Die liberalen Demokratien des Westens werden durch Islamisten, autoritäre Diktaturen, hybride Demokraturen, Anarchie an Europas Rändern und den politischen Kapitalismus Chinas herausgefordert. Anders als im Kalten Krieg ist der Westen darüber gespalten, wie er auf diese Bedrohungen reagieren soll. Während das One-World-Denken die eigenen Pflichten gegenüber der globalen Allmende in den Vordergrund stellt, fordern die anderen mehr Schutz, bis hin zum Aufbau von Wagenburgen. Solche utopischen und regressiven Ansätze verdecken den Blick auf die notwendigen Ergänzungen zwischen den Nationalstaaten und den internationalen Organisationen des Westens.
Die so genannten Globalisten wollen den Westen in der Gleichheit aller Menschen und Kulturen aufgehoben sehen. In diesem Zusammenhang dekonstruieren sie unsere Gesellschaften und Staaten nach innen, indem sie den diversen Identitäten von Minderheiten eine höhere Bedeutung als dem Gemeinwohl beimessen. Nicht der Staatsbürger, sondern „der Mensch“ überhaupt soll demnach alle Rechte genießen. An die Stelle des Patriotismus tritt die Kardinaltugend der Weltoffenheit. Problematisch ist an diesem Idealismus zunächst, dass er von anderen Mächten und Kulturkreisen selten geteilt, aber oft ausgenutzt wird.
Nach innen erhöht die multikulturelle Vielfalt zwar Buntheit und Kreativität, vor allem in der globalisierten Ökonomie, gefährdet aber längst schon den selbstständigen Mittelstand, all jene Local Player, die sich vom umgrenzenden Staat Schutz gegenüber einem entgrenzten Wettbewerb der Produkte und auch auf dem Arbeitsmarkt erhofften.
Nicht fähig, zwischen Freunden, Gegnern und Feinden zu unterscheiden
Die humanitären Impulse des Globalismus dominieren selbst die neue Enzyklika des Papstes, die statt einer christlichen eine globale Ethik propagiert. Damit findet er Zustimmung bei Imamen und der chinesischen Regierung, aber die Nöte verfolgter Christen in erheblichen Teilen der Welt werden schmählich übergangen. Die Loyalität mit der ganzen Welt bedeutet Illoyalität mit dem Eigenen.
Mitunter verbinden sich nationale und globale Perspektiven, indem sie die internationale Ebene übergehen. Der National-Globalismus mancher Brexiter erhoffte sich eine bessere Anschlussfähigkeit an die Globalität. Der humanitäre National-Globalismus in Deutschland nimmt Flüchtlinge gegen den Willen der anderen europäischen Länder auf. Das außenpolitische Konzept des Multilateralismus ist kaum mehr in der Lage, zwischen Freunden, Gegnern und Feinden zu unterscheiden und untergräbt die eigene Bündnisfähigkeit.
Für den ungewöhnlichen Drang zum Selbstopfer finden sich in der Geschichte nur Beispiele im Rahmen religiösen Eiferertums. Das religiöse Vakuum im profanierten Westen scheint einen ersatzreligiösen Humanitarismus ohne Gott hervorgebracht zu haben, ein Luxurieren der besseren Stände, die jedoch bei den schwächeren Teilen der Bevölkerung wenig Zustimmung findet.
Nationalismus als Regression
Der Historiker Niall Ferguson sieht in der entfesselten Globalisierung, in der die Gewinner alles bekommen, den Hauptgrund für die Zerstörung der alten Weltordnung. Die freiheitliche Welthandelsordnung sei nie mehr als eine Übereinkunft der Eliten zur Förderung ihrer globalen Interessen gewesen.
Der im Wortsinne von ortlos utopische Globalismus treib fast selbstverständlich neue nationalistische oder separatistische Gegenbewegungen hervor. Im Gegensatz zu den „Nazis“, mit denen Globalisten sie gerne vergleichen, tragen ihre Schutzforderungen defensiven Charakter. Gleichwohl drohen sie, Nullsummenspiele hervorzutreiben. Die an ihren Rändern beschworene „völkische Zusammengehörigkeit“ lässt sich in Mittelosteuropa noch verteidigen, in den multikulturellen Gesellschaften des Westens handelt es sich hierbei, von der Wünschbarkeit abgesehen, um reine Nostalgie.
