Fantasie-Bilanzen: Wirecard ist nur der Anfang

Wirecard hat seine Bilanzen nicht geschönt, sondern gefälscht. Laxe Bilanzregeln schaffen eine Grauzone, die das erst möglich machen. Um derlei zu verhindern, müssen wir zurück zum deutschen Prinzip des ordentlichen Kaufmanns. 

“Herr Dr. Küchler, bitte benutzen Sie Ihre Firmenkreditkarte nicht”, sagte der Chefbuchhalter der Berliner LIPRO AG in einem Conference Call im Mai 2001. Der Herr Doktor Vorstandsvorsitzende des Software-Herstellers weilte gerade in China, und ich saß als angeheuerter Berater in der Berliner Zentrale. Ab diesem Moment arbeitete ich nur noch gegen Vorkasse. Ein paar Tage später war der Insolvenzantrag gestellt. 

Das Unternehmen war schon beim Börsengang am legendären neuen Markt pleite. Erst als der Wirtschaftsprüfer Arthur Andersen sich weigerte, die Bilanz zu testieren, war der Spuk vorbei. Küchler hatte ein Geschäft in die Bilanz geschrieben, bei dem die russische Tochtergesellschaft Software im zweistelligen Millionenbereich verkauft haben soll. Doch ein Kaufpreis ist nie geflossen. 

Geschickter agierte der Vorstandsvorsitzende der Porsche AG, als der sich anschickte, sukzessive Volkswagen zu kaufen. Mit jeder Tranche stieg der Preis der Aktie. Der höhere Wert steigerte das Eigenkapital und damit die Kreditfähigkeit. Mit dem aufgenommenen Geldern konnten mehr VW-Aktien gekauft werden, was wiederum den Kurs steigerte. Wäre Wiedeking nicht die Finanzmarktkrise dazwischen gekommen, die Übernahme Davids durch Goliath wäre ein Spaziergang gewesen. Die Familie Porsche/Piech hält heute mehr als 50 Prozent.

Simulierter wirtschaftlicher Erfolg

Üblerweise kam der Stratege dabei auch noch unter die Räder. Familienpatriarch Ferdinand Piech, der gleichzeitig dem VW-Aufsichtsrat vorstand, wurde Wiedeking zu mächtig. So wurde ihm mit der Freistellung gedankt. 

Diese Strategie ist hoch gefährlich. Wenn die Aktienkurse sinken, schrumpft automatisch das Eigenkapital, und das Unternehmen hat plötzlich keine Sicherheiten mehr für die aufgenommenen Kredite zu bieten. Die Insolvenz ist dann unausweichlich. 

Wirecard simulierte wirtschaftlichen Erfolg mit Luftbuchungen. Erleichtert hat das das sogenannte Fair Value Prinzip, nachdem alle Anlagen zum gegenwärtigen Wert ausgewiesen werden sollen, um den wahren Wert des Unternehmens nach außen erkennbar zu machen. Das ist im Prinzip eine gute Idee, öffnet aber den Manipulationen Tür und Tor und bringt den Wirtschaftsprüfer in die Bredouille, wo die Grauzone aufhört und die Strafbarkeit anfängt. Weil er den Prüfungsauftrag gerne behielte, drückt er oft genug ein Auge zu. 

Das Fair Value Prinzip entstammt der amerikanischen Bilanzkultur und ist Grundsatz für die US-Bilanzregeln. Und je mehr deutsche Konzerne es schick fanden, ihre Aktien an der New-Yorker Wallstreet zu notieren, desto mehr fand es Eingang in die Bilanzen deutscher Unternehmen. 

Im deutschen Handelsgesetzbuch “HGB” war dem ordentlichen Kaufmann vorgegeben, seine Vermögenswerte nach dem Niederstwertprinzip zu bilanzieren. Aktien etwa nicht zum gegenwärtigen Kurs, sondern zum Kaufpreis, mit dem sie erworben wurden. Wesentlicher Grund ist der Schutz der Gläubiger und der Geschäftspartner. Das schränkt die Kreditwürdigkeit ein und vermeidet das künstliche Aufblähen der Bilanz. 

