Als durchschnittlicher EU-Bürger könnte man meinen, dass einen die Zollreform der EU eher wenig angeht. Doch das könnte sich bald als Irrtum erweisen. Nicht nur, dass es künftig teuer werden wird. Die Sache wird auch auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen.
Als durchschnittlicher EU-Bürger könnte man meinen, dass einen die Zollreform der EU eher wenig angeht. Doch das könnte sich bald als Irrtum erweisen. Nicht nur, dass es künftig teuer werden wird, Waren aus nicht EU-Staaten zu beziehen: Die hektische Suche nach neuen Einnahmequellen durch absonderliche Regulierungen der EU verheißt insgesamt nichts Gutes. Besonders perfide: Der EU-Protektionismus wird auf dem Rücken der Ärmsten der Welt ausgetragen.
In der ihr eigenen Selbstbeweihräucherungsattitüde verkündete die EU-Kommission am 17. Mai dieses Jahres, dass sie Vorschläge für „die ehrgeizigste und umfassendste Reform der EU-Zollunion seit ihrer Gründung im Jahr 1968“ vorgelegt habe. Als Ziel ist in der entsprechenden Pressemitteilung , eine „einfachere, intelligentere und sicherere Zollunion“ formuliert, die vor allem durch Digitalisierung erreicht werden soll. Doch die Reform wird voraussichtlich auch dazu führen, dass es für EU-Bürger deutlich teurer wird, Waren aus Nicht-EU-Ländern zu erwerben: Waren mit einem Wert von weniger als 150 Euro sind bislang von Zöllen befreit. Das soll sich nun ändern, da diese Regelung von Betrügern ausgenutzt worden sei.
Außerdem soll eine neue EU-Zollbehörde gegründet werden, die eine EU-Zolldatenzentrale überwachen soll. Durch diese Überwachung könnte der Handel effektiv gesteuert werden, beispielsweise im Sinne des Klimaschutzes. Sie könnte aber auch für Strafverfolgung, Sanktionen und die Nachverfolgung von Lieferketten genutzt werden, etwa im Rahmen des Europäischen CO₂-Grenzausgleichssystems (Carbon Border Adjustment Mechanism, kurz CBAM).
Die Idee hinter dem CBAM-Mechanismus ist, dass der CO2-Preis importierter Waren an den Preis für CO2-Zertifkate angeglichen werden soll, die europäische Firmen für ihre Produkte im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems (ETS) erwerben müssen. Dies soll Anreize für Nicht-EU-Länder schaffen, ihre Klimaambitionen zu erhöhen. Nur Länder, die die gleichen Klimaziele wie die EU verfolgen, werden dann noch in die EU exportieren können, ohne CBAM-Zertifikate zu kaufen.
Die neuen Regeln sollen sicherstellen, dass die Klimaschutz-Bemühungen der EU nicht dadurch untergraben werden, dass die Produktion in Länder mit weniger ehrgeizigen Klimazielen verlagert wird. Sie stehen laut EU-Parlament in vollem Einklang mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) und werden ab dem 1. Oktober 2023 gültig sein. Im Grunde geht es schlichtweg um Protektionismus. Das EU-Emissionshandelssystem haben wir hier und hier ausführlicher besprochen.
Der CBAM-Mechanismus ist außerdem Teil des Pakets „Fit für 55“ , das darauf abzielt, die Netto-Treibhausgasemissionen der EU bis 2030 gegenüber 1990 um mindestens 55 Prozent zu senken, damit bis 2050 die angestrebte Klimaneutralität erreicht wird. Allerdings wird offenbar auch den EU-Parlamentariern allmählich klar, dass das Unterfangen, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen, ziemlich teuer werden wird.
Am 10. Mai wurde daher im EU-Parlament eine Resolution angenommen, in der die Dringlichkeit formuliert worden ist, neue Ideen für zusätzliche Einnahmequellen umzusetzen. Sie ist mit „Eigenmittel: ein Neubeginn für die Finanzen der EU, ein Neubeginn für Europa“ überschrieben und wurde der Presse von Valérie Hayer und José Manuel Fernandes vorgestellt (). Hayer ist Mitglied im Haushaltsausschuss des EU-Parlaments und auch maßgeblich für den am 25. April vorgestellten Resolutions-Entwurf A9-0155/2023 verantwortlich.
