Wer herrschenden Dogmen widerspricht, gerät schnell in Extremismus-Verdacht. Aber sind es nicht oft selbst Extremisten, die die anderen verdächtigen?
Unter Extremismusverdacht gerät man bei diesen Leuten bereits, wenn man die Zuständigkeit deutscher Steuerzahler für peruanische Fahrradwege bestreitet. Umso indignierter reagieren ihre Vertreter und Propagandisten, wenn man, wie Hubert Aiwanger, den Spieß umdreht und ihren eigenen Repräsentanten, den Grünen, Extremismus unterstellt. Ein Blick auf den Kern extremistischen Denkens zeigt aber: Aiwanger hat recht.
Er hat wieder einen rausgehauen. In einer Talkshow sagte Hubert Aiwanger: „Wenn ich sehe, dass ich die Grünen einbremsen muss oder andere Extremisten, die massiv irgendwo auftreten, Islamisten, Rechtsradikale oder Linksextremisten…“. Die Grünen in eine Reihe mit Islamisten und Rechtsradikalen zu stellen, geht natürlich gar nicht. Der Aufschrei aus dem Lager der Wohlmeinenden folgte prompt und in ermüdender Vorhersehbarkeit.
Florian von Brunn, SPD-Vorsitzender in Bayern und Inkarnation des politischen Scheiterns, verdiente sich mit den passenden Floskeln („Hubert Aiwanger gießt noch Öl ins Feuer und heizt die Situation in unverantwortlicher Weise weiter an“) ein wenig mediale Aufmerksamkeit und der Bayerische Rundfunk ordnete ein: „In den vergangenen Tagen hatten mehrere Angriffe auf Politiker im Wahlkampf zur Europawahl bundesweit für Entsetzen gesorgt“. Die Diffamierungsroutine funktioniert, die Rädchen greifen ineinander, wie man das von der linksgrünen Medienmaschinerie gewohnt ist. Und wieder spielen alle das Spiel mit.
Friedrich Merz und die demokratische Mitte
Bei der Union verwahrt man sich gegen Verbalattacken auf die Grünen und warnt vor unangebrachten Vergleichen. Von Söders Angriff auf Ministerin Lemke, die er mit Margot Honecker verglichen hatte und deren Ignoranz gerade für Verstimmung in Afrika sorgt, distanziert man sich pflichtschuldig. Merz macht seinen bewährten Bückling und erklärt: „Die Grünen gehören zur breiten demokratischen Mitte unseres Landes, so wie die Sozialdemokraten, die FDP und wir“.
Zur demokratischen Mitte gehört also auch die Verbrüderung mit Antifa, Klimaextremisten und Gewalttätern. Verfechter einer autoritären Planwirtschaft wie Ulrike Hermann sind dort ebenso zu finden wie Ex-K-Gruppler und Altmaoisten. Winfried Kretschmann durfte während der Corona-Krise von einem „Zwangsregime“ fantasieren, Göring-Eckardt träumt von einem ökosozialistischen „Wohlstand des Weniger“. Bei Habeck klingt das so: „Die Frage ist eigentlich nur gewesen, gelingt es, im Wirtschaftssystem wie bisher mit leichten Änderungen die Umkehr zu schaffen, oder müssen wir das System komplett ändern. Eine radikalere Lösung wäre meine Antwort.“
Sandra Detzer, bis 2021 grüne Landesvorsitzende in Baden-Württemberg, bekannte: „Wo wir Grünen an die Schalthebel der Macht kommen, werden wir nicht mehr verhandeln“. Noch deutlicher wurde ein Vertreter der Grünen Jugend: „Ich bin dafür, dass der nächste Bundesparteitag der Jungen Union im Gulag stattfindet aber mich fragt ja keine*r [sic!]“. Ein weiterer grüner Musterdemokrat, Jürgen Kasek vom sächsischen Landesvorstand, jubelte öffentlich über den Corona-Tod eines AfD-Politikers: „Corona hat mehr gegen Nazis getan als die Sicherheitsbehörden“. Eine typische Vertreterin von Merz‘ demokratischer Mitte ist auch Claudia Roth, die zur Parole „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ demonstrieren geht und sich prächtig mit Antisemiten versteht.
