Auf den ersten Blick riecht das ziemlich streng nach Appeasement. Da kündigt Russland die Stationierung von Kurzstreckenraketen in Kaliningrad an. Da droht Wladimir Putin damit, die Ostseepipeline nicht zu bauen und Europa stattdessen mit teuerem Flüssiggas zu beliefern. Da müssen die Europäer feststellen, dass Russland den von EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy ausgehandelten Abzug aus Georgien nicht einhält. Und was tut Sarkozy? Trifft sich am Vorabend des G20-Gipfels ausgerechnet mit Putins Handpuppe Dmitri Medwedew, um die Verabschiedung eines neuen EU-Russland-Partnerschaftsabkommens vorzubereiten.
Auf den zweiten Blick allerdings erscheint die Position der EU gegenüber Russland nicht so windelweich, wie es manche Kritiker hinstellen und die Russen gern hätten. Nicht nur, dass Sarkozy vor dem Treffen mit Medwedew in Nizza den polnischen Regierungschef Donald Tusk und den georgischen Staatspräsidenten Michaeil Saakaschwili traf. Nicht nur, dass der Ratspräsident den Auftrag der Europäer hatte, dem Russen klarzumachen, dass die Zerstückelung Georgiens „inakzeptabel“ ist (was auch immer das bedeutet). Der russisch-europäische Gipfel kam am Ende einer Woche, in der Europa einiges auf den Weg gebracht hat, um geopolitische Handlungsfähigkeit zu erlangen.
Da ist an erster Stelle der Vorstoß der EU zu nennen, die Bildung eines europäischen Gaskartells zu fördern, das in Zentralasien den russischen Gas-Einkäufern paroli bieten kann. Gegenwärtig versucht die staatsmonopolitische russische Gazprom, ehemalige Sowjetrepubliken wie Aserbaidschan, Turkmenisten und Usbekistan als Gaslieferanten an sich zu binden; damit sollen die Europäer davon abgebracht werden, den Plan eines „Südkorridors“ für Gas unter Umgehung Russlands – vor allem durch die Pipeline „Nabucco“ – zu verwirklichen. Wenn aber das geplante Gaskartell Verträge über eine garantierte Liefermenge abschließen kann, wird Nabucco von einem politisch wünschenswerten Projekt zu einem wirtschaftlich interessanten Geschäft.
In diesem Zusammenhang steht auch Sarkozys Bekenntnis, die EU habe mit den USA „ein gemeinsames Interesse, zum Erfolg des Irak beizutragen“ und sei deshalb „bereit, sich in dem Land ohne Verzögerung zu engagieren“, wie es in einer vertraulichen Vorlage der Ratspräsidentschaft für ein Treffen der EU-Außenminister hieß. Diese Kehrtwendung der französischen Politik wurde allgemein als Morgengabe für den neuen US-Präsidenten Barack Obama gedeutet. In Wirklichkeit jedoch ist diese Position die logische Folge eines von der EU-Kommission bereits im Mai mit dem Irak abgeschlossenen Vertrags, demzufolge der Irak ab 2011 jährlich fünf Milliarden Kubikmeter Gas an Europa liefern soll – Gas, das ebenfalls durch die Nabucco-Pipeline über die Türkei nach Europa fließen soll.
Architekt dieses Vertrags – und eines weiteren Abkommens über ägyptisches Gas – ist der unscheinbare EU-Energiekommissar Andris Piebalgs. Der Balte – Ex-Mitglied der KPdSU und Mitbegründer der liberal-konservativen Partei „Lettlands Weg“ – macht sich keine Illusionen über die imperialen Ambitionen Russlands. Piebalgs gibt sich gern als Vorkämpfer des Klimaschutzes – damit hat er vor wenigen Tagen seinen Vorstoß begründet, Europas Kernkraftwerke sollten eine einheitliche Laufzeit von 60 Jahren haben, womit er den deutschen Koalitionskonsens über eine Laufzeit von durchschnittlich 32 Jahren unterlief. Ihm geht es aber vor allem um Europas Unabhängigkeit von Russland.
Unter Piebalgs Regie hat die EU-Kommission letzte Woche Pläne für ein europäisches Strom-„Supernetz“ vorgelegt, das den Austausch von Elektrizität zwischen den Ländern und Regionen Europas effektiver machen soll. Auf diese Weise werden Wind-, Wasser- und Solarenergie zu wichtigen und vor allem zuverlässigen Bestandteilen der europäischen Energieversorgung werden – weil Windstille an der deutschen Küste ausgeglichen werden könnte durch Wasserenergie aus Norwegen oder Solarenergie aus Südspanien.
Nimmt man zu diesen energiepolitischen Entwicklungen die Tatsache hinzu, dass die EU letzte Woche die Bildung einer gemeinsamen Flotte von Militärtransportern und die gemeinsame Entwicklung eines neuen militärischen Transporthubschraubers unter dem Dach der Europäischen Verteidigungsagentur EDA beschlossen hat, so wird ersichtlich, dass Europa eine Doppelstrategie verfolgt.
Einerseits soll der Gesprächsfaden mit Russland nicht abreißen. Denn die Autokratie im Osten wird nicht nur weiterhin als Öl- und Gaslieferant, sondern – schon allein wegen seines Sitzes im Weltsicherheitsrat – als Partner gebraucht, wenn es beim Friedensprozess im Nahen Osten oder beim Sanktionsregime gegen die atomaren Aufrüstungspläne des Iran vorangehen soll. Überdies muss Russland mit seinen riesigen Geldreserven eingebunden werden in die neue Architektur der globalen Finanz- und Wirtschaftspolitik.
Andererseits strebt die EU nach größerer Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen, damit sie möglichst schnell überhaupt in die Lage kommen kann, den erwarteten künftigen Provokationen und Pressionen Russlands mehr entgegenzusetzen als zornige Worte. Freilich scheint weder die deutsche Politik hier eine Führungsrolle zu spielen noch die deutsche Presse überhaupt vom Vorgang Notiz zu nehmen. Wenn überhaupt etwas aus Brüssel die Aufmerksamkeit der deutschen Medien letzte Woche erregte, dann die Meldung vom Ende der Verordnung Nummer 1677 aus dem Jahr 1988, mit der die Gurkenkrümmung geregelt wurde.
Der Wegfall dieser oft verspotteten Verordnung zusammen mit weiteren 25 Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse wurde in sämtlichen deutschen Blättern mit Holzhammer-Häme nach dem Muster „hier lacht der Politikredakteur“ bedacht (und vom Deutschen Bauernverband beklagt). Tatsächlich ist er im Zusammenhang mit den anderen hier skizzierten Entwicklungen von hohem symbolischem Wert. Europa zieht sich aus der Feinregulierung aller Aspekte des Binnenmarkt zurück und besinnt sich auf seine eigentliche Aufgabe: Geopolitik zu betreiben.