Seit der verschärften Eurorettung ab Herbst 2012 hat die EZB etwa ein Drittel der Staatsanleihen im Euroraum gekauft, das sind Anleihen im Wert von mehr als 2.600 Milliarden. Die Kaufprogramme laufen auch jetzt weiter, im März kaufte die EZB Euro-Staatsanleihen für 40 Milliarden. Damit betreibt die EZB eindeutig monetäre Staatsfinanzierung, was die EU-Verträge verbieten. Dadurch haben wir in der Eurozone de facto eine Vergemeinschaftung der Staatsschulden (indirekte Euro-Bonds), denn für diese Schulden haften die Euroländern proportional zu ihrem Anteil an der EZB. Auf diese Weise haften Länder mit vergleichsweise geringer Verschuldung, aber hohem Anteil an der EZB (wie Deutschland) für Länder mit geringerem Anteil und einem verschleppten Staatsbankrott (wie Italien oder Griechenland).
Zusätzlich zu den Anleihenkaufprogrammen kommen noch EFSF, ESM und TARGET-Salden als Instrumente der Schuldenvergemeinschaftung hinzu, die Forderungen der Bundesbank im TARGET-System beliefen sich im April auf mehr als 950 Milliarden Euro. Insgesamt haftet Deutschland für mindestens 1.500 bis 2.000 Milliarden Euro der Schulden anderer EU-Staaten, und dabei ist die Haftung durch die Bankenunion nicht eingerechnet.
Diese Situation wird von den Staatschefs der meisten Euroländer getragen, da diese sich für eine Überwindung des Nationalstaats einsetzen und den Euro dazu als Vehikel nutzen wollen. Die EU-Institutionen haben diese Politik betrieben (EZB, Kommission, Rat) und getragen (EuGH). Doch die Mehrheit der Bevölkerungen der Mitgliedsländer sind gegen die Vergemeinschaftung der Schulden. In den Südländern, weil sie befürchten, durch Verschuldungsverhältnisse herbe Einschränkungen ihrer Souveränität hinnehmen zu müssen wie Griechenland. In den Nordländern, weil ihnen klar ist, dass das Geld niemals zurückgezahlt werden wird: Volkswirtschaftlich wäre das nur möglich, wenn die Schuldnerländer Exportüberschüsse erzielen würden, was auszuschließen ist.
Doch bisher hat es trotz politischen Widerstands durch Opposition und Verfassungsklagen keine Veränderung des Schuldenvergemeinschaftungsprogramme der EZB gegeben – die Verfassungsrichter hatten diese beim Urteil zur Bankenunion im Sommer 2019 sogar gestärkt. Doch nun deutet sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dieser Woche erstmals eine Änderung an. Zwar haben die Richter noch nicht die unbestreitbare ökonomische Wahrheit festgestellt, dass die Käufe der monetären Staatsfinanzierung dienen, doch haben sie ein Zeichen gegen die Schuldenvergemeinschaftung gesetzt. Sie haben nämlich geurteilt, dass die EZB mit den Anleihenkäufen ihr Mandat verletzt hat. Und sie haben der Bundesbank untersagt, solche Anleihenkäufe im Auftrag der EZB in Zukunft vorzunehmen, wenn diese die Käufe nicht als verhältnismäßig darstellen kann. Sofort betonte unser Finanzminister, der Postnationalist Olaf Scholz, dass damit die Grundlage gegeben sei, die Schuldenvergemeinschaftung weiterzuführen, da die EZB die Verhältnismäßigkeit jederzeit begründen könne. Das stimmt sicherlich, und die illegalen Käufe werden daher noch weitergehen. Was ist dann aber die Bedeutung des Urteils?
Mit seinem Urteil hat das BVerfG erstmals einem Urteil des EuGH widersprochen, es de facto aufgehoben. Dieser hatte die Anleihenkäufe 2018 als angemessen angesehen. Aus Sicht des EuGH ist es nicht möglich, dass das Verfassungsgericht eines Nationalstaats ihm im Bereich des EU-Rechts widerspricht, es hat aus seiner Sicht immer das letzte juristische Wort. Dem hat das BVerfG zwar mehrmals theoretisch widersprochen, beispielsweise im Maastricht-Urteil von 1993 und im Lissabon-Urteil von 2009 (Ewigkeitsklausel Art. 79 III GG) – doch niemals in der Praxis ein Urteil des EuGH aufgehoben. Dies ist nun zum ersten Mal geschehen.