Mit ihrer Unabhängigkeit vom gemeinsamen Binnenmarkt braucht sich Großbritannien keine Vorschriften mehr aus Brüssel machen zu lassen, dafür umso mehr aus Washington, das wiederum die letzte Bastion vor einer Abhängigkeit von Peking ist. Während der neue Nationalismus in den USA auf Selbstbehauptungsfähigkeit aufbauen kann, schrumpfen die kleinen europäischen Nationen zu Spielbällen der Weltpolitik. Demgegenüber wäre es sinnvoll, sich auf differenzierte Weise gemeinsam zu schützen, indem sich die nationalen und die internationalen Ebenen des Westens auf ihre gemeinsamen Interessen konzentrieren.
Differenzierter Protektionismus
Das gemeinsame Ziel Selbstbehauptung könnte die Spaltungen des Westens nach Nationalisten und Internationalisten relativieren, indem sich jede Ebene den ihr spezifischen Schutzaufgaben widmet, aber auch nur dieser. Dies setzt allerdings eine gemeinsame europäische Identität voraus, die jedoch gegenüber dekonstruierenden Globalisten und Nationalisten wieder aufgebaut werden müsste. Dafür wäre gewiss mehr geistesgeschichtliche Bildung erforderlich. Kurzfristig erkennen wir unsere Zusammengehörigkeit bereits durch die eingangs geschilderten Bedrohungen.
Grenzen galten lange als Anachronismen. Die Corona-Pandemie zeigt hingegen, dass die Globalisierungsdynamik sehr wohl aufhaltbar ist und die arbeitsteilige Warenproduktion auch funktioniert, wenn Grenzen für Menschen geschlossen sind.
Und sie zeigt, dass im Ernstfall nur die Infrastruktur der Nationalstaaten helfen kann. Der globalisierte Virus hat den Nationalstaat rehabilitiert. Gesundheitskontrollen an Grenzen gelten nicht mehr „nationalistisch“, sondern als legitime Form der Vorsicht. Ein Rückbau von globalen Lieferketten in sicherheitssensiblen Bereichen der Medizin- oder Digitalwirtschaft bedeutet noch keine Deglobalisierung, sondern nur eine Differenzierung des Freihandels.
Ein Europa und eine NATO, die schützen
Nationalstaaten sind zwar unverzichtbare Bausteine, jedoch noch kein schützendes Gebäude. In der multipolaren Welt könnte das gemeinsame Haus der Europäischen Union schützen. Diesem droht jedoch der Zerfall, weil sie die Schutzordnung der Nationalstaaten unterminiert, ohne selbst ausreichenden Schutz zu bieten. Die in ihrem Haus mögliche Niedrigstbesteuerung von Global Playern wie Amazon richtet sich faktisch gegen den eigenen Mittelstand, der sich als Local Player seiner Verantwortung nicht entziehen kann. Vor allem aber verfügt die Union weder über eine gemeinsame Verteidigungs- oder Außenpolitik noch über eine kontrollfähige Grenzsicherung.
Der notwendige Paradigmenwandel vom globalisierenden Europa zu einem „Europa, das schützt“ müsste die Aufgaben ganz neu verteilen, die Union nach außen einen und nach innen die Vielfalt der Nationalstaaten respektieren: statt eines Euros, der zusammenzwingt, was nicht zusammengehört, würde eine Europäische Verteidigung nach außen schützen, was kulturell und politisch zusammengehört. Europäische Entwicklungshilfe sollte statt an globalen Visionen an eigenen Schutzinteressen ausgerichtet sein. Ihre militärische Vorfeldsicherung begänne nicht am Hindukusch, sondern im Mittelmeerraum.
In der multipolaren Welt braucht Europa weniger gute Beziehungen zum Iran als zu den USA. Nachdem die NATO Abschied von einem die Weltordnung destabilisierenden Interventionismus genommen hat, kann sie sich auf den Schutz des eigenen Raums konzentrieren. Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft würde als Pfeiler in der NATO sowohl die eigene Verantwortlichkeit als auch das Bündnis stärken.
Sobald der westliche Universalismus überwunden sein wird, kann die NATO sich auf die Eindämmung des Universalismus der Anderen konzentrieren. Dies gilt auch für die Ausgriffe der neo-osmanischen Türkei, deren NATO-Mitgliedschaft heute eher zur Überdehnung und Auflösung als zur Selbstbehauptung des Westens beiträgt. Eine NATO, die schützt, würde die Spaltungen zwischen den USA und den Europäern und ein Europa, das schützt, würde innere Spaltungen zwischen Globalisten und Nationalisten aufzuheben helfen.
Prof. Dr. Heinz Theisen lehrt Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Dieser Beitrag erschien zuerst in der NZZ.