Mit der Ernennung von Michel Barnier zum französischen Premierminister hat der französische Präsident Emmanuel Macron die französische Regierung praktisch von Marine Le Pens Rassemblement National abhängig gemacht.
Le Pen könnte jederzeit ihre 142 Stimmen im Parlament zu den 193 Stimmen der Linken hinzufügen, um eine Mehrheit zu bilden, die die Regierung Barnier zu Fall bringen könnte. Sie und ihre Partei haben aber betont, dass sie nicht zu Frankreichs „institutioneller Unordnung und demokratischem Chaos“ beitragen wollen und sich verpflichtet, „die neue Regierung nach ihren Taten zu beurteilen“, womit sie Barnier als „Premierminister unter Beobachtung“ sieht. Hochrangige Vertreter ihrer Nationalen Sammlungsbewegung haben betont, dass sie für ihre passive Unterstützung einen hohen Preis verlangen werden.
Nun hat Barnier sein Ministerteam vorgestellt und damit mehr Klarheit darüber geschaffen, was von ihm zu erwarten ist. Die EU-Institutionen in Brüssel werden sich insbesondere auf zwei wichtige Politikbereiche konzentrieren: Migration und den französischen Haushalt.
Was die Migration betrifft, so könnten die Entwicklungen in Deutschland einen Konflikt zwischen Frankreich und der EU weniger wahrscheinlich machen. Dort scheint die Regierung aufgrund des steigenden Zuspruchs für die Alternative für Deutschland (AfD) in Panik zu geraten, da sie beschlossen hat, nun doch bescheidene Grenzkontrollen einzuführen.
Eine viel größere Herausforderung wird die französische Finanzlage sein. Im Juni stufte S&P Global Ratings die Bonität Frankreichs herab und warnte: „Frankreichs öffentliche Schuldenquote ist jetzt die dritthöchste in der Eurozone, nach Griechenland und Italien.“
In einem solchen Kontext machen es die Forderungen von Le Pens Partei nach einer Erhöhung des Mindestlohns der Regierung nicht leichter. Frankreich hat der EU versprochen, sein Haushaltsdefizit von 5,6 Prozent auf 5,1 Prozent zu senken. Das ist immer noch weit von der 3-Prozent-Haushaltsdefizit-Regel entfernt, die die EU vorschreibt.
Frankreich will mehr Zeit
Barnier hat nun ein wenig bekanntes Duo mit der Aufgabe betraut, das riesige Loch im Haushalt zu stopfen. Der 33-jährige Junior-Abgeordnete Antoine Armand wird für das Wirtschafts- und Finanzministerium zuständig sein, und Laurent Saint Martin, 39, ein ehemaliger Sozialist und Leiter des Regierungsbüros, das ausländische Investitionen in Frankreich fördert, ist der neue Haushaltsminister. Entgegen der Tradition wird Saint Martin direkt an Barnier berichten, statt an den Finanzminister. Das bedeutet, dass Barnier mehr Kontrolle über den Haushalt haben wird.
Werden wir einen großen Bruch mit der Vergangenheit erleben? Das ist unwahrscheinlich. Der scheidende Finanzminister Bruno Le Maire hat dazu Folgendes gesagt: „In meiner Schreibtischschublade finden Sie keine Wunderlösungen für die öffentlichen Finanzen, sondern nur solide detaillierte Vorschläge zur Ausgabenkürzung.“ Dabei muss betont werden, dass es sich dabei hauptsächlich um Vorschläge handelte.
Es geht das Gerücht um, dass Frankreich in Brüssel um eine zweijährige Verlängerung der Frist für die Erreichung des Defizit-Ziels von drei Prozent des BIP bitten wird, das wäre dann 2029 statt bisher 2027. Im Jahr 2016 gab der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker offen zu, dass Frankreich einen gewissen Haushaltsspielraum verdient habe, „weil es Frankreich ist“. So sehr es den finanziell solideren europäischen Regierungen auch missfallen wird, dass Frankreich erneut mehr Zeit erhält, um sein Haushaltsdefizit mit den EU-Vorschriften in Einklang zu bringen - Michel Barnier, der in Brüssel Vertrauen genießt, dürfte die Dinge etwas erleichtern.
