Wieso trat der berüchtigte EU-Kommissar Thierry Breton gerade jetzt mit einem bösen Brief an seine Kommissionspräsidentin zurück? In welchem Amt darf er künftig sein Unwesen treiben?
Ist er beleidigt, uneinsichtig – oder taktiert er nur? Die Rede ist von Thierry Breton, der am Montagmorgen überraschend das Handtuch warf und von seinem Amt als EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt zurücktrat. Und zwar mit sofortiger Wirkung. Seinen Rücktritt veröffentlichte Breton ausgerechnet auf der Internetplattform X, deren Eigentümer Elon Musk er noch kurz zuvor wegen dessen Trump-Interview Zensur angedroht hatte, was zu Verstimmungen mit Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen geführt hatte (achgut berichtete).
Doch damit nicht genug: Wie das Magazin Brussels Signal berichtet, hatte auch der US-Kongressabgeordnete Jim Jordan, der Vorsitzender des mächtigen Justizausschusses des Repräsentantenhauses ist, Beschwerde bei Breton eingelegt. Breton hatte sich daraufhin in einem Brief zu rechtfertigen versucht. Jordan legte jedoch noch einmal nach: Breton habe durch seinen „ungenauen“ Brief die Bedenken der US-Gesetzgeber, dass die EU durch ihren Digital Services Act „versuchen könnte, rechtmäßige Äußerungen in den Vereinigten Staaten zu zensieren oder zu unterdrücken“, nicht zertreuen können. Er schrieb am 10. September an Breton zurück: „Die einzige logische Schlussfolgerung aus Ihren Handlungen ist, dass Ihr Brief als Drohung an Musk gedacht war, dass die EU, wie Sie gewarnt haben, 'ihren Werkzeugkasten voll ausschöpfen' würde, wenn er politische Äußerungen zuließe, mit denen Sie nicht einverstanden sind.“
Breton hatte behauptet, dass die EU für die Meinungsfreiheit eintrete und dass seine Drohungen gegen Musk lediglich eine „Erinnerung“ gewesen seien, um sicherzustellen, dass illegale Inhalte und „Desinformationen“ während des Interviews mit Präsident Trump auf X kontrolliert und unterbunden würden. Die politischen Ansichten der Protagonisten des Interviews seien für seine Entscheidung, dieses Schreiben zu versenden, nicht relevant gewesen. Jordan akzeptierte diese Erklärung Bretons allerdings nicht und insistierte: „Wir haben Ihre Antwort auf unseren Brief vom 15. August erhalten, bezüglich Ihrer Androhung von Repressalien gegen Elon Musk, einen amerikanischen Staatsbürger, und gegen X Corp, ein amerikanisches Unternehmen, weil sie den politischen Diskurs in den Vereinigten Staaten fördern.“
Bretons Behauptung, dass „die DSA keine Inhalte reguliert“, widerspreche dem Text der DSA. Außerdem seien EU-Beamte nicht vor sachlichen Fehlern und Missverständnissen gefeit. Abweichende Stimmen seien wichtig, weil ein „Expertenkonsens“ oft falsch liege, wie etwa die von den Regierungen verhängten Lockdown-Maßnahmen gezeigt hätten. Darüber hinaus stellte Jordan in Frage, dass Breton einem anderen Eigentümer oder CEO eines Tech-Giganten einen ähnlichen Brief wie den an Musk geschickt hätte. Bretons Behauptung, er würde sich „niemals in den amerikanischen demokratischen Prozess einmischen“, werde durch sein Handeln widerlegt. Wörtlich hält Jordan Breton vor: „Falls Sie jemals ein solches unaufgefordertes Schreiben verschickt haben, dann sicherlich nicht in einer so öffentlichen Art und Weise, wie Sie es mit Ihrem Brief an Musk getan haben.“
Politisches Tauschgeschäft angeboten
Breton solle daher seine Mitarbeiter darauf vorbereiten, zusätzliche Informationen über jegliche Bestrebungen der Europäischen Kommission zur Verfügung zu stellen, das EU-Recht zu nutzen, um amerikanische Unternehmen zur Zensur amerikanischer Äußerungen zu zwingen. Klare Worte. Möglicherweise haben sie tatsächlich Breton das Genick gebrochen. Jedenfalls geriert sich der Ex-Kommissar nun wie ein beleidigter Pfau. Erneut wählte Breton für seine Kündigung die Form eines offenen Briefs, den er diesmal an von der Leyen adressierte und der kryptische Andeutungen enthält:
„Sehr geehrte Frau Präsidentin,
am 24. Juli haben Sie die Mitgliedstaaten in einem Schreiben aufgefordert, Kandidaten für das Kollegium der Kommissionsmitglieder 2024-2029 zu benennen, wobei Sie klargestellt haben, dass Mitgliedstaaten, die beabsichtigen, den bereits amtierenden Kommissar zu nominieren, nicht verpflichtet sind, zwei Kandidaten vorzuschlagen. Am 25. Juli ernannte mich Präsident Emmanuel Macron zum offiziellen Kandidaten Frankreichs für eine zweite Amtszeit im Kollegium der Kommissare - wie er es bereits am Rande des Europäischen Rates vom 28. Juni öffentlich angekündigt hatte. Vor einigen Tagen, in der allerletzten Phase der Verhandlungen über die Zusammensetzung des künftigen Kollegiums, haben Sie Frankreich aufgefordert, meinen Namen zurückzuziehen - aus persönlichen Gründen, die Sie in keiner Weise direkt mit mir besprochen haben - und haben als politisches Tauschgeschäft ein angeblich einflussreicheres Ressort für Frankreich im künftigen Kollegium angeboten. Nun wird Ihnen ein anderer Kandidat vorgeschlagen.
