Noch mal davongekommen. Weder in London noch in Glasgow ist passiert, was sich die Attentäter erhofft hatten: ein Blutbad unter unschuldigen Menschen. Das hat mit Glück zu tun, aber auch damit, dass die Menschen wachsamer, die Sicherheitsvorkehrungen schärfer geworden sind. An dieser latenten Alarmbereitschaft wird sich so bald nichts ändern. Großbritannien bleibt im Fokus des Terrors, Deutschland ebenfalls. Zwei Reflexen dürfen die bedrohten Staaten in dieser Lage nicht folgen. Der erste ist Appeasement, ist Beschwichtigung, der andere Sicherheitshysterie. Beides wäre ein Sieg für jene, die nicht siegen dürfen, weil ihnen menschliches Leben weder lieb noch teuer ist.
Der Terror wird nicht aufhören, wenn die Palästina-Frage gelöst und der letzte westliche Soldat von heiligem Boden abgezogen ist. Denn die moderne islamistische Ideologie ist kein Hilferuf der von westlichem Imperialismus unterdrückten Moslems. Sie entstand als Reaktion auf modernistische Bewegungen etwa im Osmanischen Reich unter Kemal Atatürk. Das Gefühl der Demütigung, auf das der Islamismus baut, ist grundlegend. Es ist durch westliches Wohlverhalten nicht heilbar. Ohnehin sind den Terroristen Kompromisse fremd. Wie sollten sie auch aussehen? Und es gibt keine Rechtfertigung für Bewegungen, die unterschiedslos morden, die Autos mit Benzin und Nägeln sprengen, um möglichst furchtbare Verletzungen zu verursachen.
Das Bild von der „Spirale der Gewalt“, aus der wir aussteigen müssten, ist unmenschlich und sachlich falsch. Es wischt die bedeutsamen Unterschiede zwischen Irrtum, Fahrlässigkeit, Vorsatz ebenso beiseite wie alle Motive. Der Westen kann auf Gewalt im Kampf gegen den Terror nicht verzichten. Worauf er dringend achten muss, ist, Gewalt so exakt wie irgend möglich einzusetzen. Das bedeutet im Zweifel, auf eine mächtige Waffe wie Luftunterstützung häufiger zu verzichten – die meisten zivilen Opfer der Nato und der Koalitionstruppen in Afghanistan und im Irak fordern Luftangriffe. Aber den Kampf einzustellen und sich zurückzuziehen wäre zynisch. Der Westen würde Terrorismus belohnen und ließe jene im Stich, die sich nicht zurückziehen können: Millionen Muslime, die unter Terror und der ihn ummantelnden Idee leiden.
Der zweite falsche Reflex ist, nach absoluter Sicherheit zu streben und dafür die Prinzipien einer offenen Gesellschaft aufzugeben. Wer dies will, nimmt dem Westen seine stärkste Waffe: die Freiheit. Online-Durchsuchungen oder Genabdruck-Zentralregister sind ein Irrweg. Temporäre Sicherheitsmaßnahmen in gefährdeten Bereichen wie Flughäfen sind etwas anderes. Penible Kontrollen mögen unbequem sein, gegen die Bürgerrechte verstoßen sie nicht.
Blindes Drauflosschlagen, pauschale Ausgrenzung von Muslimen, Beschwichtigung und Sicherheitshysterie, all diese Reaktionen sind angstgesteuert, verständlich – und falsch. Nach den Anschlägen von London 2005 stellten Tausende Menschen Fotos ins Internet. Fotos von sich, von ihren Kindern, wichtigen Orten, verbunden mit einem Slogan: „We are not afraid“ (Wir haben keine Angst). Dieser Satz, einfach, trotzig und gelassen, machte Mut. Denn wo er gilt, stehen Terroristen auf verlorenem Posten.
Leitartikel im Kölner Stadt-Anzeiger, 1.7.07