Die EU-Kommission schwingt sich zum obersten Wächter über die Definition von „Desinformation“ im Netz auf. Dies ist gerade im Vorfeld der Europawahl im kommenden Jahr mehr als fragwürdig.
Die Verben „berichten“ und „beichten“ unterscheiden sich nur durch einen Buchstaben. Und auch die Berichte der großen Online-Plattformen wie Google, Meta, Microsoft und TikTok über ihre Maßnahmen zur „Bekämpfung von Desinformation“ erinnern an Beichten, die von der EU-Kommission gnädig abgenommen werden. Absolution wurde den Plattformen jedoch nicht erteilt, denn sie haben sich nach Auffassung der EU-Kommission noch nicht genügend angestrengt, „vollständigere und aussagekräftigere Daten bereitzustellen“. Das geht jedenfalls aus einer am 26. September veröffentlichten Pressemitteilung der EU-Kommission zum „Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation“ hervor.
In diesem Kodex, der 2018 entwickelt und 2022 verschärft wurde, verpflichten sich mittlerweile 44 große Online-Plattformen dazu, der EU-Kommission halbjährlich über ihre Fortschritte bei der „Bekämpfung von Desinformation“ Rapport zu erstatten. Damit erfüllen sie die entsprechenden im Mai 2021 vorgelegten Leitlinien der EU-Kommission, die in dieser Berichtspflicht „einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem transparenteren, sichereren und vertrauenswürdigeren Online-Umfeld“ sieht.
Nun haben also unter anderem Google, Meta, Microsoft und TikTok folgsam mitgeteilt, wie sie im ersten Halbjahr 2023 ihre Verpflichtungen zur Eindämmung der Verbreitung von Desinformation in die Praxis umgesetzt haben. Die nächsten Berichte, die Anfang 2024 veröffentlicht werden sollen – also im Vorfeld der Europawahl -, sollen übrigens spezielle Angaben über die Bekämpfung von Desinformation in Bezug auf Wahlen beinhalten. Der Verhaltenskodex umfasst konkrete Auflagen, die auch mit finanziellen Konsequenzen verbunden sind. So soll dafür gesorgt werden, dass denjenigen, die angebliche Desinformation verbreiten, keine Werbeeinnahmen zugutekommen. Zudem sollen „Faktenprüfer“ für ihre Arbeit in der EU „angemessen entlohnt“ werden. Und die Nutzer der Plattformen sollen „mit besseren Werkzeugen“ gestärkt werden, damit sie „Desinformation leichter erkennen, verstehen und melden können“.
Eine „ständige Taskforce“
Zusätzlich greift das EU-Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, kurz: DSA), das seit dem 25. August dieses Jahres große Online-Plattformen wie z.B. Twitter (jetzt X) dazu verpflichtet, Desinformationen entgegenzuwirken. (Wir berichteten u.a. hier) Plattformen, die wiederholt gegen das Gesetz verstoßen, riskieren Geldbußen von bis zu sechs Prozent ihres Jahresumsatzes. Und es wurde sogar ein „Transparenzzentrum“ geschaffen, zu dem alle EU-Bürger Zugang haben und das einen „einfachen Überblick über die Umsetzung der Maßnahmen des Kodex“ ermöglichen sowie „Transparenz und regelmäßige Aktualisierung der einschlägigen Daten“ gewährleisten soll.
Zuständig dafür ist eine „ständige Taskforce“, die sich aus Vertretern der Unterzeichner, der Gruppe der europäischen Regulierungsbehörden für audiovisuelle Mediendienste, der Europäischen Beobachtungsstelle für digitale Medien und des Europäischen Auswärtigen Dienstes zusammensetzt und von der EU-Kommission geleitet wird. Auf der Webseite dieses Transparenzzentrums sind nun auch die Halbjahres-Berichte der Online-Plattformen veröffentlicht worden.
