Henryk M. Broder / 28.11.2008 / 21:52 / 0 / Seite ausdrucken

Flaschen voll

Die Fahrt von Neumünster nach Hamburg dauert eine gute Stunde, aber gefühlt sind es mindestens zwei. Der Regionalexpress besteht aus drei Waggons, und die sind überfüllt. Was allerdings einige Reisende in der ersten Klasse nicht daran hindert, ihre Koffer auf den Sitzen reisen zu lassen, denn auch die Gepäckablagen sind voll.
Auf dem Bahnsteig in Neumünster fällt mir ein älteres Ehepaar auf, das sich offenbar verfahren hat. Die beiden kommen aus Flensburg und möchten nach Leipzig. Auf der Fahrt von Flensburg nach Neumünster mussten sie schon zweimal umsteigen, weil sie ein Seniorenticket haben, mit dem sie nicht alle Züge benutzen können. Der letzte Schaffner, den sie gefragt hatten, sagte ihnen, sie sollten in Neumünster einen Zug nach Hannover nehmen, dort nach Göttingen umsteigen und in Göttingen einen Zug nach Leipzig nehmen. - Würden die beiden gerne machen, aber auf dem Fahrplan in Neumünster finden sie keinen Zug, der nach Hannover fährt.

„Kommen Sie erstmal mit nach Hamburg“, sage ich, „von dort geht jede Stunde ein Zug über Berlin nach Leipzig“. Dann müssen nur noch zwei Reisende überredet werden, ihre Koffer von den Sitzen zu nehmen, und die beiden alten Leute, die zur Kur in ein Bad bei Leipzig wollen, können sich hinsetzen. Ich bleibe im Flur stehen und denke über ein altes polnisches Sprichwort nach: „Frag nie einen Eisenbahner nach dem Weg, sonst kommst du nie ans Ziel.“

Ein korpulenter Schaffner quält sich durch den Gang, übersieht die Koffer auf den Sitzen, schaut sich aber die BahnCards genau an.

In Elmshorn steigen vier junge Menschen zu, drei Männer und eine Frau, an den Frisuren und der Kleidung als Angehörige des Prekariats zu erkennen, die außer ihren Goldkettchen nichts zu verlieren haben. Jeder trägt ein Sechserpack Bitburger im Arm, macht zusammen 28 Flaschen. Kaum hat der Zug den Bahnhof von Elmenhorst verlassen, sind schon die ersten vier Flaschen alle, bzw. umgefüllt. Jetzt kommt Stimmung auf. Einer der vier holt einen iPod raus. Weil er sich aber keine Kopfhörer leisten konnte, bekommen alle Reisenden mit, welche Musik er gerne hört. Nach der zweiten Runde Bier gibt’s eine Karaoke-Einlage zur Musik vom iPod. „Wir haben Durst.“ Wenn jetzt eine Achse brechen würde, wäre ein Alptraum vorbei. Zwischendurch ruft der Anführer „Rechts rum!“ und hebt dabei den rechten Arm.
Und kein Schaffner weit und breit, der die Fahrkarten sehen möchte.

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