Die Zinsdifferenz Frankreichs zu Deutschland stieg nach der Vorstellung der neuen Regierung und ihrer fünfjährigen Kreditkosten, die zeitweise sogar die von Griechenland übertrafen, aber letztendlich sind die Anleihemärkte nicht mehr in der Lage, Frankreich so anzugreifen, wie sie es früher konnten. Das liegt daran, dass Frankreich jetzt Mitglied der Eurozone ist und dass sich die Europäische Zentralbank nicht als über der monetären Finanzierung stehend erwiesen hat. Das bedeutet, die Inflation zu entfesseln und die Sparer zahlen zu lassen, um Ausgabenkürzungen der Regierung zu vermeiden.
Bemerkenswert ist, dass Barnier die Tür für Steuererhöhungen für Frankreichs wohlhabendste Einzelpersonen und einige große Unternehmen geöffnet hat, angeblich um die unteren und mittleren Schichten zu schützen. Nun ist das französische Steuerniveau bereits das höchste der Welt, und frühere Versuche Frankreichs, die „Ultra-Reichen“ zur Kasse zu bitten, sind spektakulär gescheitert.
Kernenergie und Klimapolitik
Ein wichtiger Aspekt der neuen Barnier-Regierung ist ihr starkes Engagement für die Kernenergie. Der neue Wirtschafts- und Finanzminister Antoine Armand hat sich als lautstarker Kritiker einer Energiepolitik gezeigt, die nur auf unregelmäßig verfügbaren erneuerbaren Energien beruht. Er leitete auch eine Untersuchungskommission, die davor warnte, dass die Versorgungssicherheit Frankreichs vernachlässigt worden sei. Es wird interessant sein, zu sehen, ob dies zu einem Konflikt mit der Europäischen Kommission führt, in der Ursula von der Leyen gerade zwei Anti-Atomkraft-Eiferern Verantwortung für die Energiepolitik übertragen hat.
Die Tatsache, dass führende globale Finanzinstitutionen jüngst eine Erklärung zur Unterstützung der Kernenergie unterzeichnet haben, könnte Frankreich in seinem bevorstehenden Konflikt mit der Kommission in dieser Angelegenheit helfen. Dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die aktuelle Klimapolitik zunehmend unter Druck gerät. Anstelle eines Strafansatzes, den die EU mit ihrer ETS-Klimasteuer, ihrem Klimazoll CBAM und ihren verpflichtenden Berichterstattungen verfolgt, hat sich die „Climate & Freedom International Coalition“ für einen alternativen Ansatz eingesetzt. Mitglieder dieser Gruppe von Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern haben einen internationalen Vertrag entworfen, eine Art marktwirtschaftliche Alternative zum kollektivistischen „Pariser Abkommen“, bei dem die Unterzeichner von Handelsvorteilen profitieren würden, wenn sie klimafreundliche marktwirtschaftliche Maßnahmen umsetzen.
Dazu gehören die Liberalisierung des Marktes und Anreize für Investitionen in „Sachanlagen“ – Vermögenswerte, die für das langfristige Unternehmenswachstum von entscheidender Bedeutung sind – durch steuerfreie „CoVictory-Anleihen“, Darlehen und Sparfonds. Dazu gehören auch gezielte Steuersenkungen (Clean Tax Cuts, CTCs) in den vier Sektoren, die für 80 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich sind – Verkehr, Energie und Strom, Industrie und Immobilien – sowie Steuersenkungen, die auf die Zerschlagung von Monopolen abzielen. Diese Ideen werden auch in einer neuen Studie des Warschauer Unternehmensinstituts und einer Reihe gleichgesinnter Denkfabriken entwickelt, in der diese Vorschläge zur Steuer- und Marktliberalisierung sowie die „Auswirkungen der derzeitigen Beschränkungen auf die Erreichung der Klimaziele“ ausführlicher beschrieben werden.
