Zu den entzückendsten Details der Flüchtlingskrise gehört vor allem der Eiertanz rund um die Türkei. Blickt man in die grün-dunkelrote Ecke, so erwischt man dort die geballte Empörung beim Feiern fröhlicher Umstände. Völlig zu Recht wird das autokratische Gebaren Erdogans kritisiert, sein Umgang mit Journalisten, Kurden und Oppositionellen im Allgemeinen. Was sicherlich noch etwas authentischer wirkte, wenn da nicht der Umstand wäre, dass die Erdogan-Kritikerin Claudia Roth schon mal unterwürfig mit Kopftuch im Iran gesichtet wurde und ihre Kollegen von weiter links sich hin und wieder auch für die Menschenrechte von Hamas-Mitgliedern einsetzen.
Da beruhigt es, in Berlin auf Politiker zu stoßen, die aus ihrem Herzen keine Diktatorengrube machen. Innenminister Thomas de Maizière etwa ließ diese Woche mit Blick auf jegliche Türkei-Kritik ausrichten, Deutschland solle „nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein“. Das ist zum einen erfrischend ehrlich, zum anderen gar nicht so schlimm, wie es klingt. Denn dafür sind wir immerhin Weltmeister in den Disziplinen „freundliches Gesicht“ und „gefühlte Humanität“. Und das ist ja auch schön.
Abgesehen davon unterscheiden sich Opposition und Regierung aber keineswegs hinsichtlich des Grades an Realitätsverweigerung, mit dem sie die Flüchtlingskrise zu bewältigen gedenken. Ganz links möchte man keinen Türkei-Deal, allerdings auch keine Reduzierung der Flüchtlingszahlen, stattdessen aber mehr Kampf gegen rechts. Und links, also dort, wo die Regierung derzeit ihren Sitz hat, will man zwar weniger Flüchtlinge und mehr Türkei, gleichzeitig aber auch weiterhin ein freundliches Gesicht zeigen.
Böse Zungen behaupten derweil, Angela Merkel hätte überhaupt keinen Plan. Das stimmt allerdings nicht ganz. Denn immerhin weiß die Kanzlerin ziemlich genau, was sie nicht will. Mal fordert sie ein „Ende des Durchwinkens“ auf dem Balkan, nur um kurz darauf vor geschlossenen Grenzen und nationalen Alleingängen zu warnen. Ein ander‘ Mal beschwert sie sich über die Verengung des Balkan-Korridors, allerdings nicht, ohne den betroffenen Migranten zu raten, sich eben in Griechenland eine Unterkunft zu suchen. Angela Merkel möchte keine Flüchtlinge aus Griechenland beherbergen, überhaupt will sie keine hohen Zahlen. Sie möchte aber auch keine Obergrenze, keine hässlichen Bilder und keine geschlossenen Grenzen, erst recht nicht in der Nähe von Passau oder Freilassing.
Das eint sie mit großen Teilen des politischen Berlins. Man hat zwar keinen konkreten Plan, dafür aber einen erhobenen Zeigefinger. Der wiederum kommt immer dann zum Einsatz, wenn der ein oder andere Rest-Europäer eine Entscheidung umsetzt, anstatt auf die Erfolge der deutschen Wünsch-dir-was-Strategie zu warten. In solchen Situationen verstehen die Deutschen nämlich keinen Spaß. „Dann ist Europa am Ende, wenn jeder für sich festlegt, was er macht“, belehrte Katrin Göring-Eckardt den dunkelösterreichischen Außenminister Kurz jüngst bei Anne Will, als es um die alpine Obergrenze ging. Und ja, wahrlich: Wo kämen wir nur hin, wenn souveräne Nationalstaaten womöglich eigene Entscheidungen träfen, ohne vorher bei den Grünen, Angela Merkel oder Martin Schulz eine Genehmigung einzuholen?
Deutsche Politiker des 21. Jahrhunderts lesen eben nicht Aristoteles oder Machiavelli, sondern Antoine de Saint-Exupéry. Sie wissen daher auch: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Oder wenigstens mit dem, was sie dafür halten.
Nun allerdings droht ohnehin alles gut zu werden. Die europäische Lösung, die zunehmend zu einem Euphemismus für den Terminus „deutsche Lösung“ mutiert, rückt näher. Waren es bis dato noch die Flüchtlinge, die festlegten, in welcher Zahl sie an welchem Ort um Asyl baten, so soll es nun Sultan Erdogan sein, der über die nationalen Geschicke Europas entscheidet. Und die dazugehörigen hässlichen Bilder? Für die sind wir als Deutsche ja dann nicht verantwortlich. Angela Merkel schaut indes lieber zu und schnürt ein paar Asylpäckchen. Warum sollte die „mächtigste Frau der Welt“ auch über den Schutz ihrer eigenen Grenzen oder den der europäischen Außengrenzen nachdenken, wenn sich diese lästige Aufgabe ebenso an einen sympathischen Despoten delegieren lässt, der mit Tränengas ohnehin mehr Erfahrung hat? Das Leben kann schließlich so schön sein, wenn man sich nicht um alles selbst kümmern muss.
Im Gegenzug erhält die Türkei nicht nur ein paar Milliarden, Aussicht auf einen EU-Beitritt, einen menschenrechtlichen Koscherstempel und weitere Schmankerl, sondern auch direkten Einfluss darauf, wie es von der kommunalen Turnhalle bis hin zum Bundeshaushalt, der Rentenkasse und den Wahlergebnissen der AfD weitergeht.
Indes erklärt die Bundeskanzlerin noch schnell, was im Übrigen gar nicht in die Tüte kommt: „Es kann nicht sein, dass irgendetwas geschlossen wird“, verkündete sie noch vor dem EU-Gipfel mit Blick auf die geplante Total-Abriegelung der Balkanroute.
Und die Rest-Europäer? Die warten vermutlich darauf, endlich hinsichtlich der Merkel’schen Allheil-Lehre erleuchtet zu werden. Natürlich, über Quoten und Kontingente ist man sich noch nicht einig. Die eigenen Zäune hat man derweil umso lieber gewonnen. Darum wird man sie vermutlich vorsichtshalber stehen lassen. Schließlich kann man nie wissen, ob dem Herrn Erdogan zwischen Kurdenkrieg und Gleichschaltung der Presse nicht doch das ein oder andere Schlauchboot auf dem Radar entgeht. Und warum es humaner sein soll, Menschen statt nahe Griechenlands oder Mazedoniens nun eben in der Türkei aufzuhalten, hat man zwischen Paris und Warschau ebenfalls noch nicht ganz durchschaut. Die europäische Lösung ist auch deshalb sehr deutsch, weil nur Deutschland sie unbedingt will und braucht.
Aber wie sagte Angela die Erste doch erst neulich in ihrer Regierungserklärung bei Anne Will? „Wenn’s am Montag nichts wird, dann haben wir am 18. März den nächsten Gipfel.“ Und wenn es dann immer noch nicht klappt, treffen wir uns eben so lange, bis es funktioniert. Oder bis die Türkei zu Europa gehört, der Brennerpass zu einem zweiten Idomeni mutiert, ein „Libyen-Deal“ mit der dortigen IS-Filiale auf der Tagesordnung steht und der Kontinent ohnehin aus Stacheldraht besteht. Wir als Deutsche haben jedenfalls einen Plan: Wir wissen immer ganz genau, was wir nicht wollen. Und das wiederum mit einem unheilbar guten Gewissen, von dem das restliche Europa nur albträumen kann.