Wie konnte es dazu kommen? Verfassungsrichter sind politische Amtsträger, die versuchen müssen, das herrschende politische Ethos und die kollektive Willensbildung in ihren Urteilen abzubilden. Es gibt kein absolutes Recht, sondern das Recht muss immer neu anhand des herrschenden Ethos interpretiert werden: Recht ist geronnener politischer Wille, und Verfassungsrecht verkörpert die herrschende Auffassung von Staatlichkeit. In den letzten Jahrzehnten wurde unsere Verfassung mehrfach geändert, um den Willen zu bekunden, Souveränität vom Nationalstaat zur EU zu verlagern, beispielsweise 1992 mit Art. 23 zur Art der Mitgliedschaft in der EU. Entsprechend urteilte das BVerfG 2009 im Lissabon-Urteil, dass die deutsche Verfassung auf die europäische Integration ausgerichtet sei.
Dass das BVerfG nun der nationalen fiskalischen Souveränität den Vorrang vor der Integration gegeben hat, ist sehr bemerkenswert. Denn damit hat es zum Ausdruck gebracht, dass es Grenzen der Aufhebung nationaler Souveränität mit Hilfe zwischenstaatlicher Verträge gibt – denn nichts anderes sind die EU und ihre Institutionen: Eine Ansammlung internationaler Vertragskonstrukte, die anders als Nationalstaatsverfassungen jederzeit aufgekündigt werden können – was die Briten gerade erst bewiesen haben. Da es keine Europäische Verfassung gibt, kann EU-Recht auch nicht wirklich über nationalem Recht stehen, denn es gibt nur einen nationalen, keinen europäischen Souverän. Das haben die Richter erstmals praktisch anerkannt.
Sinn für politische Strömungen
Warum? Erfolgreiche politische Amtsträger – und das sind Menschen, die zum Verfassungsrichter gemacht werden, zweifelsohne – haben einen sehr guten Sinn für politische Strömungen, für das, was gerade politisch möglich und gewollt ist. Dieses Urteil bedeutet, dass die Richter eine Veränderung der politischen Stimmung wahrnehmen, und zwar jenseits der Parteigrenzen. In Gesprächen, die nicht an die Öffentlichkeit dringen, bekommen sie mit, dass nicht nur Außenseiter wie Gauweiler, Lucke und Gauland sich gegen die Schuldenvergemeinschaftung wenden, sondern dass sich dagegen eine allgemeine Stimmung aufbaut. Dies geschieht, bevor so etwas in der Zeitung steht oder sich Mehrheiten bei den Wahlen ändern. Es ist einfach ein Wandel des politischen Klimas. Beispielsweise änderte sich in den ersten beiden Legislaturperioden Helmut Kohls das politische Klima in Umweltfragen stark, auch wenn die Grünen im Bund noch lange nicht an die Macht kamen; und so änderten sich Gerichtsurteile und Gesetzgebung ganz ohne Machtwechsel – Umweltpolitik war einfach “in” und wurde langsam eingeführt.
Wir müssen damit rechnen, dass nun Schritt für Schritt die bisherige postnationale Politik, die längst zu einem rechtswidrigen Zustand der “taxation without representation” geführt hat, überdacht und neu bewertet wird. Allerdings gibt es einen sehr gewichtigen Unterschied zur langsamen Einführung von Umweltpolitik in den 1980er Jahren: Die Schuldenvergemeinschaftung könnte kurzfristig zu einem großen Problem werden, wenn nämlich die beginnende schwere Wirtschaftskrise das Währungssystem erschüttert. Dann könnte uns eine Rechnung in Form von massiven Ausfällen der Staatskredite, die unsere Regierung über die Bundesbank und die EZB seit 2009 in Billionenhöhe den anderen Euroländern gegeben haben, blühen.
Dabei sprechen wir von einem Vielfachen des Bundeshaushalts. Die deutsche Gesamtstaatsverschuldung könnte auf einen Schlag um 50 bis 100 Prozent steigen. Wir Bürger müssten dann plötzlich ohne jegliche Schuld haften und bei einem scheiternden Euro den größten Politikfehler seit dem zweiten Weltkrieg ausbaden. Ob das die EU übersteht und wie die Massen politisch reagieren, wenn der Wohlstand und Renten einfach verschwinden, obwohl die große Mehrheit der Deutschen stets hart gearbeitet hat und sparsam war, ist nicht abzusehen. Bernd Lucke hat einst die AfD als Anti-Euro-Partei gegründet, damit es nicht zu so einem Kollaps kommt, wenn der Euro chaotisch zerbricht. Denn er fürchtete die politischen Konsequenzen. Hoffentlich bekommt er nicht recht.