Weltrettung ist doch eine gute Sache
Was ist los mit Merz? Was ist los mit einem ehemals bürgerlichen Lager, das diese Leute für normale Partner und gute Demokraten hält? Machen sie sich einfach nur in die Hosen vor linksgrünen Journalisten, die eine Wagenburg um die Grünen gebildet hat? Drücken sie angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der Koalitionsoptionen bewusst das linke Auge zu? Feigheit und Opportunismus sind bei der vermerkelten Union und der lauwarmen Lindner-FDP immer in Rechnung zu stellen. Aber offenbar fehlt es auch an den intellektuellen Mitteln, um die extremistischen Züge der Grünen hinter der fröhlich-modernen, engagiert-progressiven Fassade zu erkennen.
Die sind doch nett, die können doch kein Wässerchen trüben. Klar haben sie oft keine Ahnung noch irgendwelche Qualifikationen. Baerbock macht uns international zum Gespött, Habeck redet Unsinn und ruiniert unsere Wirtschaft. Aber Extremisten? Mag ja sein, dass sie daneben liegen, die Fakten ignorieren, Wohlstand vernichten und Porzellan zerschlagen, aber immerhin stimmt die Absicht. Weltrettung ist doch eine gute Sache, und natürlich will man der großen ökologischen Transformation nicht im Wege stehen. Wenn Annalena einem Indigenen mit großer Geste und verklärtem Blick einen Stoffrest oder einen morschen Holzbrocken überreicht, dann verstehen wir, dass damit ein kleines Stück unserer historischen Schuld abgegolten wird. Ein paar nette Bilder gibt es obendrein.
Wale, Eisbären und die von der „Klimakrise“ bedrängten Pazifikbewohner brauchen unsere Unterstützung, wer mag das bestreiten. Und auch wenn man das Geld, das für all den ideologischen Quatsch hinausgeworfen wird, eigentlich an anderer Stelle dringender bräuchte, irgendwo gönnt man den Peruanern ihre Fahrradwege. Die grüne Symbolik und die (nicht ganz billige) Inszenierung sind zu schön, wer möchte da schon ein Spielverderber sein. Da nimmt man es im Zweifelsfall nicht so genau, da sieht man über linksextreme Exzesse gerne hinweg.
Extremisten sind immer die anderen
Woran erkennt man Extremisten, vor allem dann, wenn sie sich so gut tarnen wie die Grünen? Wo liegt der Unterschied zwischen Zuspitzung, Übertreibung und Polemik einerseits sowie Extremismus andererseits? Eigentlich sollte der Verfassungsschutz diese Fragen beantworten können und trennscharfe Kriterien liefern, aber das ist nicht der Fall, wie Mathias Brodkorb vom Cicero kürzlich ausgeführt hat. Stattdessen wird der Extremismusbegriff auf den politisch erwünschten „Kampf gegen Rechts“ zugeschnitten und entsprechend einseitig bzw. unscharf definiert. Wenn man aber schon definitorisch die Begriffe „rechts“ und „extremistisch“ gleichsetzt, dann überrascht es nicht, dass Akteure rechts der Mitte leicht unter Extremismusverdacht geraten, während diejenigen im linken Lager a priori davon ausgenommen bleiben. „Intellektuell erschütternd“ nennt Brodkorb die Arbeitsweise von Haldenwangs Behörde.
Kriechertum, Eitelkeit und Ahnungslosigkeit verbinden sich in diesem Fall zu einer nicht nur höchst abstoßenden, sondern auch bedrohlichen Mischung, denn immerhin handelt es sich um einen Geheimdienst, der seine Rolle zunehmend extensiv und politisch einseitig interpretiert. Ein Stasivergleich drängt sich auf, verbietet sich aber, da man in der neuen linksgrünen Welt zwar alles und jeden einen Nazi nennen darf, DDR-Vergleiche jedoch tabu sind. War die DDR demnach so schlimm, dass – anders als im Fall des NS-Regimes – jeder Vergleich eine inakzeptable Verharmlosung darstellt? Warum sitzen die Nachfolger der SED und die Wiedergänger dieses Regimes dann in den Parlamenten und gelten als Teil der „demokratischen Mitte“? Wenn die Begriffe aus dem Lot geraten, dann geraten auch weitere Dinge ins Rutschen. Mit der Verdrehung des Extremismusbegriffs werden aus Mauermördern Demokraten, und aus Konservativen werden Verfassungsfeinde.
