Die Auguren sehen das mögliche Auseinanderbrechen der letzten Reste des British Empire. Schotten, Waliser, Engländer und Nordiren gehen im nicht mehr vereinigten Königreich ihre Wege. Begleitet von wirtschaftlichem Niedergang, Milliardenverlusten und Massenarbeitslosigkeit. Während im Finanzplatz London, nach dem Abzug der Banken, Bürofluchten leerstehen und der Immobilienmarkt zusammenbricht.
Das ist lachhaft, genauso wie die stille Hoffnung der Rest-EU, dass Britannien auf Knien herbeirutscht und um Wiederaufnahme bettelt. Halten wir uns doch an den guten Ratschlag des alten Schwerenöters Bill Clinton: „It’s the economy, stupid.“ Damit gewinnt man nicht nur Wahlen. Sondern man kann auch faktenbasierte Prognosen statt haltungsbasierte Unkenrufe abgeben.
Das gesamte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU beträgt rund 13,5 Billionen Euro. Deutschland führt den Reigen mit 3,4 Billionen an. Nummer zwei war Großbritannien mit 2,4 Billionen. Gefolgt von Frankreich, Italien und Spanien. Kellerkinder wie Estland, Zypern oder Malta bringen gerade mal zwischen 25 und 12 Milliarden auf die Waagschale. Nicht mal Peanuts.
Das BIP pro Kopf führt mit weitem Abstand Luxemburg an, knapp 97.000 Euro. Jeder Deutsche stemmt 41.000 Euro, jeder Brite 36.000 im Jahr. Dicht gefolgt vom Franzosen mit 35.000; Italien und Spanien liegen bereits unter dem bisherigen EU-Schnitt, Rumänien mit 10.000 und Bulgarien mit 8.000 liegen auf dem Niveau von Entwicklungsländern.
Das etatistische Frankreich jetzt wirtschaftlich an zweiter Stelle
Schön, dass wir das nun wissen, aber was soll uns das sagen? Drei Dinge. Die wichtigste Erkenntnis: Im riesigen Wirtschaftsgefälle der EU ist ein Mitglied weggefallen, das (nach Deutschland natürlich) der zweitgrößte Nettozahler in den gemeinsamen Topf war. Während Deutschland satte 13,4 Milliarden einspeiste, löhnte 2018 Großbritannien immerhin 7 Milliarden. Griechenland, Ungarn und Polen holten sich zusammen 21 Milliarden ab, was bereits diesen Nettozahlungen entspricht. Insgesamt kassieren 17 EU-Staaten – darunter auch Luxemburg – mehr ein, als sie in den EU-Topf einspeisen. Nur 11 EU-Staaten sind Nettozahler.
Von denen fällt nun der zweitwichtigste weg, was bedeutet, dass auf die verbleibenden Nettozahler deutlich höhere Ausgaben zukommen. Der deutsche Leser darf einmal raten, wen es da am heftigsten treffen wird. Nicht nur hier gerät das europäische Haus zusätzlich in Schieflage. Zweite Erkenntnis: Die Fraktion der Staaten, die nicht hemmungslos an den großen Zitzen der EU hängen, hat sich um ein wichtiges Mitglied verringert.
Zudem ist das etatistische Frankreich zur zweitwichtigsten Wirtschaftsmacht aufgerückt. Präsident Macron wird alleine schon aus innenpolitischen Gründen versuchen, seine Vorstellung eines Europas als Bund von Staaten mit gemeinsamer Fiskalpolitik und Schuldensolidarität durchzusetzen. Das entspricht nicht nur dem zentralistischen Staatsverständnis Frankreichs, sondern wäre auch die Rettung durch Schuldenvergemeinschaftung in der EU.
