Der EU-Bericht "zur Lage der Energieunion" macht anschaulich, wie über die Köpfe der Deutschen hinweg ein sozialistisches Energieparadies geschaffen werden soll. Die Verpflichtung gegenüber dem Planeten ist alles, die gegenüber den Menschen nichts.
Ohne Energie ist alles nichts. Das schwant vielleicht sogar der demnächst aus dem Amt scheidenden Noch-EU-Kommission. So versucht sie, in ihrem am 11. September veröffentlichten Bericht zur Lage der Energieunion ein möglichst positives Bild ihrer Energiepolitik zu zeichnen. In gewohnt überheblicher Manier lobt sie sich sowohl im Bericht als auch in der entsprechenden Pressemitteilung ausgiebigst selbst: Während ihrer Amtszeit sei es der EU-Kommission gelungen, „kritischen Risiken in Bezug auf ihre Energieversorgungssicherheit standzuhalten, die Kontrolle über den Energiemarkt und die Energiepreise wiederzuerlangen und den Übergang zur Klimaneutralität zu beschleunigen“. Und Kadri Simson, baldige Ex-EU-Kommissarin für Energie, bemerkte: „Die EU ist gut gerüstet, um die tiefgreifenden Veränderungen und Herausforderungen, die vor uns liegen, zu bewältigen und ihren Verpflichtungen gegenüber dem Planeten und ihren Bürgerinnen und Bürgern nachzukommen. Unsere Energieunion ist stärker und grüner als je zuvor.“
Die Verpflichtungen der EU gegenüber „dem Planeten“ zählen demnach also mehr als diejenigen gegenüber ihren Bürgern. Und die Energieunion hat nach Auffassung Simsons vor allem „grün“ zu sein. Daran wird sich allerdings auch in Zukunft nichts ändern: Dan Jørgensen, designierter neuer EU-Kommissar für Energie und Wohnungswesen („Energy and Housing“), soll sich nämlich nach wie vor in erster Linie um Investitionen in saubere Energie kümmern und als erster Kommissar für Wohnungsbau überhaupt dafür sorgen, dass die Energieeffizienz im Bauwesen verbessert wird.
In ihrem „Mission Letter“, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihm schrieb, formuliert sie die Erwartung, dass Jørgensen den RepowerEU-Plans vollständig umsetzt, der unter anderem die Dekarbonisierung der Industrie vorsieht (achgut berichtete). Außerdem soll Jørgensen eine Investitionsstrategie für saubere Energie in Europa („clean energy investment strategy for Europe“) entwickeln, die Maßnahmen zur Mobilisierung von privatem Kapital umfasst. Er soll den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Energiesektor vorantreiben und ein Bürger-Energie-Paket („Citizens Energy Package“) für eine stärkere Beteiligung der Bürger an der Energiewende auf den Weg bringen. Zudem soll er eine paneuropäische Investitionsplattform („pan-European Investment Platform“) für erschwinglichen und nachhaltigen Wohnungsbau einrichten.
In Hinblick auf die von der EU geplanten Maßnahmen für Gebäude der „schlechtesten Energieeffizienzklassen“ und den Einsatz von Smart-Meter zur Ermittlung des Stromverbrauchs verheißt die Zusammenlegung der Ressorts Energie und Wohnungswesen nichts Gutes. Wir erinnern uns: Um die vollständige Dekarbonisierung des Gebäudesektors bis 2050 zu erreichen, muss der durchschnittliche Primärenergieverbrauch von Wohngebäuden laut EU-Vorgaben bis 2030 um 16 Prozent und bis 2035 um 20 bis 22 Prozent gesenkt werden. Dabei müssen wiederum mindestens 55 Prozent der Reduzierung des durchschnittlichen Primärenergieverbrauchs durch die Renovierung derjenigen Gebäude mit der schlechtesten Gesamtenergieeffizienz umgesetzt werden (achgut berichtete). Allerdings fällt die Kategorie „schlechteste Gesamtenergieeffizienz“ in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich aus: Häuser, die in Deutschland in der schlechtesten Effizienzklasse eingestuft werden, würden in den meisten anderen EU-Ländern deutlich besser bewertet. Und mittels Smart-Meter könnte sogar direkter Einfluss auf den Stromverbrauch der EU-Bürger ausgeübt werden (achgut berichtete).