Was aber bedeutet Extremismus jenseits propagandistischer Instrumentalisierungen? Eine Antwort auf diese Frage findet man, wenn man sich mit den ideologischen Verirrungen des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Zwei Elemente kennzeichnen das extremistische Denken: Reinheit und Apokalypse. Oder in mathematischen Begriffen: die Null und die Unendlichkeit. Darauf weist Paul Watzlawick in einem Aufsatz aus dem Jahr 2004 mit dem Titel „Bausteine ideologischer ‚Wirklichkeiten‘“ hin. Er beschreibt darin alle Arten von Extremismen, die eines gemeinsam haben, nämlich das Streben nach absoluter Reinheit und Letztgültigkeit. Die daraus folgende Logik hat Arthur Koestler, den Watzlawick zitiert, in seinem berühmten Roman „Sonnenfinsternis“ ausbuchstabiert. Er zeigt, wie der Einschluss der Null und der Unendlichkeit in die historische Gleichung des Marxismus in den stalinistischen Terror geführt hat. „Aus Prämissen von unanfechtbarer Logik hatte sich ein Resultat von vollendeter Absurdität ergeben“, stellt der Protagonist Rubaschow am Ende des Romans fest, kurz bevor er erschossen wird.
Der Reinheitswahn macht keinen Unterschied
Jede Zweck-Mittel-Relation wird durch die Null und die Unendlichkeit ausgehebelt, alle Maßstäbe werden obsolet. Verurteilt wurde der ehemalige Volkskommissar Rubaschow für Taten, die er nicht begangen hatte, die er aber aufgrund schädlichen Denkens hätte begehen können. Seiner eigenen Logik folgend, hatte er sich deshalb aus freien Stücken schuldig bekannt. In sein Tagebuch schrieb er:
Wir wissen, dass die Geschichte sich um Moral nicht kümmert und Verbrechen ungestraft lässt, aber jeder Irrtum sich auswirkt und rächt bis ins siebente Glied. Daher konzentrieren wir unsere ganze Kraft darauf, den Irrtum im Keime auszurotten. Niemals in der Geschichte war so viel Macht über die Zukunft der Menschen in so wenigen Köpfen vereint wie in unserer Revolution. Jede falsche Idee, nach der wir handelten, wurde zum Verbrechen an kommenden Generationen. Daher mussten wir falsche Ideen strafen, wie die andern Verbrechen strafen: mit dem Tod. Man hat uns für Besessene gehalten, weil wir konsequent waren, zu Ende dachten und zu Ende handelten. Man hat uns mit der Inquisition verglichen, weil wir, wie diese, uns stets des ganzen Gewichtes der Verantwortung für das überindividuelle Jenseits bewusst waren. Wir gleichen den großen Inquisitoren, da wir den Keim des Übels nicht nur in den Taten, sondern bis in die Gedanken der Menschen hinein verfolgten.
Der Reinheitswahn macht keinen Unterschied zwischen Gedanken und Taten. Wenn es um alles geht, wird die allerkleinste Abweichung zum Hochverrat. Kosten, Skrupel und menschliche Regungen zählen nichts. Über die Linksterroristin Gudrun Ensslin, eine typische Vertreterin des extremistischen Denkens, schreibt Watzlawick (unter Berufung auf Günter Grass): „…sie war idealistisch, mit einem angeborenen Ekel vor jedem Kompromiss. Sie sehnte sich nach dem Absoluten, der vollkommenen Lösung.“
Extremisten streben nach dem Absoluten
Ekel – bei vielen Extremisten findet man dieses Grundgefühl. Ist der Zwangsgedanke von der drohenden Kontaminierung, dem möglichen Kontakt mit dem Unreinen, einmal im Kopf, dann lässt er sich nicht mehr vertreiben. Wenn man bedenkt, dass beim Händewaschen, sagen wir, 90 Prozent der Bakterien beseitigt werden, dann ist das für normale Menschen ausreichend und zufriedenstellend. Für zwanghaft veranlagte Personen hingegen ist die Vorstellung, dass noch 10 Prozent oder hunderttausende, wenn nicht Millionen von Bakterien zurückbleiben, unerträglich. Mit einem nochmaligen Waschen lassen sich weitere 90 Prozent entfernen, aber noch immer bleibt ein Prozent übrig, und so weiter. Die Null wird nie erreicht, das Reinheitsbedürfnis wird nie befriedigt. Es findet sich immer ein Rest an Verunreinigung, der beseitigt werden muss, auch wenn er mit dem Auge längst nicht mehr zu erkennen ist.