Věra Jourová, EU-Vizepräsidentin für Werte und Transparenz, wird dazu mit den Worten zitiert:
„Desinformation ist immer noch eines der größten Risiken für den demokratischen Informationsraum in Europa, auch im Zusammenhang mit Russlands Krieg in der Ukraine und den Wahlen. Da sich die Europäerinnen und Europäer darauf vorbereiten, im Jahr 2024 zu den Wahllokalen zu gehen, müssen alle Akteure ihren Beitrag zur Bekämpfung von Desinformation und ausländischer Einflussnahme im Internet leisten, um unsere Online-Debatte zu schützen. Der Kodex erweist sich als nützlich, aber wir alle müssen mehr tun. Ich fordere die Plattformen auf, die im Rahmen des Kodex eingegangenen Verpflichtungen mit vollem Engagement umzusetzen, um die Widerstandsfähigkeit der Demokratie zu gewährleisten.“
Und Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt, kommentierte die Veröffentlichung der Berichte wie folgt:
„Die Integrität von Wahlen ist eine unserer Prioritäten bei der Durchsetzung des Gesetzes über digitale Dienste, da wir in eine Zeit der Wahlen in Europa eintreten. Dabei bauen wir auf unser internes Fachwissen, das wir im Laufe der Jahre auch dank der Erfahrungen mit dem Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation entwickelt haben. Die heute veröffentlichten Berichte liefern wichtige Erkenntnisse darüber, wie Plattformen gegen Online-Desinformation vorgehen, und werden uns bei der Bewertung der Maßnahmen helfen, die VLOPs zur Einhaltung des DSA ergreifen.“ MIT VLOP sind „Very Large Online Platforms“ gemeint, also die Marktführer etwa bei den Suchmaschinen oder den Social Media. Allerdings zeigen sich die Anbieter nicht unbedingt glücklich darüber, von der EU-Kommission als VLOP eingestuft zu werden. Amazon beispielsweise klagte sogar dagegen, als VLOP im Sinne des Digital Services Act bezeichnet zu werden.
Als Beispiele für den Kampf gegen Desinformation aus den Berichten der großen Online-Plattformen werden in der Pressemitteilung der EU-Kommission hervorgehoben:
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Google gibt an, dass es im ersten Halbjahr 2023 verhindert hat, dass Werbung im Wert von mehr als 31 Millionen Euro an Desinformationsakteure in der EU fließt. Google hat in der EU 20.441 politische Anzeigen im Wert von fast 4,5 Millionen Euro geschaltet. 141.823 politische Anzeigen wurden abgelehnt, weil sie die Identitätsprüfung nicht bestanden haben. Außerdem sind von YouTube zwischen Januar und April 2023 411 Kanäle und 10 Blogger-Blogs geschlossen worden, die an der vom russischen Staat geförderten Internet Research Agency (IRA) beteiligt waren.
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Meta vermeldet, dass mehr als 40 Millionen Inhalte auf Facebook und mehr als 1,1 Millionen auf Instagram mit einem Hinweis auf eine Faktenüberprüfung versehen wurden. 95 Prozent der Nutzer, die auf Inhalte mit einem Warnhinweis stießen, dass die Informationen faktengeprüft wurden, entschieden sich dafür, diese nicht anzuklicken. 37 Prozent der Nutzer auf Facebook und 38 Prozent auf Instagram, die beabsichtigten, faktengeprüfte Inhalte zu teilen, entschieden sich dafür, die Weitergabe abzubrechen, wenn sie die Warnung erhielten.Zudem hat Meta seine Faktencheck-Partnerschaften auf 26 Partner ausgeweitet, die 22 Sprachen in der EU abdecken, darunter nun auch Tschechisch und Slowakisch.
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TikTok stellt fest, dass 29,93 Prozent der Nutzer ihre Freigabe abbrachen, wenn sie auf der Plattform auf den Hinweis `ungeprüfte Inhalte´ stießen. Außerdem wurden 140.635 Videos mit mehr als 1 Milliarde Aufrufen von der Plattform entfernt, weil sie gegen die Richtlinie für Fehlinformationen verstießen. Die Faktenprüfungsbemühungen von TikTok umfassen Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch und 17 europäische Sprachen, unter anderem durch eine neue Partnerschaft mit Reuters. In diesem Zusammenhang wurden 832 Videos mit Kriegsbezug einer Faktenprüfung unterzogen, von denen 211 aufgrund der Faktenprüfung entfernt wurden.
