Unter der Überschrift „Europa stärken – nicht schwächen“ hat Ottmar Issing in der FAZ in moderaten Tönen beklagt, dass Deutschland sich Debatten über Industriepolitik und mehr Gemeinschaftsrisiken in der Eurozone – vornehmlich von Frankreich – habe aufdrängen lassen, ohne hierauf angemessen zu reagieren. Die ordnungspolitische Gradlinigkeit des ehemaligen Chefökonomen von Bundesbank und EZB ist weithin bekannt. Er kann sicher sein für fast alles, was er sagt, Beifall zu erhalten.
Hinzu kommt, dass Issing, auch wenn er kritische Töne anschlägt, nie die politische Klasse als solche oder gar ihre Legitimität in Frage stellt. Dies sichert ihm den Beifall urbi et orbi und macht seine Kritik nahezu bedeutungslos. Denn alle Missstände, die gegenwärtig mit der europäischen Integration in Zusammenhang stehen – die zunehmende Zentralisierung der Entscheidungen des Brüsseler Apparats, die unaufhörlichen Bemühungen Macrons, Deutschland sein planerisches und zentralistisches Wirtschaftsmodell aufzudrängen – hängen im Wesentlichen damit zusammen, dass Deutschland sich nicht von der Geisel des deutsch-französischen Sonderverhältnisses befreit hat.
Im Gegenteil, durch Minister Altmaier, der sich den Franzosen offenbar verbunden fühlt, kommen zum ersten Mal aus dem heiligen Schrein der deutschen Ordnungspolitik, dem Bundesministerium für Wirtschaft, solche Vorschläge auf den Tisch, dass einem Hören und Sehen vergeht. Die wettbewerblich normierte Entscheidung über Unternehmenszusammenschlüsse durch die Generaldirektion Wettbewerb in Brüssel soll im Wege einer politischen Entscheidung überstimmt werden können. Auf diese Weise hätten Altmaier und sein französischer Kollege Le Maire der Entstehung eines Monopolunternehmens bei der Produktion von Zügen und Signaltechnik namens Alstom-Siemens wohl den Segen gegeben und die wettbewerblichen Bedenken der Europäischen Kommission in den Wind geschlagen. Doch ist Altmaiers Ruf nach dem Primat der Politik über die Wirtschaft nur der Gipfel einer Reihe von Sünden der deutschen Politik, die eine schärfere Kritik als die zahmen Worte Issings verdient hätten.
Ein permanentes Zurückweichen vor französischen Positionen
Denn Deutschland als eine bewegende Kraft innerhalb der Europäischen Union hat aufgehört zu existieren. Die 14 Jahre Merkelscher Dominanz in der deutschen Politik haben tiefe Spuren hinterlassen. Merkel hangelt sich in Europa von einem Kompromiss zum andern, der bei genauerem Hinblicken gar kein Kompromiss, sondern ein permanentes Zurückweichen vor französischen Positionen war. Das Ergebnis dieser additiven Konzessionen liegt nun auf dem Tisch. Der anfänglich nur für drei Jahre entworfene Eurorettungsfonds (EFSF) ist mittlerweile verdoppelt worden und hat einen Ewigkeitsstatus erhalten. Mehr noch: Ein deutscher Beamter mit dem Rückenwind der Bundesregierung arbeitet stetig daran, die Instrumente des ESM zu „vervollkommnen“. Er, Regling, und die Franzosen wollen aus dem ESM ein Europäisches Schatzamt machen.
Derweil adressieren Draghi, die Kommission und die französische Politik einen Forderungskatalog an die Bundesregierung, dem Berlin nichts als einen hinhaltenden Widerstand entgegenzusetzen hat. Beim Eurozonenbudget wagt man es nicht, Frankreich zu entgegnen, dass es dafür keinen Bedarf gäbe, sondern man einigt sich auf einen kleinen zweistelligen Betrag, wohl wissend, dass europäische Töpfe eines gemeinsam haben: Sie wachsen über die Jahre zu Megavolumina und sind von niemandem mehr zu kontrollieren. Der Bericht eines Insiders, veröffentlicht unter dem Pseudonym Didier Modi (1), beschreibt sarkastisch das Neben- und Durcheinander von Regional-, Kohäsions- und Strukturfonds, über die die Europäische Kommission und der Rechnungshof vollständig den Überblick verloren haben.
