Dirk Maxeiner / 04.05.2007 / 13:37 / 0 / Seite ausdrucken

Fernstenliebe

Von Maxeiner & Miersch, erschienen in DIE WELT vom 4.05.07

Es ist noch gar nicht lange her, da hatte der Erstgeborene einer Familie besondere Rechte. In vielen Kulturen erbte er den väterlichen Hof, seine später geborenen Geschwister gingen leer aus. Das ist gründlich aus der Mode gekommen. Heutzutage genießt der Mensch die höchste Wertschätzung, der noch gar nicht geboren ist.

Die „künftigen Generationen“ haben Sonntagsreden und Parteiprogramme im Sturm erobert, keine Gruppe erfreut sich so ungeteilter Fürsorge. Es gibt in unserem Land eigentlich nichts mehr, was nicht aus Sorge um sie geschieht. Aus der Atomkraft aussteigen? Selbstverständlich aus Verantwortung für die nachfolgenden Generationen! In die Atomkraft wieder einsteigen? Dito! Egal, ob Energiepolitik oder Rentenreform, Studien- oder Müllgebühren, all dies geschieht vornehmlich im Interesse künftiger Menschen. Sämtliche Argumente sind somit als vollkommen selbstlos zu betrachten.

Ursprünglich sicherten sich die Grünen und die Ökobewegung das Exklusivrecht auf den Begriff. Genau wie Wale und Bäume haben auch künftige Generationen den Vorteil, dass sie nicht widersprechen können. Inzwischen haben das auch alle anderen Parteien und Interessengruppen gemerkt, die auf der Suche nach einer pflegeleichten neuen Klientel sind, mit deren Hilfe sie ihre alten Interessen durchsetzen können. Künftige Generationen sind ideal, solange sie künftig sind. Kaum erblicken sie das Licht der Welt, ist schlagartig Schluss mit lustig – spätestens wenn sie statt nach einer ökosozialen Utopie nach mehr Taschengeld schreien.

Merke: Je weiter weg eine Generation ist, desto besser. Die gute alte Fernstenliebe erklimmt eine neue Stufe. Besonders jene Menschen, die sich bevorzugt vor Kameras und Mikrofonen um andere sorgen, sind anfällig für dieses Phänomen. Erinnern wir uns an das West-Berlin der Achtzigerjahre: Der Aufbau des Sozialismus in Nicaragua genoss weitaus mehr Aufmerksamkeit als brutale Menschenrechtsverletzungen, die einen Steinwurf weit hinter der Mauer stattfanden. Unmittelbare Nächstenliebe ist ein soziales und zum Handeln verpflichtendes Gefühl. Mit der Ferne wird daraus oft nur noch eine Projektionsfläche für die Darstellung der eigenen guten Gesinnung.

Andererseits ist es richtig, dass auch Menschen in Entwicklungsländern unserer Hilfe bedürfen. Aber selbst dabei verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg von den konkreten Problemen der lebenden Menschen hin zu denen künftiger Generationen. Viele Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika leiden unter unsäglichen hygienischen Verhältnissen, verschmutztem Wasser und verschmutzter Luft. Dies ist eine der häufigsten Todesursachen von Kindern. Ihnen könnte heute geholfen werden. Die Öffentlichkeit hierzulande sorgt sich indes am meisten um die Afrikaner als mögliche Klimaopfer in 100 Jahren. Die simpelste Regel nachhaltigen Handelns scheint in Vergessenheit zu geraten. Sie heißt: Wer morgen überleben will, muss erst einmal heute überleben.

Derzeit kursierende Ratschläge zur Weltrettung lassen dies außer Acht. Keine Fernflüge mehr! Keine billigen Konsumgüter aus Asien! Keine exotischen Früchte! Wenn die Reichen von heute darauf zugunsten künftiger Generationen verzichten, so werden die Armen von heute noch ärmer, weil sie nicht einmal mehr das wenige vermarkten können, was sie haben: Agrarprodukte, billige Arbeitskraft oder schöne Landschaften. Ist es wirklich ein Zeichen höherer Moral, das Elend lebender Generationen in Kauf zu nehmen, um künftige Generationen zu schützen?

Vollends paradoxer wird es, wenn man sich in Deutschland die Zahl der Geburten anschaut: Aktuell plagt uns wohl eher das Ausbleiben künftiger Generationen, was zu dem Umstand führt, dass man sich um diese weniger Sorgen zu machen braucht, als um die Rentenbezüge der gegenwärtigen Generation. Oder haben wir aus Sorge um künftige Generationen beschlossen, sie nicht mehr in die Welt zu setzen? Vollkommen selbstlos versteht sich.

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