In den letzten Jahren wurde die Kernenergie von der Europäischen Kommission skeptisch betrachtet. Im vergangenen Jahr stimmte das Europäische Parlament dafür, Kernenergie aller Art in eine Liste von „Netto-Null-Technologien“ aufzunehmen, nachdem die Europäische Kommission nur innovative Kernkrafttechnologien der dritten und vierten Generation aufnehmen wollte. Die neue französische Regierung wird diesen Weg mit Sicherheit weiter beschreiten.
Französischer Protektionismus oder Freihandel?
Auch in der Handelspolitik sind Spannungen zwischen der neuen französischen Regierung und der EU vorprogrammiert. Der französische Premierminister Michel Barnier hat die Ablehnung Frankreichs gegenüber dem Handelsabkommen zwischen der EU und dem lateinamerikanischen Handelsblock Mercosur nochmals bekräftigt und seinen Wunsch wiederholt, eine „Sperrminorität“ anzustreben. Daher ist es unwahrscheinlich, dass auf dem bevorstehenden G20-Gipfel in Brasilien im November eine Einigung in dieser Angelegenheit erzielt wird.
Die Gespräche mit dem Mercosur waren kompliziert, nachdem die EU verlangt hatte, einen Anhang zur Nachhaltigkeit in ein bereits vereinbartes Handelsabkommen aufzunehmen. Dies wurde von Ländern wie Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay nicht begrüßt. Brasilien ist nun auch zutiefst unzufrieden mit den neuen Entwaldungsvorschriften der EU. Diese zielen darauf ab, die Standards der EU zur Bekämpfung der Entwaldung in den Rest der Welt zu exportieren. Infolgedessen haben auch andere Handelspartner, von den Vereinigten Staaten bis hin zu Malaysia, die Aussetzung der Umsetzung durch die EU gefordert.
Im vergangenen Jahr haben Malaysia und Indonesien sogar beschlossen, die Handelsgespräche mit der EU wegen dieser Angelegenheit einzufrieren. Sie empfinden es als besonders unfair, dass die EU sich weigert, ihre Standards als gleichwertig zu erklären, obwohl NGOs wie Global Forest Watch ihre Länder im Jahr 2023 dafür loben, dass sie eine drastische Reduzierung des Waldverlusts erreicht haben. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass bereits schätzungsweise 93 Prozent des nach Europa importierten Palmöls nachhaltig sind und dass Großbritannien den malaysischen Standard zur Bekämpfung der Entwaldung tatsächlich als gleichwertig akzeptiert. Ein entscheidender Wendepunkt ist jedoch, dass nun auch Deutschland zumindest eine Verschiebung der Umsetzung der neuen, belastenden Verordnung fordert. Der deutsche CDU-Europaabgeordnete Peter Liese bezeichnete die neuen Entwaldungsvorschriften der EU sogar als „bürokratisches Monster“ und warnte davor, dass die Gesetzgebung den Handel mit wichtigen Konsumgütern stören und die Futtermittelversorgung der EU gefährden könnte.
Unabhängig davon stehen die diplomatischen Beziehungen zwischen der EU und Malaysia aufgrund eines Gerichtsverfahrens vor europäischen Schiedsgerichten unter Druck, weil das Land zu einer massiven Entschädigung in Höhe von 14,9 Milliarden US-Dollar an die Erben des Sultans von Sulu verurteilt wurde. Dieser herrschte im 19. Jahrhundert über einen Teil der Region, die heute als Sabah bekannt ist. Mit offensichtlicher Unterstützung des Prozessfinanzierers Therium Capital Management reichten die Erben eine Klage gegen Malaysia ein, nachdem das Land nach einem bewaffneten Überfall die jährlichen Zahlungen für die Pacht ihres Landes eingestellt hatte.