Diese Verzwergung der EU, dritte Erkenntnis, macht Brüssel bei macht- und militärpolitischen Fragen noch unbedeutender, als es sowieso schon war. Denn die Atommacht Großbritannien verfügt noch über ein einigermassen funktionierendes Militär. Was man von den verbliebenen EU-Staaten nicht wirklich sagen kann. Während Frankreich noch ansatzweise versucht, in seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien einzugreifen, spielen Deutschland, Spanien oder Italien als ernsthafte Militärmächte nun wirklich keine Rolle. Alleine schon, um die NATO, von Macron korrekt als hirntot bezeichnet, nicht völlig zum Papiertiger zu machen, müsste die EU höchlichst daran interessiert sein, ein freundschaftliches Verhältnis zu Großbritannien aufrechtzuerhalten. Denn wie sehr sich Europa auf den großen Bruder USA verlassen kann, ist doch angesichts deren erratischen Präsidenten sehr die Frage.
Unselige Rolle der Haltungs- und Gesinnungsmedien
Stattdessen verhalten sich die Eurokraten nach wie vor wie verschmähte Liebhaber, die diplomatisch nur ungenügend verbrämt Großbritannien nachrufen: Na warte, das hast du nicht ungestraft getan. Dahinter steht auch das Unverständnis der EU-Manager, wie es denn sein kann, dass eine Regierung einen Volksentscheid tatsächlich ernst nimmt. Obwohl das Volk aus Brüsseler Sicht eindeutig falsch entschieden hat. In der EU ist man in solchen Fällen gewohnt, dass die Abstimmung so oft wiederholt wird, bis das Ergebnis passt. Oder dem Volk nach seiner Fehlentscheidung schlichtweg das Recht weggenommen wird, über sein Schicksal mitzubestimmen. So ist’s bei der Europäischen Verfassung geschehen.
Eine unselige Rolle haben, wie in jüngster Zeit leider häufig, die Haltungs- und Gesinnungsmedien gespielt. Sie überboten sich vor und auch noch nach der Brexit-Abstimmung mit apokalyptischen Prognosen für Großbritannien. Dass London, nach New York, weiterhin der wichtigste Finanzmarktplatz der Welt ist – und das auch bleiben wird, was soll’s. Dass selbst Zürich wichtiger ist als Frankfurt oder Paris, wieso soll man sich von Fakten die schöne Untergangsfantasie kaputt machen lassen.
Was wurde da nicht alles an die Wand gemalt. Kilometerlange Schlangen vor dem Eurotunnel. Der Zusammenbruch der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten. Turmhohe Arbeitslosigkeit. Ein Rückgang des BIP um viele Milliarden, vielleicht prozentual sogar zweistellig. Plus natürlich die absolute Unmöglichkeit, sich bis Ende dieses Jahres auf Handelsabkommen zu einigen, wie es unter zivilisierten Staaten eigentlich Brauch sein sollte.
Stattdessen zeigt das BIP der Insel ein stabiles Wachstum seit der Entscheidung, aus der EU auszutreten. Es oszilliert quartalsweise zwischen 1,1 und 2,1 Prozent. Zahlen, nach denen sich die meisten EU-Staaten alle Finger abschlecken würden. Auch die Arbeitslosenquote sinkt kontinuierlich auf rund 3,8 Prozent, also in der Region der USA. Dagegen hat Frankreich 8,6 Prozent, die EU im Schnitt 6,3 Prozent, die Eurozone gar 7,5 Prozent. Dafür sorgen schon alleine Griechenland, Spanien und Italien.
Wollen wir noch die Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit nehmen, ein guter Maßstab für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Da haben wir einen EU-Schnitt von 14,3 Prozent; das geht bei Italien, Spanien und Griechenland bis auf einen Drittel aller Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren hoch, Aussteiger in die florierenden Schattenwirtschaften gar nicht gerechnet. Eine verlorene Generation. In Großbritannien liegt die Zahl bei 11,4 Prozent
Deutschland pumpt erst das Geld, liefert dann die Waren
Sonst noch Fragen? Vielleicht eine letzte Antwort. Trotz allen Untergangsszenarien, die vor allem in den deutschen Medien von "Spiegel" über "Die Zeit" und die "Süddeutsche" und eigentlich alle Wirtschaftsblätter für die britische Wirtschaft ausgemalt wurden, unaufhörlich und unbeeindruckt von Zahlen und Fakten, wuchs das BIP weltweit im Jahr 2019 um rund 3 Prozent. Großbritannien liegt darunter, hat aber immerhin ein doppelt so hohes Wachstum wie Deutschland, das letztes Jahr magere 0,6 Prozent Steigerung auf die Wirtschaftswaage legte.