„Fairer Grenzmechanismus“ auf dem Rücken der Armen
Sowohl in dem Entwurf als auch in der vom Parlament verabschiedeten Version springen die Punkte 16 und 17 ins Auge. Sie enthalten die Forderung, dass innerhalb eines „fairen Grenzmechanismus“ Unternehmen, die auf dem EU-Markt Produkte verkaufen wollen, an deren Herstellung extrem arme Arbeitnehmer beteiligt sind, zur Zahlung einer Abgabe an die EU verpflichtet werden sollen. Dadurch sollten Unternehmen hinsichtlich ihrer globalen Lieferkette motiviert werden, Arbeitnehmern, die in Nicht-EU-Ländern beschäftigt sind, einen Tageslohn zu zahlen, der über der jeweiligen Armutsgrenze liegt.
Weil es so unglaublich klingt, hier der originale Wortlaut:
„[Das europäische Parlament] 16. bedauert, dass an den Produktionsketten für bestimmte Produkte, die auf den Binnenmarkt der Union gelangen, Arbeitnehmer aus Drittländern beteiligt sind, die keinen angemessenen Lohn erhalten und in einigen Fällen in extremer Armut leben; weist darauf hin, dass die Einfuhr solcher Waren in die EU zu unlauterem Wettbewerb („Sozialdumping“) führt; 17. fordert die Kommission daher auf, eine Konsultation der Interessenträger und eine gründliche Folgenabschätzung im Zusammenhang mit einem eventuellen Vorschlag für einen Rechtsakt zu einem `fairen Grenzmechanismus´ vorzunehmen, mit dem Unternehmen, die Waren in den Binnenmarkt der Union einführen, dazu verpflichtet werden, Arbeitnehmern, die in Drittstaaten in ihrer globalen Lieferkette beschäftigt sind, einen Tageslohn zu zahlen, der über der jeweiligen Armutsgrenze liegt und ausreicht, um es ihnen zu ermöglichen, der absoluten Armut, wie sie von den einschlägigen internationalen Organisationen definiert wird, zu entkommen; betont, dass ein Unternehmen, das Produkte in den Binnenmarkt der Union einführt, die von Arbeitnehmern in Drittstaaten hergestellt werden, deren Lohn unter einem vorgegebenen Schwellenwert liegt und damit gegen einschlägige Rechtsvorschriften verstößt, eine Abgabe in Höhe der Differenz zwischen diesem Schwellenwert und der tatsächlichen Entlohnung, die die Arbeitnehmer dieses Unternehmens erhalten, entrichten müsste; vertritt die Auffassung, dass die Einnahmen aus Abgaben, die im Zuge der Umsetzung einer derartigen Maßnahme anfallen, in den Haushalt der Union fließen sollten; erwartet von der Kommission, dass sie eine Bewertung der Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen in Drittstaaten sowie der Vereinbarkeit einer solchen Maßnahme mit den einschlägigen WTO-Regeln vorlegt; ist der Ansicht, dass durch eine solche Maßnahme die Wettbewerbsfähigkeit von in der Union produzierenden Unternehmen, die bestimmte Arbeitsnormen, Arbeitsbedingungen und Lohnniveaus einhalten, verbessert werden könnte; ersucht die Kommission, bei der Prüfung eines `fairen Grenzmechanismus´ die Erfahrungen mit bestehenden vergleichbaren Mechanismen in der Union und weltweit, wie dem CBAM, einzubeziehen“.
Der „faire Grenzmechanismus“ zu Gunsten des EU-Markts würde also ausgerechnet auf dem Rücken der Ärmsten der Welt ausgetragen werden, die vorgeblich damit geschützt werden sollen. In einem am 13. Januar 2023 von Politico veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Eine neue EU-Grenzsteuer zur Bekämpfung der extremen Armut“ haben Hayer und Fernandes den Ansatz ihrer Idee wie folgt erläutert: „Dieser Mechanismus würde einer sehr einfachen Logik folgen: Jedes Unternehmen, das Produkte in den EU-Binnenmarkt einführt, die von Arbeitnehmern hergestellt werden, die weniger als die Armutsgrenze in ihrem jeweiligen Land verdienen, müsste einen Zoll in Höhe der Differenz zwischen der Armutsgrenze und dem Lohn ihrer Arbeitnehmer entrichten.