Wirecard hätte keine Luftbuchungen vornehmen können, sondern reale Umsätze nachweisen müssen. Und Porsche hätte die VW-Aktien zum Kaufpreis bilanzieren müssen und hätte sie nicht beim selbst verursachten Anstieg aufwerten dürfen. Das Schneeballsystem wäre nicht möglich gewesen. LIPRO hätte es nicht mal an die Börse geschafft. 

Längst nicht mehr vorhandenes Eigenkapital vortäuschen

Es wird oft übersehen, dass Fair Value nicht nur die Bilanzen der Unternehmen löchrig macht wie Schweizer Käse. Es bläht auch die Bilanzen der Banken auf, die so in jeder Wirtschaftskrise von den notleidend werdenen Krediten übermannt werden und deshalb in eine Schieflage geraten, aus der sie dann nur der Staat durch das Anwerfen der virtuellen Notenpresse vermeintlich retten kann. Das Ganze erinnert fatal an “des Kaisers neue Kleider”. 

Nun versucht der vermutliche Kanzlerkandidat der Splitterpartei Deutschlands (SPD) und Bundesminister der Finanzen, Olaf Scholz, durch eine Verschärfung der Finanzmarktregeln Betrugsfällen wie Wirecard zu begegnen und seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Vermutlich kann er kein Englisch. Sonst hätte er ja die Artikel in der Financial Times lesen können, die diesen Betrug schon lange aufgedeckt hatten. Hier der Link zum Dossier der Briten. Lesen hilft. 

Ich hätte auch einige Beispiele vorzutragen, bei denen durch Dreiecksgeschäfte mit Tochtergesellschaften und Beteiligungen, Bewertungen von nicht geflossenen Kaufpreisen und Umsätze oder Scheinumsätze längst nicht mehr vorhandenes Eigenkapital vorgetäuscht wurde. Aber da die Liquidität im Zweifel immer noch dazu reicht, einen Anwalt zu beauftragen, der großzügig Aufforderungen zur Abgabe einer Unterlassungserklärung verschickt, müssen die hier unbenannt bleiben.

Sagen wir es so: Viele Bilanzen sind auf Schönwetter gebaut. Wenn – wie jetzt durch Corona – Wind aufkommt, wird das eine oder andere Kartenhaus einstürzen. Dass der Bund die Pflicht zur Insolvenz ausgesetzt hat, macht die Sache nicht besser. Denn die Unternehmen werden in der Frist nicht das notwendige Eigenkapital herbeischaffen, das sie schon im vergangenen Jahr eigentlich nicht hatten.

Gelegenheit macht Diebe. Als ich bei der Bundeswehr war, wurde hart bestraft, wer seinen Spind nicht richtig verschlossen hatte. Das verleitet zum Kameradendiebstahl. Das Fair Value Prinzip ist der offene Spind der Finanzbranche. Es verstößt gegen die Gebote der Bilanzwahrheit und der Bilanzklarheit. Deshalb ist die Rückkehr zu konservativen Grundsätzen, die die Werte vorsichtig einschätzen und möglichst nur auf realen Transaktionen beruhen, dringend. Das würde die Wirtschaft krisenfester machen. Dafür müsste Scholz nicht mal die Gesetze ändern. Das HGB gilt nach wie vor und wird einfach ignoriert. Der Ignoranz muss man nur ein Ende machen.

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Leserpost

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Walter Neumann / 29.07.2020

Volle Zustimmung. Unser gutes altes HGB, von vielen aufstrebenden Schwellenländern zum Vorbild genommen, haben wir zugunsten der Blase IFRS mit ihrem “Fair value” aufgegeben. Und die eigentlichen Macher der IFRS sind die großen vier oder fünf US-WP-Gesellschaften, die auch im Fall Wirecard versagt haben, Noch ein Punkt zu den Blasen-Bilanzen: Kauft die X-AG die Y-AG und zahlt einen Preis, der über dem Substanzwert von Y liegt, wird die Differenz bei der X-AG aktiviert (Firmenwert-Bilanzierung). Dadurch steigt automatisch das Eigenkapital bei X. Laut HANDELSBLATT-Studie von vor paar Monaten hat rund ein Drittel der deutschen DAX-Unternehmen höhere Firmenwerte aktiviert als Eigenkapital ausgewiesen ist. Das heißt, brechen diese bilanzierten Firmenwerte (eigentlich “Hoffnungswerte” ) aufgrund konjunktureller oder sonstiger Krisen (Corona lässt grüßen) drastisch ein, droht den Firmen wie X Überschuldung. Das wäre dann ein Insolvenzgrund. Die Insolvenzverwalter reiben sich schon die Hände.