Was es konkret bedeutet, wenn solche Zwangscharaktere ihre Vorstellungen in Politik übersetzen, zeigen die Exzesse des Jakobinismus oder die stalinistischen Säuberungen. Im Iran werden Frauen verhaftet, misshandelt und manchmal ermordet, weil eine Haarsträhne unter ihrem Kopftuch zu sehen ist. So sieht die ideologische Reinheit in der Praxis aus. In der Islamischen Revolution – zu deren Jahrestag Bundespräsident Steinmeier Glückwunschtelegramme verschickt – hatte Khomeini einen Akt der Reinigung von „moralischer Verderbtheit“ und „imperialistischen Einflüssen“ gesehen. Unnötig zu sagen, dass dazu auch ein fanatischer Antisemitismus gehörte. Israel steht für das Unreine, das Westlich-Dekadente in der unmittelbaren geographischen Nachbarschaft. Es ist ein permanenter Stachel im Fleisch nicht nur der islamistischen Fanatiker, sondern auch der postkolonialistischen Woke-Extremisten in Europa und in den USA. Deren Wahn hat über die Universitäten und die Linksmedien bereits erhebliche Teile der Öffentlichkeit infiziert, was die abnehmende Immunabwehr gegenüber den typischen antisemitischen Erscheinungsformen extremistischen Denkens erklärt.
Der Reinheitswahn beschränkt sich nicht auf die Gegenwart, sondern er führt auch regelmäßig zur Tilgung historischer Zeugnisse. Die Taliban zerstörten die Buddha-Statuen von Bamiyan, die evangelikalen Fanatiker in den USA verbannen Bücher aus Bibliotheken, die Woke-Extremisten stürzen Statuen angeblicher Kolonialisten, und Claudia Roth besteht auf der Entfernung eines Bibelzitats vom Berliner Stadtschloss. Wie kommt man auf eine solche Idee? Unter all den Aufgaben, mit denen man sich als Kulturstaatsministerin befassen könnte, sucht sich Roth ausgerechnet einen Bibelspruch hoch oben an der Kuppel des Stadtschlosses aus. Dafür gibt es keine rationalen Gründe. Erklärbar ist das nur vor dem Hintergrund eines extremistischen Reinheitswahns. Hinweise auf die christliche und nationale Vergangenheit des Landes haben keinen Platz in der ideologisch reinen Welt der Grünen. Auch das „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen des östlichen Europa“ ließ Roth umbenennen, um den Bezug zur deutschen Kultur auszulöschen. Historische Reinheit – dieses Motiv steckt offensichtlich auch hinter Baerbocks Inszenierungen mit Indigenen.
Im Klimaextremismus verschmelzen das Yin und das Yang
Alle Extremisten streben nach dem Absoluten. Sie teilen die Welt in rein und unrein, halal und haram. Halal ist bei den Grünen vegan und klimaneutral, haram ist alles andere. Dass Landwirtschaftsminister Özdemir den Deutschen das Fleischessen austreiben und überhaupt die Ernährungsweise umkrempeln will, ist kein Zufall, so etwas findet man häufig bei politischen und religiösen Fundamentalisten. Es sind vor allem die Alltagsgewohnheiten, die Selbstverständlichkeiten des Lebens, auf die sie es abgesehen haben. Ihr totalitärer Anspruch ist es, das Leben der Menschen möglichst vollständig zu durchdringen.
Neben der Ernährung ist deshalb vor allem die Sprache Gegenstand ihres Säuberungsdrangs. Aus Büchern, sofern man diese nicht gleich verbietet, werden kontaminierte Wörter entfernt. In den Bildungsinstitutionen wird die reine Lehre zum Leitbild erhoben. Sprachdiktate und -tabus sorgen dafür, dass eine neue, ideologisch makellose Generation heranwächst. Muslimische Fundamentalisten verbannen Musik, Schachspiel und Harry Potter aus den Schulen. In manchen reaktionären Gliedstaaten der USA gelten sogenannte „don’t say gay“-Regeln. Und in deutschen Kindergärten sind neuerdings Weihnachtsbäume haram, und für die Kinder gilt „don’t say mother“.