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Microsoft informiert darüber, dass mehr als 6,7 Millionen gefälschte LinkedIn-Konten in der EU in der ersten Hälfte des Jahres 2023 an der Erstellung gehindert (Sperrung der Registrierung) oder eingeschränkt wurden. Und die Suchmaschine Bing hat 798.180 Suchanfragen entweder als maßgebliche Informationen gefördert oder als weniger maßgebliche Informationen herabgestuft.
Die Berichte der Plattformen folgen einer Vorlage, die aus 152 Berichtselementen in allen Kapiteln des Kodex besteht. Sie können im „Transparenzzentrum“ einzeln als pdf-Dateien in englischer Sprache heruntergeladen werden und unterscheiden sich allein schon in ihrem Umfang deutlich voneinander. Während etwa der Bericht von Google über den Zeitraum Januar bis Juni 2023 stolze 270 Seiten und derjenige von TikTok 255 Seiten umfasst, kommt Microsoft immerhin auf 190, Meta aber nur auf 137 Seiten. Für das zweite Halbjahr 2022 konnte TikTok übrigens lediglich 164 Seiten vorweisen und Twitter (jetzt X) sogar nur 79 Seiten. Kein Wunder, dass die EU-Kommission besonders mit Twitter (X) unzufrieden war.
Bei ihrer Berichterstattung arbeiten die Plattformen u.a. mit der 2014 eingerichteten Gruppe der europäischen Regulierungsbehörden für audiovisuelle Mediendienste (ERGA) zusammen, die die EU-Kommission bei der Umsetzung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMSD) berät. Weitere Partner sind die 2018 initiierte Europäische Beobachtungsstelle für digitale Medien (EDMO) sowie das Unternehmen TrustLab. Durch „strukturelle Indikatoren“soll die Wirksamkeit des Kodex „für das gesamte Online-Ökosystem in der EU und auf Ebene der Mitgliedstaaten“ bewertet werden. TrustLab hat beispielsweise gerade eine Studie zur Verbreitung von Desinformation auf den wichtigsten sozialen Medienplattformen in Polen, der Slowakei und Spanien durchgeführt, deren Ergebnisse ebenfalls im „Transparenzzentrum“ als 72-seitige Analyse verfügbar sind.
In ihrer Selbstbeschreibung definieren sich die Unterzeichner des Verhaltenskodex als „eine breite Gruppe von Online-Plattformen, Akteuren der Werbeindustrie, Faktenprüfern, Forschungseinrichtungen und Organisationen der Zivilgesellschaft“, die im Juni 2022 „als Reaktion auf den Europäischen Aktionsplan für Demokratie und die Leitlinien der Europäischen Kommission" gemeinsam einen neuen Verhaltenskodex für Desinformation verfasst und unterzeichnet haben, um Desinformation und Fehlinformation im Internet zu bekämpfen.
Letztlich handelt es sich bei dem „Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation“ offenbar in erster Linie um einen wohl kalkulierten vorauseilenden Gehorsam, durch den sich die Plattformen Vorteile etwa bei der Einstufung im Rahmen des EU-Gesetzes über digitale Dienste versprechen. Die Rolle der EU-Kommission als oberster Wächter über die Definition von „Desinformation“ ist allerdings gerade im Vorfeld der Europawahl im kommenden Jahr mehr als fragwürdig.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.
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Dies ist die autobiografische Aufarbeitung von Erlebnissen des Journalisten Boris Reitschuster, der nichts anderes tat als kritisch zu berichten, um nicht – wie andere – wegzuschauen und deshalb geächtet wurde. Ein Sittenbild Deutschlands, wo Zermürbung, Zersetzung und Vertreibung wieder zu anerkannten Mitteln im Kampf um die Meinungshoheit geworden sind. Mehr zum Buch hier im Achgut-shop.