Einige Wochen bevor den Bundesbürgern mit dem Beginn der verschiedenen Wellen des Corona-Ausnahmezustands wichtige Grundrechte entzogen wurden, lernten sie noch so etwas wie eine neue Disziplin im bundesdeutschen Regierungshandeln kennen: das Rückgängigmachen der Wahl eines Landesministerpräsidenten nach Ansage der Kanzlerin. Der Fortgang der seinerzeitigen Ereignisse rund um die Wahl des Thüringer Kurzzeitministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) mit Stimmen von CDU, AfD und FDP sind hinlänglich bekannt.
Wer in einem deutschen Parlament oder Gemeinderat genauso abstimmt wie die AfD-Abgeordneten, gerät seither noch schneller in den Rechtsabweichler-Verdacht als zuvor, weshalb es nicht oft geschieht. Eine Zustimmung zu einem AfD-Antrag ist da vollkommen undenkbar. Was soll man aber tun, wenn es doch geschieht? Kann man das dann auch noch rückgängig machen? Im Deutschen Bundestag erwecken FDP-Abgeordnete und der Spiegel den Eindruck, als ob das mit einer nachträglichen Protokollnotiz ginge.
Es war am frühen Freitagmorgen – der Deutsche Bundestag tagte schon seit Donnerstag, 9 Uhr –, als etliche FDP-Abgeordnete falsch abstimmten. Um 2:29 Uhr ging es um den Tagesordnungspunkt 33d, einen Antrag der AfD-Fraktion mit dem Titel: "Deutsche Staatsangehörigkeit nur gezielt vergeben – Klare Grenzen der Einbürgerung aufzeigen". Die Abgeordneten stimmen aber nicht mit „Ja“ oder „Nein“ zum Antrag ab, sondern darüber, ob sie der Beschlussempfehlung des zuständigen Ausschusses folgen. Der empfiehlt die Ablehnung des Antrags, weshalb mit „Ja“ stimmen muss, wer „Nein“ zum AfD-Antrag sagt. Das mag für Außenstehende verwirrend klingen – für Bundestagsabgeordnete sollte das Routine sein, und am Ende einer Legislaturperiode sitzt auch keiner zum ersten Mal im Plenarsaal. Doch es ist wie im richtigen Leben, gerade bei Routinehandlungen schleichen sich schnell Fehler ein, zumal um 2:29 Uhr. So verkündet Bundestagsvizepräsidentin Dagmar Ziegler (SPD) nach der Abstimmung: „Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von FDP und AfD bei keiner Enthaltung mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.“ (Quelle hier, S. 30763).
Die FDP-Abgeordneten hatten tatsächlich nicht nur mit der AfD gestimmt, sondern sogar für ihren Antrag? Unglaublich! Dennoch scheint es niemandem im Plenarsaal aufgefallen zu sein. Weder gab es Aufregung noch Freude in den Fraktionen auf der einen und der anderen Seite.
„Ich habe mich verstimmt“
Kollegen vom Spiegel berichteten von ihrer Nachfrage, bei der sich die FDP-Fraktion überrascht über das eigene Abstimmungsverhalten gezeigt haben soll:
„Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Marco Buschmann schickt die sogenannte ‚Votenliste‘. Darauf wird vor Plenarsitzungen festgehalten, wie die Fraktion abstimmen will. Die Ansage ist unmissverständlich: Die FDP werde der Empfehlung des Innenausschusses folgen und den AfD-Antrag ablehnen, heißt es dort.
Es zeigt sich, dass das Votum keine Rebellion gegen die Linie der Fraktion war, sondern ein Versehen des FDP-Innenpolitikers Stephan Thomae. Er […] hatte an dem Tag Sitzungsdienst und leitete die Fraktion.
‚Das war die letzte Abstimmung in dieser Nacht. Ich hatte bereits vier Stunden Sitzungsdienst. Aus Gründen, die ich nicht mehr nachvollziehen kann, habe ich das Ja verpasst. Ich habe mich also sozusagen ‚verstimmt‘, sagt Thomae am Telefon.“
Fehler passieren natürlich. Aber abgestimmt ist abgestimmt, würden jetzt wahrscheinlich die meisten Wähler sagen. Wenn die ihre Stimme abgegeben haben, ist sie schließlich auch weg, und sie können nirgends zu Protokoll geben, dass sie mit ihrer Stimmabgabe niemals hätten die Regierung legitimieren wollen, die sie dann bekamen.
Im Bundestag scheint man da mit Falschabstimmern nachsichtiger zu sein, wenn man spiegel.de folgt:
„Die FDP lässt die Sache jedenfalls nicht auf sich beruhen. Noch am Montag schickte der FDP-Fraktionsgeschäftsführer Buschmann eine Korrekturbitte an den Stenographischen Dienst der Parlamentsverwaltung. Im Plenarprotokoll wird der Irrtum nun korrigiert.“
Das ist doch toll von der FDP, dass sie ihren „Irrtum nun korrigiert“. Das klingt ja fast noch besser als „rückgängig machen“. Aber kann man sein Stimmverhalten wirklich per Protokoll nachträglich korrigieren? Die oben zitierte Verkündung des Abstimmungsergebnisses durch die Bundestagsvizepräsidentin trägt im Plenarprotokoll eine Fußnote. Die führt zur Anlage 36 und enthält eine „Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Marco Buschmann (FDP) zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Hess, Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried Curio, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Deutsche Staatsangehörigkeit nur gezielt vergeben – Klare Grenzen der Einbürgerung aufzeigen (Tagesordnungspunkt 33 d):
Ich erkläre im Namen der Fraktion der FDP, dass unser Votum zur Beschlussempfehlung Zustimmung lautet.“
Und Zustimmung zur Ausschussempfehlung bedeutet – siehe oben – Ablehnung des AfD-Antrags. Die Welt scheint wieder in Ordnung und es sieht aus, als sei die falsche Stimmabgabe jetzt per Protokoll tatsächlich irgendwie rückgängig gemacht worden.
Nur eine Fußnote
Ein falscher Eindruck, denn am Abstimmungsergebnis ändert eine Erklärung nach §31 selbstverständlich gar nichts. Dieser Paragraph ist offensichtlich auch nicht zum Zwecke nachträglicher Stimmen-Rückzieher in die Geschäftsordnung aufgenommen worden, denn dort heißt es:
„Nach Schluß der Aussprache kann jedes Mitglied des Bundestages zur abschließenden Abstimmung eine mündliche Erklärung, die nicht länger als fünf Minuten dauern darf, oder eine kurze schriftliche Erklärung abgeben, die in das Plenarprotokoll aufzunehmen ist. Der Präsident erteilt das Wort zu einer Erklärung in der Regel vor der Abstimmung.“
Man kann zwar offenbar auch noch nachträglich zu Protokoll geben, dass man eigentlich gern anders abgestimmt hätte, doch das hat keine Bedeutung. Ehrlicherweise hätte die FDP-Fraktion dann vielleicht in der Anlage 36 schreiben sollen: „Wir wollten ja eigentlich alle anders abstimmen, haben aber gar nicht mehr darauf geachtet, wofür wir gerade unsere Hand heben“. Das klingt allerdings nicht so gut, wie „rückgängig machen“. Was bleibt? Nur eine Fußnote.