Auch beim Ausbau des ESM zu einem Notfallfinanzierungsaggregat für den völlig unzureichenden Bankenabwicklungsfonds gibt sich Deutschland kompromissbereit. Erst einmal müsse die direkte Bankenrekapitalisierung durch den ESM vom Tisch, und dann könne man darüber reden, dass in Notfällen der ESM dem SRF einen Notkredit bis zu 60 Milliarden zur Verfügung stelle. Auch bei der europaweiten Einlagenversicherung, die ein Manna für solche Sparer wäre, die ihr Geld zu hohen Zinsen Banken mit unseriösen Geschäftsmodellen anvertraut haben, beschwichtigt Deutschland. Erst müssten, so der Diskurs von Finanzminister Scholz, die Risiken, damit meint er die Bankensektoren in Griechenland, Zypern und Italien, bereinigt werden, dann könne man über eine Einlagensicherung sprechen.
Kurzum, es fehlt, wie man auf Neuhochdeutsch formuliert, das deutsche Narrativ, welches einen ordnungspolitischen Kontrapunkt zu den von Frankreich initiierten Anmaßungen darstellt. Hier hat sich die Merkelsche Politik des schrittweisen Zurückweichens fatal ausgewirkt: Eine klare ordnungspolitische Linie hat Deutschland längst nicht mehr und die systematischen free rider der Europäischen Union wie Frankreich, Italien, Zypern, Griechenland und vielleicht in absehbarer Zeit auch wieder Spanien lassen bei ihrem Bemühen, die deutsche Haushaltssouveränität unter ihr Joch zu bringen, es nicht an Dreistigkeit fehlen.
Kompromisslerisch defätistischer Diskurs
Statt eines „Bis hier hin und nicht weiter!“, das von Seiten der Bundesregierung überfällig ist, gibt es den kompromisslerisch defätistischen Diskurs, dessen additive Souveränitätsverluste sich in Summe für die deutsche Demokratie schädlich ausgewirkt haben. Wenn es so weiter geht, wird Deutschland in fiskalpolitischer Hinsicht die Kontrolle über den europäischen Integrationsprozess alsbald verloren haben.
Hinzu kommt, dass die bundesstaatlich getarnten Zentralisierer in Brüssel vor der letzten Bastion normativen deutschen Widerstands, dem Bundesverfassungsgericht, jedweden Respekt verloren haben. Seitdem der zweite Senat in Karlsruhe des OMT-Urteil des Europäischen Gerichtshofs zähneknirschend akzeptiert hat, rechnet niemand in Brüssel mehr damit, dass Karlsruhe mehr sagt, als „Ja, aber!“ Wir werden sehen, ob auch bei der anstehenden Beurteilung des Ankaufprogrammes im Lichte des EuGH-Urteils vom 12.11.2018 das Bundesverfassungsgericht diese submissive Linie fortführen wird.
Das Fehlen eines deutschen Narrativs in ordnungspolitischer Hinsicht kennzeichnet aber nicht nur die großen wirtschafts- und finanzpolitischen Themen. Es ist höchst wundersam, dass die Bundesregierung, die vom Bundesverfassungsgericht klar durch das Dogma der Integrationsverantwortung in die Pflicht genommen worden ist, den tolldreisten Bemühungen des EP-Mitgliedes Weber, die Wahl zum sogenannten Europäischen Parlament zu einer Abstimmung über das Spitzenamt der EU-Kommission zu machen, nichts entgegensetzt. Weber und mit ihm die anderen Epigonen der europäischen Politik, Frau Margrethe Vestager für die Liberalen und Frans Timmermans für die agonisierenden Sozialdemokraten, scheuen sich nicht, einen institutionellen Staatsstreich dadurch vorzubereiten, dass sie den Wahlen zu einem demokratisch nicht legitimierten Organ, das sich Parlament nennt und doch keines ist, eine politische Bedeutung beimessen, die dieser Wahl mitnichten zukommen kann.