Wenn beispielsweise eine Bekleidungsmarke T-Shirts aus Bangladesch – wo die Armutsgrenze bei 3,65 Dollar liegt – zum Verkauf in die EU einführt, müsste das Unternehmen die Lohnkosten der Arbeiter, die diese T-Shirts hergestellt haben, bei den Zollbehörden angeben. Und wenn sich herausstellt, dass er oder sie zum Beispiel 2,60 Dollar pro Tag bekommen hat, müsste das Unternehmen die Differenz an die EU zahlen, also 1,05 Dollar. Dieser Mechanismus hat drei Vorteile. Erstens hätten Unternehmen, die in der EU tätig sind, einen klaren Anreiz, die Löhne in ihrer globalen Lieferkette anzuheben und so die Lebensbedingungen für Arbeitnehmer in Drittländern zu verbessern. Zweitens dürfte er Reformen in Ländern mit schlechten Arbeitsnormen und -vorschriften vorantreiben. Drittens würden die europäischen Verbraucher aufhören, zu extremer Ausbeutung beizutragen.
Natürlich ist dies, wie bereits erwähnt, nicht nur ein Problem der Bekleidungsindustrie. Daher sollte die Maßnahme auch für andere Sektoren gelten, um sicherzustellen, dass die EU alles in ihrer Macht Stehende tut, um die extreme Armut zu lindern. Wir sind der Meinung, dass ohne einen solchen Mechanismus die Kluft zwischen Arbeitnehmern aus reichen Ländern und solchen, die in Ländern leben, in denen es so gut wie keine soziale Absicherung gibt, nur noch größer wird. Die westlichen Länder können dafür sorgen, dass ihre Arbeitnehmer auch in Krisenzeiten anständige Löhne erhalten – so wie sie es während der COVID-19-Pandemie getan haben. Dies ist jedoch ein Luxus, den sich die armen Länder nicht leisten können – oder zumindest einer, dem ihre Regierungen keine Priorität einräumen.“
Offenkundige Naivität
Diese Ausführungen machen nicht nur die offenkundige Naivität von Frau Hayer und Herrn Fernandes deutlich, sondern zeigen auch, wie verzweifelt die EU nach neuen Einnahmequellen sucht, um ihren Green Deal zu stemmen. Insgesamt soll die Reform denn auch „den Zoll der EU fit für ein grüneres, digitaleres Zeitalter machen und zu einem sichereren und wettbewerbsfähigeren Binnenmarkt beitragen“. In der reformierten EU-Zollunion sollen Unternehmen, die Waren in die EU einführen wollen, alle Informationen über ihre Produkte und Lieferketten in einem einzigen Online-Portal protokollieren können: die neue EU-Zolldatenplattform. Diese Technologie soll die vom Unternehmen bereitgestellten Daten bündeln und – durch maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz und menschliches Eingreifen – Behörden einen 360-Grad-Überblick über die Lieferketten und den Warenverkehr verschaffen. In Fällen, in denen Geschäftsprozesse und Lieferketten vollständig transparent sind, sollen Waren auch ohne aktives Eingreifen des Zolls in die EU in den Verkehr gebracht werden können. So sollen Zollverfahren für besonders vertrauenswürdige Händler erheblich vereinfachen werden.
Die Datenplattform soll 2028 geöffnet werden, zunächst auf freiwilliger Basis. Ab 2038 soll sie dann für alle Importeure obligatorisch werden. Sie soll ausdrücklich die EU-Rechtsvorschriften unterstützen, durch die Waren verboten sind, die gegen gemeinsame Werte der EU verstoßen – zum Beispiel im Bereich Klimawandel, Entwaldung und Zwangsarbeit. Im Laufe der Zeit soll sie die bestehenden IT-Systeme in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten ersetzen, wodurch diese jährlich bis zu zwei Milliarden Euro an Betriebskosten einsparen könnten.
Außerdem soll sie den nationalen Zollbehörden die gemeinsame Nutzung von Daten erheblich erleichtern. Die Legislativvorschläge werden nun dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union vorgelegt. Allerdings melden sich nun Kritiker zu Wort. So bemängelt die deutsche Industrie- und Handelskammer: (), dass bislang keine Vertreter der Wirtschaft zu den geplanten Maßnahmen konsultiert worden seien. Doch nur dadurch wäre gewährleistet, dass die künftigen Zollprozesse auch tatsächlich in der Praxis funktionieren. Deswegen hat die IHK ein eigenes Ideenpapier für Vereinfachungen im EU-Zollrecht zur Entlastung für Wirtschaft und Zollverwaltung entwickelt. Aber ob das die EU-Parlamentarier in ihrer Green-Deal-Blase interessiert?