Doch zurück zur Energieunion. Die Kommission lässt u.a. folgende Erfolgsmeldungen verlauten: „Bei der Erzeugung erneuerbarer Energie werden immer neue Kapazitätsrekorde erzielt. Im ersten Halbjahr 2024 wurde die Hälfte des Stroms der EU aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt. Der Anteil von russischem Gas an den EU-Importen ging bis Juni 2024 von 45 Prozent im Jahr 2021 auf 18 Prozent zurück, während die Importe von vertrauenswürdigen Partnern wie Norwegen und den USA gestiegen sind. Zwischen August 2022 und Mai 2024 haben wir die Gasnachfrage um 138 Milliarden Kubikmeter gesenkt.“
Ein größerer Wärmepumpenmarkt
Und weiter: „Auf internationaler Ebene leitete die EU die globale Initiative zur Verdreifachung der Kapazitäten für erneuerbare Energie und zur Verdoppelung der Maßnahmen für Energieeffizienzverbesserungen im Rahmen der Abkehr von fossilen Brennstoffen, die von allen Vertragsparteien auf der COP 28 in Dubai gebilligt wurde. Im Bereich der erneuerbaren Energie wurden erhebliche Fortschritte erzielt. Windkraft hat die Erzeugung aus Gas hinter sich gelassen und ist nun nach der Kernkraft die zweitgrößte Stromquelle der EU; insgesamt wurden im ersten Halbjahr 2024 in der EU 50 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt. Der Primärenergieverbrauch der EU fiel 2022 um 4,1 Prozent und setzte damit seinen Abwärtstrend fort. Dennoch müssen die Bemühungen um Energieeffizienz weiter verstärkt werden, damit die EU das Ziel einer Verringerung des Endenergieverbrauchs um 11,7 Prozent bis 2030 erreichen kann. Weitere Verbesserungen sind erforderlich, nicht zuletzt bei der umfassenden Elektrifizierung von Heizungsanlagen und der Renovierungsquote von Gebäuden.“
Darüber hinaus stehe die EU der Ukraine weiterhin unermüdlich zur Seite: Die Synchronisierung der Netze der Ukraine und der Republik Moldau mit dem kontinentaleuropäischen Netz habe dazu beigetragen, das ukrainische Stromnetz zu stabilisieren, und die Kapazität für den kommerziellen Handel an den Strombörsen habe inzwischen 1,7 Gigawatt erreicht. Dadurch könne die Ukraine auch Notimporte in Anspruch nehmen. Allein über den Fonds zur Unterstützung des Energiesektors der Ukraine seien bis Juni 2024 mehr als 500 Millionen Euro mobilisiert worden. Darüber hinaus werde die mit 50 Milliarden Euro ausgestattete Ukraine-Fazilität der EU eine kohärente Förderung bereitstellen, um die Erholung und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum der Ukraine bis 2027 zu unterstützen.
Für eine beschleunigte Entwicklung von Netto-Null-Technologien und zur Stärkung der Fertigungsbasis der EU müsse auf Partnerschaften mit der Industrie gesetzt werden. Auch der Innovationsfonds mit einem geschätzten Budget von rund 40 Milliarden Euro bis 2030 spiele eine entscheidende Rolle. Die Endkundenpreise für Gas und Strom lägen zwar immer noch über dem Vorkrisenniveau, seien aber im Vergleich zu den Höchstständen im Jahr 2022 deutlich gesunken. Der Wärmepumpenmarkt sei in den letzten 10 Jahren gewachsen, mit einer Beschleunigung in den Jahren 2021 und 2022 im Zusammenhang mit den Gaspreisen und dem Ukraine-Krieg: Der Absatz sei von etwa 700.000 Einheiten im Jahr 2015 auf 1,5 Millionen im Jahr 2020 gestiegen und habe sich auf 2,75 Millionen im Jahr 2022 beschleunigt.
Fünfjahresplan für grünen Wasserstoff
Das klingt fast so, als wäre die EU-Kommission geradezu erfreut über die russische Invasion in die Ukraine, weil dadurch etwa der Wärmepumpenmarkt angekurbelt werden konnte. Hingegen bedauert die Kommission, dass die Nachfrage nach grünem Wasserstoff geringer ausfällt als erwartet. Um sowohl die Nachfrage als auch das Angebot anzukurbeln, habe die Europäische Wasserstoffbank aber eine erste erfolgreiche Runde von EU-Auktionen durchgeführt, bei denen fast 720 Millionen Euro an sieben Projekte für erneuerbaren Wasserstoff in Europa vergeben worden seien, die nun in den ersten 10 Betriebsjahren 1,6 Millionen Tonnen erneuerbaren Wasserstoff produzieren sollen. Noch vor Ende des Jahres soll es eine zweite Auktion mit einem aufgestockten Budget von 1,2 Milliarden Euro geben, um das „industrielle Ökosystem für Wasserstoff“ in Europa zu unterstützen. Die europäische Elektrolyseur-Herstellungskapazität sei von 4,2 GW im Jahr 2022 auf 6,8 GW im Jahr 2023 gestiegen und werde bis Ende 2024 voraussichtlich 12,4 GW erreichen. Darüber hinaus sei ein Pilotmechanismus geplant, der für fünf Jahre gelten und die Entwicklung des europäischen Wasserstoffmarktes unterstützen soll, sodass bis 2030 in der EU mindestens 50 „Hydrogen Valleys“ im Bau befindlich oder schon in Betrieb sein sollen.
