigen ihr Engagement in der zellulären Landwirtschaft daher mit ökologischen Argumenten und hoffen, dadurch die Verbraucher zu überzeugen. Aber das ist nicht der entscheidende Aspekt.
Das erste synthetische Steak aus dem Weltraum
Derzeit sieht sich die traditionelle Landwirtschaft einer doppelten technischen Attacke ausgesetzt. Die Hydroponik, also die Kultivierung von Nutzpflanzen in abgeschotteten Gewächshäusern unter optimalen, in jedem Aspekt kontrollierten Bedingungen hinsichtlich der Beleuchtung, der Temperatur, der Luftfeuchte, der Atmosphärenzusammensetzung und der Nährstoffzufuhr durch flüssige Medien lässt den klassischen Ackerbau als überholt erscheinen, und die Präzisionsfermentation vermag Viehhaltung und Weidewirtschaft abzulösen. Noch überleben die Bauernhöfe, weil sie Energie, Ressourcen und Prozesstechnik in einem großen Umfang kostenlos beziehen. Doch das limitiert sie auf Standorte mit fruchtbarer Erde und geeigneten klimatischen Bedingungen. An denen sie hohe Risiken hinzunehmen hat, von Stürmen und Dürren bis hin zu Schädlingen aller Art. Und es schränkt sie auf den von der natürlichen Evolution gesetzten funktionellen Rahmen ein, der ihre biologischen, aus einfachen Molekülen Fleisch und Früchte in verzehr- oder verarbeitungsgerechten makroskopischen Konfigurationen synthetisierenden Maschinen von der Kuh bis zum Apfelbaum definiert.
Hydroponik und zelluläre Landwirtschaft dagegen heben all diese Grenzen auf. Im Grunde profane Verbrauchsgüter wie Kohlenhydrate, Fette, Proteine und Vitamine lassen sich künftig überall in schmackhafter Form generieren, ob in der Antarktis, der Sahara oder auf den Gipfeln des Himalaya. Durch Skaleneffekte sinkende Systemkosten erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit dieser Verfahren, die sich zudem vergleichsweise simpel sehr weitgehend automatisieren lassen. Mehr noch können so erzeugte Produkte ihre konventionellen Varianten qualitativ sogar übertreffen, weil sie sich mit entsprechenden Zuschlägen besonders nahrhaft und gesund gestalten lassen.
Das wird die Pioniere freuen, die künftig in orbitalen Raumstationen, auf dem Mond oder auf dem Mars arbeiten. In einer „Umwelt“, in der die konventionelle Landwirtschaft chancenlos wäre und in einem „Klima“, das jeglichen irdischen Maßstäben spottet. Wenig überraschend erscheint in diesem Zusammenhang der Ort, an dem das erste synthetische Steak im Jahr 2019 entstand. Im Weltraum, auf der Internationalen Raumstation, hervorgegangen aus einer Kooperation zwischen Aleph Farms aus Israel (gegründet 2017) und 3D Bioprinting Solutions aus Russland (2013).
Der klassische Bauernhof hat keine Zukunft
Innovation ist immer expansiv. Sie löst keine Probleme, sondern schafft neue Möglichkeiten, insbesondere zur Ausbreitung der Zivilisation in noch unbesetzte Räume. Darin liegt auch das Alleinstellungsmerkmal der zellulären Landwirtschaft. Schließlich stellt die Menschheit die wirkmächtigste aus der irdischen Biosphäre hervorgegangene Entropieschleuder dar. Wobei es sich, wenn man denn eine sucht, um die einzig sinnvolle Begründung ihrer Existenz handelt. Diesem Zweck zu folgen, ist daher das natürliche Prinzip allen gestaltenden Handelns. Deswegen formen Menschen Automobile aus Erzen, Computer aus Sand und Nährmedien für artifizielle Zellkulturen oder hydroponischen Pflanzenanbau aus Abfällen, Reststoffen und bald sogar lunarem" target="_blank" >https://www.esa.int/ESA_Multimedia/Images/2023/02/Farming_on_the_Moon">lunarem Regolith. Den Anblick glücklicher Kühe auf sonnenbeschienenen Weiden allein um seiner selbst willen zu erhalten, verletzt dagegen diese Maxime.
Mehr als ein Jahr nach dem Durchbruch in der Schwerelosigkeit erteilt Singapur am zweiten Dezember 2020 dem amerikanischen Unternehmen Eat Just die Zulassung für sein synthetisches Hühnerfleisch. Gut zwei Wochen später setzt das erste Restaurant im Stadtstaat das Produkt auf seine Speisekarte. Because Animals (USA, Tierfutter), Clear Meat (Indien, Geflügel), Finless Foods (USA, Thunfisch), New Age Meat (USA, Schwein) und Vow (Australien, Känguruh) stehen beispielhaft für weitere Startups, deren Schöpfungen bereits im Handel sind. In der EU arbeitet die Bürokratie wie üblich langsamer, aber der Markteintritt von BioTech Foods (Spanien, Schwein), Meatable (Niederlande, Schwein) und MeaTech (Belgien, Stopfleber) ist bald zu erwarten. Für Deutschland können Cultimate Foods (Fleisch), Blue Seafood (Fisch) und Innocent Meat (Rind) als Teil einer nicht mehr aufzuhaltenden Lawine angeführt werden, unter der die althergebrachten Methoden der Fisch- und Viehzucht nach und nach abtreten.
Einige wenige Landwirte mögen die anlaufende Umwälzung überstehen. Als Lieferanten eines traditionsfokussierten und idealistischen Publikums, das in seiner trotzigen Wehmut weiterhin nur in Acker oder Stall Quellen wirklich genießbarer Mahlzeiten sieht. Einige andere können ihre Kompetenzen in die Pflege und Gestaltung unserer Kulturlandschaften einbringen, notwendig bei der Umwidmung nicht mehr benötigter Äcker und Weiden. Mancher ist dazu in der Lage – zumindest vorübergehend – seinen Lebensunterhalt als Zulieferer biogener Grundstoffe für die chemische Industrie zu bestreiten. Der größte Teil aber verschwindet. Der klassische Bauernhof hat keine Zukunft. Satter und zufriedener wird die Menschheit trotzdem. Oder besser gesagt: genau deswegen. Die Idylle als solche erschafft nun einmal keine Kalorien. Diese Leistung erbringt in bedarfsgerechter Menge und Qualität nur eine Fabrik.
Dr. Peter Heller, geboren 1966, ist promovierter Astrophysiker. Nach Stationen in der Softwarebranche und der Raumfahrtindustrie arbeitet er heute als Strategieberater und analysiert technologische Trends.