Zum Abschluss einer Ausstellung über den „Untertan“ von Heinrich Mann. Es wird dort alles gesagt und nichts verstanden. Am Sonntag kann man sich noch einmal davon überzeugen.
So ganz klar war es nicht, warum in der DDR Heinrich Manns Erfolgsroman „Der Untertan“ auf dem Stundenplan jeder Schule stand, oft ergänzt durch die Verfilmung von Wolfgang Staudte von 1951. Das Erstaunen richtet sich auf die Tatsache, dass Mann in seinem 1914 abgeschlossenen und nach dem Ersten Weltkrieg publizierten Buch zwar einen von ihm im Kaiserreich ausgemachten Untertanengeist karikiert und bloßstellt. Jedoch handelt es sich bei der opportunistischen, nach oben buckelnden, sagen wir ruhig arschkriechenden, und nach unten tretenden Figur des Diederich Heßling um einen Typus. Und dieser feierte gerade auch in unfreiheitlichen politischen Systemen wie dem der DDR fröhliche Urständ und konnte sich hier auf das Beste entfalten. Anzutreffen war er in der zweiten deutschen Diktatur (in der ersten und anderswo selbstredend auch) allerorten. Er war nur etwas anders kostümiert als Werner Peters, der in Staudtes Film den Diederich Heßling mimte.
Das Lübecker Buddenbrookhaus hat dem „Untertan“-Roman reichlich 100 Jahre nach dessen Erscheinen eine Sonderausstellung gewidmet. Zu sehen ist diese in den Räumen des St. Annen-Museums. Das Buddenbrookhaus selbst ist seit 2020 geschlossen, ein Umbau-Trauerspiel der Extraklasse mit unbestimmtem Ausgang, aber das ist ein anderes Kapitel.
Untertitel der Ausstellung: „Über Autorität und Gehorsam“. Es muss ein Renner gewesen sein, immerhin bringt es die Schau auf fast genau ein Jahr, am 10. September 2022 eröffnet, sollte sie schon am 31. März 2023 geschlossen werden, wurde aber bis 27. August verlängert – offenbar wegen des großen Erfolges. Nun heißt es allerdings, sich sputen, wenn man sie noch sehen möchte.
Zu den Stichworten „Autorität“ und „Gehorsam“ fällt sicher dem einen oder anderen spontan etwas ein, auch unabhängig von Heinrich Mann, eine entsprechende Erwartungshaltung bringt der Besucher also mit. Andererseits ist die Gestaltung einer Ausstellung, die Literatur zum Gegenstand hat, immer eine Herausforderung besonderer Art.
Auf grellem Pink-Rosa
Und wie wurde das in Lübeck gemeistert? Auf grellem pink-rosa Präsentationstafelgrundton erfährt man in Kürzestfassung das – gegenwärtig – Erwartbare über das Kaiserreich. Böse war es. Dem Ausstellungsanliegen entsprechend, sind die allgemeineren Aussagen illustriert mit Zitaten aus dem „Untertan“. Zu sehen ist meist das, was man „Flachware“ nennt – Tafeln mit Abbildungen und Texten. Objekte sind, vorsichtig gesagt, spärlich vertreten, nahezu nichts, weshalb man anreisen müsste. Höhepunkte: eine „Untertan“-Erstausgabe, eine äußerst übersichtliche Auswahl von Heinrich-Mann-Handschriften, ein Bierkrug mit antisemitischen Stereotypen (ohne näheren Bezug, eben aus der Zeit), ein historisches Mieder (irgendeins), eine Pickelhaube (irgendeine).