In den vergangenen fünf Jahren habe ich mich unermüdlich dafür eingesetzt, dass das europäische Gemeinwohl über nationalen und parteipolitischen Interessen steht und gefördert wird. Es war mir eine Ehre.
Angesichts der jüngsten Entwicklungen – weitere Zeugnisse fragwürdiger Regierungsführung - muss ich jedoch zu dem Schluss kommen, dass ich meine Aufgaben im Kollegium nicht länger wahrnehmen kann.
Ich trete daher mit sofortiger Wirkung von meinem Amt als Mitglied der Europäischen Kommission zurück.
Mit freundlichen Grüßen
Thierry Breton“
Worauf Breton mit seiner Formulierung „fragwürdige Regierungsführung“ („questionable governance“) anspielt, bleibt offen. Vermutlich meint er damit nicht nur die Forderung von der Leyens nach einer möglichst paritätisch besetzten Kommission. Seine verletzte Eitelkeit ist nicht zu überhören. Vielleicht teilte Breton bei seinem Abgang auch bewusst vage gegen von der Leyen aus und verspricht sich nun eine Karriere innerhalb der neuen Regierung Frankreichs.
"Ein Tyrann weniger"
Aufschlussreich sind auf jeden Fall die Reaktionen auf seinen Tweet. Aus der EU-Kommission selbst hörte man zunächst – nichts. Der am Montagnachmittag versandte reguläre Newsletter der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland enthielt kein einziges Wort zu Bretons Rückzug. Auf X hagelte es dagegen Kommentare, die überwiegend sarkastisch bis schadenfroh ausfielen. Hier eine kleine Auswahl:
„Das ist eine gute Nachricht. Ein Tyrann weniger.“
„Niemand wird Sie jemals vermissen. Ein guter Tag für Europa.“
„Dude, wir sind alle froh, dass du vor die Tür gesetzt wurdest, und man braucht nicht so viele Worte, um zu beschreiben, dass man gefeuert wurde. Entspann dich und halt dich von der Politik fern. Oder mach Karriere in Nordkorea oder sonst wo, wo Zensoren willkommen sind.“
„Sie waren die schädlichste Person, die jemals auf EU-Ebene gehandelt hat.“
„Thierry Breton tritt aus der EU-Kommission aus? Aber wer wird denn nun damit drohen, X zu verbieten und @elonmusk vor Gericht ziehen, weil er nicht genug zensiert?“
„Was für ein großer Tag für Europa. Ein Sieg für die Freiheit und die Redefreiheit.“
„Aber hoffen wir, dass der Nachfolger nicht schlechter sein wird.“
„Wen kümmert's? @ThierryBreton ist ein nicht gewählter #Bürokrat.“
„Die Agenda der EU: den Mitgliedsstaaten so viele Kompetenzen wie möglich wegzunehmen und sie nach Brüssel zu geben, ihnen aber so viele Lasten und Verpflichtungen wie möglich aufzuerlegen.“
„Danke, dass Sie zurückgetreten sind. Jetzt können Sie Ihre 1984-Fantasien in Frankreich ausleben.“
„Wir sollten die jungen Generationen zur Meinungsfreiheit ausbilden, und wenn Thierry Breton jemals wieder erwähnt wird, dann als warnendes Beispiel dafür, wie Hybris und Zensur Hand in Hand gehen.“
„Aktualisieren Sie Ihre Twitter-Bio - sie ist irreführend und könnte gegen die EU-Transparenzvorschriften verstoßen.“
„Warum sind Sie noch auf X? Das haben Sie doch gar nicht verdient!“
„Es ist eine Schande, dass Sie der einzige sind, der aus dieser dysfunktionalen EU-Bürokratie austritt.“
„Niemand glaubt das wirklich. Alle haben verstanden, dass Sie Ihren Eintritt in die Regierung Barnier vorbereiten.“
„Wahrscheinlich Ihre erste gute Entscheidung überhaupt - schwierig genug, den Schaden zu reparieren, den Sie verursacht haben.“
Das lange laute Schweigen aus Brüssel deutet darauf hin, dass der brüskierende Abgang Bretons möglichst unter den Teppich gekehrt werden soll. Als Nachfolger Bretons ist jetzt Frankreichs Außenminister Stéphane Séjourné im Rennen. Vielleicht gelingt es von der Leyen also doch noch, ihre neue Kommission schnellstmöglich zu vervollständigen. Ihre Reaktion kam spät. Am Montagabend schrieb die Kommissionpräsidentin schmallippig auf X: „Ich habe den Rücktritt von Thierry Breton zur Kenntnis genommen und akzeptiere ihn. Ich danke ihm für seine Arbeit während seiner Amtszeit als Kommissar. Exekutivvizepräsident @vestager wird das Ressort Binnenmarkt und alle damit verbundenen Aufgaben bis zum Ende der Amtszeit übernehmen.“
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.