Während der Corona-Krise waren die Reinheitsfanatiker in ihrem Element. Abstandsregeln, Maskenpflicht, Ausgangssperren – das kam der grünen Gesellschaftsvision schon ziemlich nahe. Dass einige auf die Idee kamen, den Ausnahmezustand zu perpetuieren und nahtlos in einen „Klima-Lockdown“ übergehen zu lassen, war folgerichtig, denn das Prinzip ist dasselbe: Erlösung durch Reinheit. Das Klimathema liefert beides, Reinheit und Apokalypse, die Dreh- und Angelpunkte des Extremismus. Die Erzählung vom Klimakollaps hat alles, was man sich als extremistischer Zwangscharakter nur wünschen kann: biblische Plagen in Form von Dürren und Fluten, eine Apokalypse von globaler Dimension und den Imperativ der Reinheit von teuflischem CO2 in allen Lebensbereichen. Hier haben wir sie, die Null und die Unendlichkeit, in perfekter Harmonie. Im Klimaextremismus verschmelzen die Reinheit und die Apokalypse, das Yin und das Yang des ideologischen Wahns.
Apokalypse war Mainstream
Bisher bildete die Kernenergie den Kristallisationspunkt des linksgrünen Fanatismus. Das Schreckgespenst des Atomtods beruhte auf der Erwartung eines Supergau, der in den Angstdelirien der Anti-AKW-Aktivisten zu einem apokalyptischen Untergangsszenario ausgebaut wurde. Deshalb erhielt die Vorstellung vom „Restrisiko“ eine so überragende Bedeutung. Egal welche Sicherheitsvorkehrungen auch getroffen wurden, ein „Rest“ an Risiko blieb übrig, wie bei den Bakterien auf der Hand. Und da dieses Risiko die Möglichkeit einer atomaren Apokalypse bedeutete, war jede technische Lösung des Problems ausgeschlossen. Nur der vollständige Ausstieg versprach Erlösung.
Politische und religiöse Eschatologien brauchen die Apokalypse, sie ist ihr Fixstern. Evangelikale Christen in den USA glauben an das bevorstehende Erscheinen des Antichrist und an das damit einhergehende Ende der Welt. Hinweise auf den Antichrist sehen sie überall, nicht wenige glaubten, ihn in Barack Obama zu erkennen. Alles läuft in dieser Vorstellung auf einen großen, apokalyptischen Endkampf zu, die Schlacht von Armageddon. Symptome des moralischen Verfalls, Naturkatastrophen und überhaupt die Dekadenz der Welt deuten sie als Vorzeichen des nahenden Weltendes.
Wer diese bizarren Geschichten für ein Randphänomen hält, täuscht sich. In den USA glaubt mehr als ein Drittel der Bevölkerung, dass das Ende der Zeiten gekommen sei. Kollektive Wahnvorstellungen können erstaunliche Verbreitung finden. In Deutschland waren die Dystopien von Gudrun Pausewang Pflichtlektüre in den Schulen, um die Atomhysterie möglichst früh und umfassend in den Köpfen zu verankern. Apokalypse war Mainstream.
Nur die radikale Wende kann uns retten
Die Parallelen zwischen religiösen Eschatologien und dem Klimawahn sind verblüffend. So, wie evangelikale Fanatiker ihre Untergangsvisionen selektiv aus biblischen und historischen Versatzstücken zusammenbauen, bedienen sich die Klima-Apokalyptiker selektiv der extremsten Modellrechnungen und Wetterdaten, um die Vorstellung vom nahenden Verderben zu begründen. Die Zeit drängt, die Kipppunkte nahen, die Vorzeichen des Unheils sind bereits überall zu erkennen. Starkregen, Sturzfluten, Hochwasser, Stürme, Waldbrände, Schneekatastrophen, Lawinen und Steinschläge, Allergene, Krankheitserreger – all das deuten die Grünen als Anzeichen und Folgen der fortschreitenden „Klimaüberhitzung“.