Andreas Rochow / 29.07.2020

Das volkstümliche Urteil, wonach er/sie zwar im gigantischen Ausmaß versagt/betrogen, “sich aber nicht bereichert” habe, wird uns zum x-ten Mal um die Ohren gehauen werden. Der Schaden, der nicht vom Volke abgewendet wurde, wird ins Vergessen gedrängt. Hat der Splitterpartei-Kandidat in Hamburg nicht auch noch ein Millionending mit einer Privatpank an der Backe? Meine Zusammenfassung: Macht hast Du in Merkel-D, wenn Du Dir Deine Millionendinger straflos leisten kannst. Und immer wieder gern, wie UvdL. Unsere Politiker demonstrieren eine besondere Vorstellung von Recht und Moral. - Wieso wird eigentlich die Bundeskanzlerin heute nicht befragt?

Claudius Pappe / 29.07.2020

Im Gegensatz zu Wirecard hat Porsche einige Aktienbesitzer reicher gemacht !

W. Kolbe / 29.07.2020

In Merkelland wird geltendes Recht täglich mit Füßen getreten. Die Blase platzt und dann stehen Hunderttausende auf der Straße. Die vor Hypermoralin strotzenden Politikeliten werden ihre Hände in Unschuld waschen. Bei denen gilt nach wie der Spruch “jeder denkt an sich nur ich, ich denk man mich”!

Claudius Pappe / 29.07.2020

Fangen wir noch mal bei der Regierung an. Handelt gegen das Grundgesetz und gegen viele abgeschlossene Verträge und Vereinbarungen. Gibt der Lufthansa Kredite mit sehr scharfen Auflagen. Doch gestern stellt sie ohne Auflagen sicher, das zwei Dutzend Millionäre in Gelsenkirchen auch in Zukunft ihre Millionengagen bekommen. So sieht Gerechtigkeit in Deutschland aus….....

Johann-Thomas Trattner / 29.07.2020

Nach den internationalen Bilanzregeln dürfen, in manchen Fällen müssen, nur erwartete künftige Gewinne bilanziert werden. So können Geschäftserfolge in die Bücher geschrieben werden die es nur in der Phantasie - oder Planung - gibt. Das wissen aber auch die Kreditgeber, die Banken. Nachgerade aber eine Einladung zum Zocken. Vom HGB dürfte Olaf Scholz schon gehört haben; schließlich ist er Rechtsanwalt. Interessieren dürften ihn kaufmännische Grundsätze aber nicht. Schließlich ist er Sozi. Da ist der Plan alles und der Kaufmann der Totengräber der sozialistischen Träume.

S.Clemens / 29.07.2020

Hm, wenn das fair value Prinzip so anfällig für Manipulation ist und das HGB die bessere Lösung bietet, was sagt das dann über die angelsächsische?/amerikanische Bilanzkultur/Firmenkultur aus??

Bernd Weber / 29.07.2020

“Wenn die Aktienkurse sinken, schrumpft automatisch das Eigenkapital, und das Unternehmen hat plötzlich keine Sicherheiten mehr für die aufgenommenen Kredite zu bieten” Hä ? das wüsste ich gern schon genauer ? Sicherheiten für Kredite können ausschließlich Sachwerte u. Forderungen etc. sein; keine Bank würde je Aktien des Unternehmens als Sicherheiten nehmen (sonst würde es sich nicht mehr um einen Kredit sondern eine Beteiligung handeln) Wenn ein Unternehmen bspw. für 10 Mio Aktien ausgibt, erhalten die Aktionäre “Papiere”, das ausgebende Unternehmen i.d.R.  Geld.  Kursanstiege- bzw. Verluste treffen ausschließlich die Besitzer der Aktien aber nicht das bilanzielle Eigenkapital !  Kursrückgänge-/Anstiege haben zuerst nur Auswirkungen auf den sogen. “good will” . Ich lern gern dazu - also Herr Jancke informieren Sie mich !

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