Es geht um unterdrückte Arbeiter, unterdrückte Frauen, bräsige Stammtischler, Kaiser-Anbeter, um Netzwerke, die über Studentenverbindungen (bäh!) entstanden sind, um „Männerbünde“ (nochmal bäh!) und Antisemiten. Wo es möglich ist, erfreuen die pink-rosa Tafeln mit Gender-Doppelpunkt und folgen einer mitunter, nun ja, etwas speziellen Diktion (Doch zugleich erstarkt im Windschatten der Industrialisierung der Einfluss der Arbeiter:innen, die an den Klassengegensätzen rütteln… ). Immer wieder lugt die Gegenwart nicht nur hervor, sondern wird über den „Untertan“ explizit thematisiert. Anknüpfend an das Bestreben Diederich Heßlings, ein Denkmal für Kaiser Wilhelm I. zu errichten (im Roman ist er für Heinrich Manns Protagonisten übrigens „Wilhelm der Große“), geht es etwa um die irrsinnigen Denkmalsanfeindungen (die Begrifflichkeit stammt nicht aus der Ausstellung) unserer Tage: Bis heute sind in Deutschland viele Denkmäler aus der Kaiserzeit erhalten. Sehr bekannt sind diejenigen an der Porta Westfalica und am Deutschen Eck in Koblenz. Auch hier in Lübeck gibt es ein Kaiser-Denkmal. Schon seit einigen Jahren stehen solche Monumente, aber auch Namen von Straßen und öffentlichen Plätzen im Zentrum heftiger Diskussionen. Dabei geht es um die Auseinandersetzung mit der kolonialen und imperialistischen Vergangenheit. Natürlich beschäftigt man sich nicht nur in Deutschland kritisch mit der Erinnerungskultur. 2020 wird zum Jahr des Denkmalsturzes weltweit. In Deutschland werden die Debatten jedoch vor besonderem Hintergrund geführt. So ist häufig die Frage zentral, wie mit der Zeit des Nationalsozialismus erinnerungspolitisch verfahren werden soll. Zunehmend gerät aber auch der Zeitraum des Deutschen Kaiserreichs und dessen Kolonialpolitik und damit Denkmäler wie die oben genannten in den Blick. (Holprige Grammatik im Original.) Und wenn sich die Zusammenhänge nicht direkt erschließen sollten, kann man sie herstellen. Hauptsache wir kommen auf „böse“.
Aus einem Schreibwettbewerb von 17- bis 20-jährigen Schülern ist – sozusagen als Ausstellungs-Mitnehmsel – eine „Neue Netziger Zeitung“ entstanden. (Netzig ist der fiktive Haupthandlungsort von Manns Roman.) Die jungen Menschen tun hier ihre Meinung zum „Untertan“ bzw. zu dessen Lektüre kund. Sollte man kein Exemplar mehr bekommen, so sind die Beiträge hier abrufbar, allerdings ohne das Grußwort von Kulturstaatsministerin (Kulturstaatsministerin!) Claudia Roth. Faszinierende Anregungen bildungsbeflissener Schüler gibt es da, etwa: Also bitte: Behandelt diesen Roman und setzt euch damit auseinander. Wenn ihr jedoch von der hohen Seitenzahl und der antiquierten Sprache abgeschreckt seid, ist das nicht verwunderlich. Das anstrengende Lesen zu Hause ist dringend überholungsbedürftig. Wie wäre es mit kreativeren Wegen bei der Erschließung des Inhalts? Der Roman könnte zum Beispiel als Hörbuch rezipiert, mit verteilten Rollen im Unterricht gelesen, Teile zu Hause erarbeitet oder gekürzte Versionen genutzt werden. (Hier der ganze Beitrag.) Auch schön: Anstatt den kompletten Roman sollten vielmehr ausgewählte Ausschnitte im Original gelesen werden, um die Wortwahl und vor allem die satirischen Elemente zu bewahren, die das Buch zu bieten hat. Der Originaltext kann um Auszüge in moderner Sprache ergänzt werden und es wird gezielt am Verständnis des Gelesenen gearbeitet. Dazu könnten die Schüler:innen selbst eigene Erklärpodcasts für den Kurs über einzelne Ausschnitte erstellen. (Hier der ganze Beitrag.)
Gegen den „Missbrauch“
Besonders bemerkenswert ist, welche Früchte Heinrich Manns Warnungen vor Mitläufertum und Nachplapperei getragen haben. Mittels der von den Schülern verfassten „Neuen Netziger Zeitung“ lässt sich nahezu alles abhaken. Kostproben: Der kürzlich veröffentlichte Verfassungsschutzbericht zeigt deutlich auf: Die Zahl der extremistisch motivierten Straftaten ist angestiegen und die Warnung des Verfassungsschutzes ist eindeutig: Die Gefahr von rechts ist die größte extremistische Bedrohung, die wir in Deutschland für die Demokratie haben. (Hier der ganze Beitrag.) Oder: Der Klimawandel beispielsweise ist für die Deutschen eine der größten Bedrohungen dieser Zeit. Trotzdem wird die Problematik im Alltag von den meisten ignoriert und nur wenige fordern die Politik aktiv zum Handeln auf. Zudem üben die Menschen wenig Druck auf die Regierung aus, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen oder Reiche stärker zu besteuern, obwohl eine deutliche Mehrheit sich in Umfragen dafür ausspricht. (Hier der ganze Beitrag.)
