Herr Bergmann, facebook weiss sowieso, auf welchen Seiten Sie sich aufhalten; und zwar anhand der auf so gut wie jeder Webseite eingebundenen “like”-Buttons.
Vertreterbesuche galten und gelten, so es sie noch gibt, als aufdringlich bis unverschämt. Das ist keine Abstimmung mit den Füßen, sondern mit der Nase, die von so großen Teilen der Bevölkerung gerümpft wird, dass man das durchaus ernst nehmen kann. Aber es ist auch so klar: Penetrantes Anpreisen von Produkten, welcher Qualität auch immer, nervt. Die Werbungtreibenden und ihre Agenturen wissen, dass das größte Problem von Werbung im Digital Age ein Imageproblem, nämlich ihre umfassende und systembedingte Aufdringlichkeit ist, daher sind wir mit Viralem und allerlei anderem Gedöns beglückt worden, das auf den ersten Blick nicht wie Werbung wirkt und immer witzig, witzig, witzig sein muss. Manch einer wünscht sich denn auch zurecht die Zeiten zurück, als die zwar zum Teil schrill-bunten, aber wenigstens schweigsamen, unverrückbaren und einem nicht bis ins Wohnzimmer folgenden Plakatwände das Medium der Wahl waren, wenn es galt, größere Zielgruppen mit einer Botschaft zu durchdringen; mehr noch als TV mit seinen gewaltigen Streuverlusten. Apropos Botschaft: Die allein ist rausgeschmissenes Geld, wenn im E- oder M-Business nicht wenigstens eine Angebotsform drangepappt wird, also Bundles, Prozente oder andere direkte Vorteile. Es reicht also nicht, »Daffy’s Jeans« online bekannt zu machen, sie müssen äußerst aggressiv an den Mann gebracht werden, vor allem bei den 18–30jährigen. Die, nebenbei gesagt, eigentlich keine eigenständige Zielgruppe sind und sich vielmehr in die einzige große Zielgruppe, die es offenbar noch gibt, einreihen: die 18–45jährigen mit hohem HEK, da sitzt die Kohle locker. Es gibt keinen Grund, die 31–45jährigen auszusparen, bei Jeans schon gar nicht. Der Umsatz entscheidet dann, was »Qualitätscontent« ist, nicht der Anbieter. Für den Konsumenten bietet Facebook Atlas keine Vorteile, es sei denn, es gilt als Vorteil, wenn ich genau das angepriesen bekomme, was ich schon einmal gekauft habe oder meinem Konsum- und Online-Verhalten nach vielleicht kaufen könnte. Die ungebetene und gleichsam merkliche Klassifizierung durch Dritte bzw. ihre Automaten und Algorithmen (das also, was SpOn »ausleuchten« nennt), die jetzt schon das Suchmaschinenverhalten beeinflusst, muss man nicht als angenehm empfinden. Werbung war noch nie herzlich willkommen, heute ist sie es noch weniger, weil sie immer aktiver wird. Da sind Vertreter fast noch angenehmer. Die haben wenigstens ein Gesicht.
Facebook weiß nun also, welche Seite man besucht, wenn man gerade nicht Facebook besucht. Es gibt ein für Facebook informationsträchtiges Wechselspiel zwischen dem Verhalten des Nutzers auf Facebook und dem Verhalten des Nutzers im sonstigen Internet. Die Werbeleute durchleuchten das eigene Facebookprofil und das der Freunde und Freundesfreunde, um den Nutzer auch außerhalb Facebooks mit personalisierter Werbung zu versorgen. Ein wirtschaftlicher Fortschritt, ja, Werbung wird wertvoller. “Atlas” kann mehr für seine Werbung zahlen und sticht so die Konkurrenz aus. Der Kunde bekommt besser passende Werbung. Am Ende des Tages werden wir wohl mal wieder mehr konsumieren, das BIP wird steigen, die US-Regierung wird besser über uns bescheid wissen. Der menschliche Fortschritt? Eigentlich fand ich es immer ganz schön, auch einmal Werbung zu sehen, die mich kalt lässt.
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