„Wir rasen auf eine Wand zu, und der Crash könnte letztlich das Ende unserer Zivilisation herbeiführen“, mahnt der Untergangsprediger Hans-Joachim Schellnhuber. Das Prinzip ist dasselbe wie bereits bei der Umweltbewegung und der Anti-AKW-Bewegung: Das Unheil kommt näher, für sorgfältiges Abwägen und langes Debattieren ist keine Zeit, schon gar nicht für faule Kompromisse. Die drohende Katastrophe duldet keinen Verzug. Grundrechte, demokratische Verfahren, materielle Zwänge – all das schrumpft zur Bedeutungslosigkeit.
Nur die radikale Wende kann uns noch retten, mit dem Unreinen kann es keine Koexistenz geben. Ölheizungen, Verbrennungsmotoren, Kohlekraftwerke müssen weg, am besten auch noch Gas, Holzöfen, Fleisch und Flugzeuge. Immer weiter, dem klimaneutralen Paradies entgegen. Rückschläge auf diesem Weg sind lediglich Anlass, die Anstrengungen zu verdoppeln. Das fossile Zeitalter muss überwunden werden, dafür ist kein Preis zu hoch. Vorwärts ins Licht.
Totale Reinheit bedeutet totale Macht
Der Anspruch auf absolute Reinheit lässt sich naturgemäß nicht einlösen, was zu den aus allen religiösen und ideologischen Wahnsystemen bekannten Tricks und Heucheleien führt. Was für die katholische Kirche der Ablasshandel war und bei Muslimen die Kurzheirat am Eingang eines Bordells, ist für die Grünen die Klimakompensation für ihre Fernflüge, wohlgemerkt zu einem Preis, der weit unter den Kosten liegt, die man dem Fußvolk für seine Klimasünden auferlegen möchte.
Für die Kaste der Erleuchteten gelten andere Regeln, auch das war immer schon so. Auf das Ergebnis kommt es aber ohnehin nicht an. In Bayern sind Kernkraftwerke tödliches Teufelszeug, ein paar Kilometer weiter jenseits der tschechischen Grenze lassen sie sich mühelos ignorieren. Dass der Atomausstieg dem Klima schadet, quittiert man bei den Grünen mit einem Achselzucken.
Ob sich das Windrad dreht oder nicht, egal. Und ob die von der deutschen Regierung finanzierten Radwege in Peru einen zählbaren Klimaeffekt haben bzw. ob sie überhaupt gebaut werden, interessiert sie im Grunde auch nicht. Wer Windräder, Fahrradwege oder Elektroautos als Mittel zu irgendeinem Zweck betrachtet, versteht die Grünen grundlegend falsch. Was zählt, ist das Bekenntnis, auf der richtigen Seite zu stehen und die symbolische Vergewisserung, der eingebildeten Reinheit ein Stück näher gekommen zu sein. Ein Windrad ist für Grüne in erster Linie ein Totem.
Extremismus bedeutet totale Selbstermächtigung
Letztlich aber dient die Fixierung auf die Null und die Unendlichkeit vor allem einem Zweck: Macht. Die totale Katastrophe ist nur durch totale Transformation – sprich: Säuberung – abzuwenden, was nichts anderes bedeutet als: totale Macht. Kein Gramm CO2 mehr, überwacht von einem totalen Staat, der die Gläubigen belohnt und die Unreinen bestraft. Ein permanenter Ausnahmezustand im Zeichen der Reinheit und der Apokalypse, der alle Lebensbereiche durchdringt, denn schließlich entsteht CO2 bei jedem einzelnen Atemzug. Darum geht es in letzter Konsequenz, immer. Die Null und die Unendlichkeit sind der Hebel, mit dem alle Extremisten zu allen Zeiten nach der totalen Macht gegriffen und bestehende Ordnungen zerstört haben.
Extremismus bedeutet totale Selbstermächtigung. „Solve the fucking problems“, rief Habeck in grenzenloser Anmaßung den Studenten der Columbia University in New York zu. Man möge sich ein Beispiel an Deutschland nehmen, das er, Habeck der Erleuchtete, auf Kurs gebracht habe, allen Widerständen und Rückschlägen zum Trotz. Das Heizungsgesetz war ein solcher Rückschlag, wie er kürzlich bekannte. Man habe damit getestet, wie viele Zumutungen die Leute schlucken würden, aber leider waren sie für die geplante Vermögensvernichtung noch nicht bereit. Man fühlt sich an den stalinistischen Inquisitor Gletkin aus Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ erinnert, der über die sowjetische Bauernschaft sagt: „Sie hat noch nicht gelernt, den Sinn der Opfer zu verstehen, die wir ihr auferlegen.“ Immerhin, anders als Gletkin, gibt sich Habeck selbstkritisch: „Ich bin zu weit gegangen“. Was er aber eigentlich sagen will: Wir kriegen euch schon noch dorthin, wo wir euch haben wollen.