Gerade fährt in Deutschland die zweitwichtigste Beschäftigungssparte, die Automobilindustrie, mit Skandalen und verschnarchter technologischer Entwicklung gegen die Wand. Mehr Arbeitnehmer hat nur die Helferindustrie, also alle und alles, was sich mit sozialer Umverteilung beschäftigt, wodurch keinerlei Wertschöpfung entsteht. Altersvorsorge, Renten, Infrastruktur mit einer Investitionslücke von einer satten Billion, wieso machen sich all diese Medien Sorgen um Großbritannien – statt um Deutschland? Ach, weil wir Exportweltmeister sind? Ja, toll, wir pumpen den Abnehmern im Euroraum zuerst das Geld, dann liefern wir die Waren, schönes Prinzip. Das kann nicht aufgehen, und wer’s nicht glaubt, sollte mal den Begriff Target2-Salden googeln. Aber bitte vorher einen Beruhigungstee trinken.
Die Briten hingegen können sich weiterhin darüber streiten, ob zuerst die Milch oder der Tee in die Tasse kommt. Oder ob es überhaupt keine Milch braucht. Denn all diese Probleme hat good old Britain nicht. Man war immerhin so intelligent, sich nicht an der Fehlgeburt Euro zu beteiligen. Eine segensreiche Entscheidung, denn die Hoheit über die eigene Währung ist durch nichts zu ersetzen.
Nur so können Länder in der globalisierten Wirtschaft ihre Konkurrenzfähigkeit steuern. Oder aber, sie brechen unter der Schuldenlast zusammen und müssen sich immer wieder zu Tode retten lassen, wie Griechenland, das im künstlichen Koma gehalten wird, weil doch ein Euroland nicht pleite gehen darf. Selbst dann nicht, wenn es pleite ist.
Selbstbestimmung über die Einwanderung
Wird’s also in Großbritannien nicht rumpeln, alles seinen gewohnten Linksverkehr weitergehen? Auch das nicht; das Auseinanderflechten von Handelsbeziehungen, bei denen zusammengeschustert wurde, was nicht zusammengehört, bringt natürlich Unwucht und Stolpersteine mit sich. Aber neben der autonomen Bestimmung über die eigene Währung nach den eigenen Bedürfnissen wollte sich Großbritannien etwas zurückerobern, was innerhalb der EU nicht möglich ist: Selbstbestimmung über die Einwanderung.
Die zur Grundfreiheit, zum Unverzichtbaren geadelte Personenfreizügigkeit in der EU war schon längst vor der Flüchtlingskrise 2015 ein Riesenproblem. Jedem Laien ist augenfällig, dass bei einer Differenz von fast 90.000 Euro Wertschöpfung pro Kopf in der EU wahre Völkerwanderungen stattfinden. Fachkräfte suchen sich besser bezahlte Stellen, damit bluten die sowieso schon angeschlagenen staatlich finanzierten Ausbildungsstätten in Niedriglohnländern aus. Aber auch unqualifizierte Arbeitnehmer machen sich auf Wanderschaft, angezogen durch attraktivere Sozialsysteme in entwickelteren EU-Ländern.
Ob Großbritannien wirtschaftlich weiterhin Erfolg haben wird oder nicht, das steht in den Sternen. Die Chancen dafür sind zumindest seit dem 1. Februar deutlich gestiegen. Was Deutschland betrifft, kann nur eine Steigerung mit Garantie prognostiziert werden: die der Zahlungen in den EU-Topf. Und sonst? Nun, nicht nur Briten kennen den Begriff German Angst. Gemeint ist damit eine negative Sicht auf die Zukunft und Zögerlichkeit. Nun, so von der Schweiz aus betrachtet, der es prächtig geht, nicht obwohl, sondern weil sie auch nicht in der EU ist: diese German Angst ist sehr, sehr berechtigt.