Die Personalentscheidungen im Brüsseler Gewaltenkonglomerat weisen in eine Richtung: Mehr Macht für Brüssel, weniger Demokratie für die Völker Europas.
Fast schon wie eine Fußnote in den Nachrichten kam die Bestätigung: Die Granden der EU haben sich darauf verständigt, dass die amtierende Kommissionspräsidentin von der Leyen ein weiteres Mandat erhält, der bisherige langjährige portugiesische Ministerpräsident Costa Präsident des Rates und die estnische Ministerpräsidentin Kallas Außenbeauftragte der EU werden solle.
Die Bürger Europas dürfen und müssen sich fragen, welche Rationalität und welche Legitimität dieser Entscheidung zugrunde liegen:
– Costa, mehrmals wiedergewählter Ministerpräsident aus Portugal, musste wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten. Für Brüssel scheint er die richtigen Voraussetzungen mitzubringen, im Übrigen wird damit den Sozialdemokraten Satisfaction erteilt.
– Die telegene estnische Ministerpräsidentin hat bei der Vertretung der Interessen ihres Landes bislang so getan, als ob der russische Einmarsch in ihr Land morgen bevorstehe. Ihre Außenpolitik war darauf gerichtet, NATO und EU für estnische Interessen in Stellung zu bringen. Ob sie zwischen den Interessen ihres Landes und den undefinierbaren Interessen der Europäischen Union zu unterscheiden vermag, werden wir sehen. Jedenfalls ist die Ernennung einer Außenbeauftragten, deren Land wenig Ressourcen in die EU einbringt und höchst verwundbar ist, für die Legitimität einer „EU-Außenpolitik“ problematisch.
– Am kontroversesten dürfte die Bestätigung von Frau von der Leyen sein. Sie war 2019 mit den Stimmen der ultrarechten polnischen Nationalisten vom Europäischen Parlament bestätigt worden und führte sich vom ersten Tage an wie eine Zarin auf. Vorwürfe gegen sie bei der zentralen Beschaffung von Impfstoffen durch die EU sind weiterhin ungeklärt. Das Verfahren der europäischen Staatsanwaltschaft ist auf den 9.12.24 verschoben worden, und zwar kurz vor der Wahl zum Europäischen Parlament. Von der Leyen repräsentiert wie gehabt nur sich selbst. Niemand verkörpert mehr das Machtstreben um seiner selbst willen wie jene Dame, die 1958 in Brüssel geboren wurde und im Ambiente von Diplomaten und supranationalen Organisationen aufwuchs. Ihr Lobbying für weitere EU-Schulden – gegen den Willen der Bundesregierung und entgegen der Wünsche der Deutschen – veranschaulicht bereits jetzt, was zu befürchten sein wird: Eine Feindin der deutschen Steuerzahler wird zur wichtigsten Gestalterin der EU.
Höllenritt in den Finanzkollaps
Von diesen drei Politikern darf nicht erwartet werden, dass sie den Völkern Europas Tribut zollen. Sie fühlen sich berechtigt und verpflichtet, „das europäische Einigungswerk“ zu vollenden: EU-Erweiterung im West-Balkan, Mitgliedschaft der Ukraine, Verteidigungskommissar und zentrale Organisation der Verteidigungswirtschaft. Die Lust dieser Brüsseler EU-Machthaber an der Macht wird nur durch den Abgrund gestoppt. Vielleicht reicht es auch aus, hin und wieder in den Abgrund zu schauen: wenn durch eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU auf einen Schlag 32 Millionen Hektar Agrar-Fläche zum gemeinsamen Markt kommen mit Großbetrieben, die es in Westeuropa überhaupt nicht gibt. Dann dürften die europäischen Landwirte Ausgleichszahlungen in einem Umfang verlangen, der den bisherigen Agrarhaushalt der Gemeinschaft der EU sprengt. Der Machtwahn der EU-Granden stößt also dann erst an Grenzen, wenn das System in Brüssel kollabiert.
Dafür werden Megaprojekte der EU vorangetrieben. Vor allen Dingen durch Frau von der Leyen werden die Weichen gestellt. Die EU gelangt mit der Rückzahlung der NGEU-Anleihe ab 2028 an eine Weggabelung. Dann müsste – mit welchen Mitteln? – die 800 Milliarden-Schuld der EU zurückgezahlt werden. Spätestens dann wird sich die Kommission nicht schämen, noch mehr Gemeinschaftsmittel zu verlangen. Dies wäre nicht nur der definitive und unumkehrbare Schritt in die Schuldenunion, sondern der Höllenritt in den Finanzkollaps. Die nunmehr ernannten Repräsentanten des Gewaltenkonglomerat – Costa, Kallas, von der Leyen – werden davon nicht betroffen sein, sie können sich als große Gestalter des europäischen Einigungswerks gerieren, ohne vor der Geschichte Rechenschaft ablegen zu müssen. Dies ist Brüssel: Ein System ohne Rechenschaftspflicht, nicht einmal die Spurenelemente von Demokratie existieren hier noch.
Die Bürgerinnen und Bürger der EU vermögen kaum nachzuvollziehen, wieso derartige Persönlichkeiten, insbesondere von der Leyen, ein Mandat erhalten – und damit Vertrauen erfahren sollen. Die Entscheidungsprozesse in Brüssel haben sich von den Völkern Europas vollständig emanzipiert. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist bestenfalls ein äußerer Anlass, um Demokratie vorzutäuschen. Im Übrigen haben die Bürger nichts zu entscheiden. Sie dürfen Listen von Parteien ankreuzen und dann gespannt sein, was die selbst erklärten Gewinner bei diesem Spiel schließlich für Koalitionen bilden. Die demokratisch inspirierte Skepsis de Gaulles gegenüber Brüssel und seine Ablehnung des Verhältniswahlrechts beruhten auf dem ehrenvollen Grundsatz: das Selbstbestimmungsrechts der Völker ist unantastbar. Das schert die EU-Granden einen Kehricht. Wie formulierte Franz-Ludwig Graf Stauffenberg 2008: „Europa hat das Volk verloren“. (1)
Dr. jur. Markus C. Kerber ist Professor für Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin. Er gründete das Institut für Verteidigungstechnologie, Militärökonomik und Geopolitik (www.ivsg.de) und den Thinktank Europolis.
Der Verfasser ist Autor der Schrift „Führung und Verantwortung: Das Strategiedefizit Deutschlands und seine Überwindung“, die hier im Achgut-Shop erworben werden kann.
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Anmerkung:
(1) Kerber u.a., Der Kampf um den Lissabon-Vertrag, Stuttgart 2010 S. 178 ff.