So klingt die toxische Mischung aus Verblendung und Größenwahn, wie man sie bei Extremisten regelmäßig antrifft und wie man sie auch bei den Kalifat-Freunden auf der Islamistendemo in Hamburg beobachten konnte. Wie kommt ein Mensch, dessen Leistungsausweis in einer belanglosen Dissertation im Fach Literaturwissenschaft (Zahl der Zitationen seit 2001 laut Google Scholar: 5) und einer Reihe mäßig erfolgreicher Kinderbücher besteht, auf die Idee, solche Sätze auszusprechen? Man kann daraus nur einen Schluss ziehen: Die Dämme der Vernunft, die die Realität vor dem Einbruch des Wahns schützen, sind gebrochen.
Der Zweck heiligt die Mittel
Von der Wirklichkeit lassen sich Extremisten niemals in die Schranken weisen. Gegen die zukünftige Reinheit hat die gegenwärtige Unvollkommenheit keine Chance. Wer sich auf die Null und die Unendlichkeit beruft, ist unangreifbar und gegen Tatsachen immun. Wer widerspricht, steht für das Unreine. Widerspruch bedeutet, sich auf die Seite der Konterrevolution, des Klassenfeindes, der Klimaleugner, der Ungläubigen, der Schwurbler, der „Rechten“, der Volksverräter oder des Antichrist zu stellen. Kritik an entwicklungspolitischen Gagaprojekten ist laut der zuständigen Ministerin „rechtsradikal“, und wer das Dogma der Klimaneutralität infrage stellt, hat sich laut Habeck aus dem demokratischen Spektrum verabschiedet.
Im Namen der Reinheit beanspruchen Extremisten eine höhere Moral, die an die Stelle von Humanität und ökonomischer Rationalität tritt. Der Einsatz für die Gute Sache dient der Selbstermächtigung zum Verstoß gegen bestehende Regeln und Normen, ja, er zwingt dazu. Der Untersuchungsrichter Iwanoff aus Koestlers Roman nennt das die „Vivisektions-Moral“, die allein die Revolution zum Erfolg führen könne: Es gibt nur zwei, polar entgegengesetzte, Konzeptionen der menschlichen Ethik. Die eine ist christlich-humanistisch, erklärt das Individuum für sakrosankt und behauptet, dass man mit Blut keine Arithmetik treiben dürfe. Die andere beruht auf dem Fundamentalsatz, dass das Kollektivziel die Mittel heiligt, und erlaubt nicht nur, sondern fordert, dass man das Individuum auf jede Weise, als Versuchskaninchen und Opferlamm, der Gesamtheit unterordne. Die erste Konzeption können wir die Anti-Vivisektions-Moral nennen, die zweite die Vivisektions-Moral.
Der Kern allen extremistischen Denkens besteht in der Maxime, dass der Zweck die Mittel heiligt. Und der Zweck, den die Extremisten selbst definieren, ist ein Zustand absoluter Reinheit in einem zukünftigen Paradies, dem die Gegenwart bedenkenlos geopfert wird. Für Rubaschow stand am Ende des Weges nicht das Paradies, sondern der Henker. Erst in diesem Moment merkte er, dass mit der Gleichung, die der revolutionären Logik zugrunde lag, womöglich etwas nicht stimmte – zu spät. „Ihn, Nicolai Salmanowitsch Rubaschow, hatte man zum Sterben auf keinen Berg geführt, und wohin sein Auge blickte, es sah nichts als die Wüste und die Finsternis der Nacht. – Ein dumpfer Schlag traf ihn am Hinterkopf.“
Roger Schelske ist Politikwissenschaftler.
Die in diesem Text enthaltenen Links zu Bezugsquellen für Bücher sind teilweise sogenannte Affiliate-Links. Das bedeutet: Sollten Sie über einen solchen Link ein Buch kaufen, erhält Achgut.com eine kleine Provision. Damit unterstützen Sie Achgut.com. Unsere Berichterstattung beeinflusst das nicht.