Europapolitiker in ihrer Verblendung
Die Bundesregierung muss es daher Macron überlassen klarzustellen, wie die Europäischen Verträge die Wahl des Vorsitzenden der Europäischen Kommission regeln: Es sind ausschließlich die Regierungen der Mitgliedstaaten, die in diesem Verbund souveräner Staaten befugt sind, sich über die Besetzung dieses Spitzenamtes zu einigen. Erst nachdem dies unter den Regierungen der Mitgliedstaaten geschehen ist, darf das „Europäische Parlament“ hierüber abstimmen. Bisher hat es stets diese schwierige Kompromissentscheidung akklamierend akzeptiert. Wer also unter den selbst erklärten Spitzenkandidaten das beste Ergebnis erzielen wird, ist mitnichten legitimiert, auch die Hand nach dem Spitzenamt in der Europäischen Kommission auszustrecken.
Es ist im Übrigen bezeichnend, dass die langjährige Zugehörigkeit zur Brüsseler Blase die Europapolitiker in ihrer Verblendung bestärkt, jedwedem Amt gewachsen zu sein. Auch Martin Schulz, ein Kommunalpolitiker ohne berufliche Meriten, meinte, nachdem er als Präsident des Europaparlaments die Welt bereist hatte, nunmehr sei für ihn die Stunde der ganz großen Politik gekommen. Ähnlich sieht es der Spitzenkandidat von CDU/CSU, Herr Weber, über den in Brüssel zwar gewitzelt wird, der sich gleichwohl alles zutraut, einschließlich – wie er es kürzlich verräterisch formulierte – „Chef einer europäischen Regierung“ zu werden.
Es bleibt abzuwarten, wie lange die Völker Europas sich diesen Coup d‘Etatpermanent noch anzuschauen bereit sind. Vornehme Proteste von Vorzeigepersönlichkeiten wie Otmar Issing sind die Stimmen der Opposition de Sa majesté.
Bei all diesen Fehlleistungen der deutschen Politik sowie den von Medien gefördertem Diskurs über „Mehr Europa!“ bleibt die Diskussion über eine pragmatische, gleichwohl radikale Reform der Europäischen Union unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität auf der Strecke. So wird die Fehlvorstellung erzeugt, es handele sich bei der jetzigen Wahl zum Europäischen Parlament um eine Schicksalsentscheidung zwischen mehr oder weniger Europa. Dabei bleibt die überfällige Diskussion über Reformideen auf der Strecke. Es reicht nicht aus, wie Otmar Issing den mangelnden Respekt des Subsidiaritätsprinzips zu beklagen. Man muss auch eine Institution fordern, gegebenenfalls in Form eines Subsidiaritätsorgans, das diesem maßgeblichen normativen Postulat der Europäischen Union Geltung verschafft.
So bleibt für den kritischen Beobachter der Brüsseler Vorgänge nichts weiter, als den Ausgang der sogenannten Europawahl abzuwarten. Vielleicht hält Frau Merkel eine Überraschung für uns parat. Sie tritt als Kanzlerin ab und lässt sich im Lichte ihrer in Brüssel beklatschten Preisgabepolitik vor den europäischen Integrationszug spannen. Dann könnte sie das weiterhin tun, was sie so sehr liebt, Macht ausüben um der Macht willen. Deutschland hätte in Berlin ein Problem weniger dafür aber eine bekennende Preisgabepolitikerin im Brüsseler Spitzenamt.
(1) Ein Albtraum wird seziert, Edition Europolis, 2017. Es handelt sich um den langjährigen Europabeamten Jacques Lovergne, der 2018 verstorben ist.