Eine ganz besondere Sicht auf das Untertanentum gibt es auch noch: Ein Mädchen etwa vergleicht sich auf einer Querdenker-Demonstration mit Anne Frank. Sie dürfe wegen der Ausgangssperre nur leise mit ihren Freund:innen ihren Geburtstag feiern. Sie fühle sich wie im Hinterhaus, in dem Anne Frank über Jahre ausharrte, bis sie entdeckt wurde. Und die Menge ist erschüttert über diesen abstrusen Vergleich? Nein. Sie klatscht… Mitläufer, nichts als Mitläufer. Womöglich werden sie am Abend von einer großartigen Demonstration berichten, sich als Widerständler:innen sehen und gegen etwas kämpfen, das gar nicht existiert… Das Mädchen kann als moderner Diederich Heßling gesehen werden. Es wächst auch in guten Verhältnissen auf. Beide könnten eigentlich zu selbständig denkenden Menschen heranwachsen. Sie bekommen jedoch von ihren Eltern falsche Bilder vermittelt, die wiederum falsch beeinflusst werden, ohne eigenständig darüber nachzudenken. (Hier der ganze Beitrag.) Die Querdenker als Mitläufer einer breiten Strömung zu bezeichnen – hier könnte auch die Tagesschau noch etwas dazulernen.
Da das beherrschende Thema der Jahre 2020 bis 2022 in der Präsentation doch zunächst etwas zu kurz gekommen scheint, erfreut der letzte Raum dann noch einmal mit Klartext, es ist auch auf der Homepage so angekündigt: Zum Abschluss der Ausstellung wird noch auf eine etwas befremdliche Entwicklung in der „Untertan“-Rezeption eingegangen: Seit Beginn der Corona-Pandemie wurde der Roman von so genannten Querdenker:innen immer wieder als Nachweis für den deutschen Untertanengeist missbraucht. Diese Debatte wird in der an die Sonderausstellungsräume angrenzende „Apotheke“ skizziert.
Gegen den „Missbrauch“ gibt es „Medikamente“, für die hier großflächig geworben wird. Da wäre etwa eine Packung „Claritas Mentis“, empfohlen bei allen Formen des Verschwörungsglaubens, Risken: Erstverschlimmerung möglich, gefolgt durch schmerzhafte Erschütterung des eigenen Weltverständnisses bis hin zur vernunftbasierten Wahrnehmung. Oder „Amor Dialogus“, zu verabreichen bei leichten und schweren Formen völliger Selbstvergessenheit, mangelnder Impulskontrolle und Verletzungen sozialer Standards, die ihren symptomatischen Ausdruck in hasserfüllten, verletzenden, beleidigenden, rassistischen, sexistischen, gewaltandrohenden, homophoben und antisemitischen Äußerungen im Internet finden. Schwerste Symptomatik: anonyme Gewaltaufrufe. Müsste vollständig sein. Und natürlich gibt es auch Tabletten zu verabreichen bei leichten und schweren Formen von Wissenschaftsferne, Verwechselungen von Medizin und Aberglaube sowie Überschätzungen von Youtube-Videos gegenüber staatlich anerkannten Universitätsabschlüssen in der Medizin. Verstanden, Ihr Deppen?
Tiefpunkt statt Tiefblick. Fazit der Ausstellung des Buddenbrook-Hauses: Der „Untertan“ scheint tatsächlich ein sehr aktuelles Thema zu sein. Er ist absolut angesagt, auf der Höhe der Zeit und das erstrebenswerte Ideal. Immer im Gleichschritt blökend dabei. Kein Bekenntnis auslassen. Jede kritische Stimme ungehört zur Seite schieben, am besten ins Lächerliche ziehen. Sechste Impfung. 1a Staatsbürgerkunde.
Heinrich Mann war jetzt allerdings nicht so direkt ein großer Freund seines Protagonisten. Und obwohl sein Figurentableau auf den ersten Blick arg holzschnittartig wirkt, hat der subtile Leser des „Untertan“-Romans immer wieder das Gefühl, Diederich Heßling merkt in seinem tiefsten Inneren sehr wohl, wie erbärmlich sein Verhalten ist. Was ihn allerdings nicht dazu führt, Korrekturen vorzunehmen. Für einige ist es vielleicht ganz gut, dass die Ausstellung nun zu Ende geht.