Irgendwie landete diese Klage vor Schiedsgerichten in Europa, wo ein spanischer Schiedsrichter zugunsten der Erben entschied. Nach Versuchen, auf dieser Grundlage in Europa malaysische Vermögenswerte zu beschlagnahmen, drohte die Angelegenheit zu einer diplomatischen Krise zu eskalieren, was jedoch nicht geschah, denn zunächst wurde der spanische Schiedsrichter Gonzalo Stampa strafrechtlich verurteilt, weil er den Fall nach Paris verlegt hatte und damit offenbar eine Anordnung eines spanischen Gerichts zur Einstellung des Verfahrens ignoriert hatte. In diesem Sommer lehnte der Oberste Gerichtshof der Niederlande die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs ab und verhalf Malaysia damit zu einem großen Sieg.
Dies wird sicherlich dazu beigetragen haben, dass das malaysische Handelsministeriums in einer Mitteilung vom 5. September seine Bereitschaft erklärte, die Handelsgespräche mit der EU wieder aufzunehmen. Das ist zu begrüßen, aber die EU sollte zur Kenntnis nehmen, dass Malaysia am 18. September den Beitritt des Vereinigten Königreichs zum Transpazifischen Partnerschaftsabkommen CPTPP ratifiziert hat. Dieses neue Handelsabkommen mit elf asiatischen und pazifischen Ländern deckt ein Handelsgebiet mit etwa 500 Millionen Menschen oder 15 Prozent des weltweiten BIP ab. Das Vereinigte Königreich konnte dem Abkommen teilweise beitreten, weil es sich flexibel zeigte und die Standards seiner Handelspartner anerkannte, was die EU ablehnt. Hoffentlich kann die EU daraus eine nützliche Lehre ziehen. Insbesondere angesichts des Prozesses der „Entkopplung“ oder des „Derisking“ von China kann es sich die EU nicht leisten, den Handel mit den aufstrebenden Handelsmächten der heutigen Welt, zu denen sicherlich auch Südostasien gehört, zu behindern.
Vielleicht der richtige Mann zur richtigen Zeit
Es muss anerkannt werden, dass Michel Barnier gute Arbeit geleistet hat, indem er ein Austrittsabkommen mit dem Vereinigten Königreich abgeschlossen hat, mit dem der größte Teil des potenziellen Schadens, der durch den Brexit hätte entstehen können, vermieden wurde, während es dem Vereinigten Königreich die Möglichkeit bietet, der EU den Weg zu weisen. Im Moment tut dies das Vereinigte Königreich, nicht nur mit seiner CPTPP-Mitgliedschaft, sondern auch, indem es fehlgeleitete EU-Überregulierung, wie das KI-Gesetz, nicht kopiert. Es ist unwahrscheinlich, dass Barnier dieses Erbe opfert, indem er jegliche Handelsöffnung vollständig blockiert. Auch beim ewigen Problem des französischen Haushaltsdefizits ist ein Kompromiss das wahrscheinlichste Ergebnis.
Abgesehen davon, dass Barnier in Brüssel als vertrauenswürdige Person gilt, hat er es gewagt, einige entschlossenere Aussagen zur Migrationspolitik zu machen, so dass unter dem Druck des Rassemblement National endlich eine Reihe wirksamer Maßnahmen zur Beendigung der illegalen Migration ergriffen werden könnten. Außerdem sind Mitglieder seiner Regierung für die Kernenergie und stehen der EU-Klimapolitik skeptisch gegenüber. Vielleicht ist Michel Barnier wirklich der richtige Mann zur richtigen Zeit.
Pieter Cleppe war Leiter des Brüsseler Büros des Think Tanks „Open Europe“. Er schreibt regelmäßig für Rundfunk- und Printmedien in ganz Europa und diskutiert häufig über die EU-Reform, die Flüchtlingskrise und die Eurokrise. Der gelernte Jurist war zuvor in Belgien als Rechtsanwalt tätig und arbeitete als Kabinettberater und Redner des belgischen Staatssekretärs für Verwaltungsreform.