Durch die Genehmigung von „vier Wellen wichtiger Projekte von gemeinsamem europäischem Interesse“ (Important Projects of Common European Interest, kurz: IPCEI), die öffentlichen Investitionen in Höhe von 18,9 Milliarden Euro entsprechen, werde die Einführung von Großprojekten unterstützt. Bereits Anfang 2021 wurde nämlich das IPCEI Wasserstoff ins Leben gerufen, wobei die zahlreichen Projekte von Unternehmen aus 23 europäischen Ländern nach thematischen Schwerpunkten in vier sogenannten Wellen gebündelt werden: Technologie (Hy2Tech), Industrie (Hy2Use), Infrastruktur (Hy2Infra) und Mobilität & Transport (Hy2Move). Diese Projekte betreffen die gesamte Wertschöpfungskette im Bereich der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie.
Mit anderen Worten: Das Zentralkomitee... pardon... die EU-Kommission entwirft einen Fünfjahresplan, um die Nachfrage nach und das Angebot von grünem Wasserstoff anzukurbeln. So ganz rund läuft es bei den Mitgliedstaaten offenbar noch nicht, denn im Bericht wird ausdrücklich daran erinnert, dass alle Mitgliedstaaten so bald wie möglich ihre endgültigen aktualisierten nationalen Energie- und Klimapläne vorlegen müssen, um sicherzustellen, dass die Energie- und Klimaziele für 2030 gemeinsam erreicht werden. Auch Deutschland hatte die auf den 30. Juni datierte Frist zur Einreichung seines Klimaplans nicht eingehalten und lieferte erst im August nach.
Keine schnellen Aternativen für Kohle, Öl und Erdgas
Der deutsche Klimaplan umfasst übrigens stolze 417 Seiten und schreibt das Ziel vor, bereits bis 2045 eine Netto-Treibhausgasneutralität zu erreichen. Es finden sich Sätze darin wie: „Nach dem am 18. November 2023 in Kraft getretenen Energieeffizienzgesetz soll der Endenergieverbrauch (EEV) Deutschlands im Vergleich zum Jahr 2008 bis zum Jahr 2030 um mindestens 26,5 Prozent auf einen Endenergieverbrauch von 1.867 Terawattstunden gesenkt werden, der Primärenergieverbrauch (PEV) um mindestens 39,3 Prozent auf einen Primärenergieverbrauch von 2252 Terawattstunden.“ Außerdem soll der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch in 2030 als deutscher Beitrag zum EU-2030-Ziel auf mindestens 42,5 Prozent gesteigert werden.
Zusätzlich eröffnete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen 26 Mitgliedstaaten – darunter ebenfalls Deutschland –, weil diese die überarbeitete Erneuerbare-Energien-Richtlinie in Bezug auf vereinfachte und schnellere Genehmigungsverfahren nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt haben. Die überarbeitete Erneuerbare-Energien-Richtlinie (Richtlinie (EU) 2023/2413 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2018/2001) war im November 2023 in Kraft getreten und regelt u.a. die Vereinfachung und die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren sowohl für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien als auch für Infrastrukturprojekte zur Einspeisung der zusätzlichen Energie aus erneuerbaren Quellen in das Stromnetz. Nur Dänemark hatte die vollständige Umsetzung der Bestimmungen fristgerecht bis zum 1. Juli 2024 gemeldet. Noch bis zum 25. Oktober läuft übrigens gerade eine Bürgerkonsultation zu einem EU-Rechtsakt über die Methode zur Bestimmung der Treibhausgaseinsparungen durch CO2-arme Brennstoffe. Vielleicht möchte sich ja jemand beteiligen.
Dem Länderbericht für Deutschland über den Stand der Energieunion 2024 ist zu entnehmen, dass der Anteil erneuerbarer Energien in Deutschland zwischen 2010 und 2022 lediglich von 10 auf 19 Prozent gestiegen und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen mit 78,8 Prozent im Vergleich zum EU-Durchschnitt von 69 Prozent nach wie vor hoch ist. Dazu trägt vor allem der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie bei. Welche Folgen aber hätte die angestrebte Dekarbonisierung der Energiegewinnung bei gleichzeitigem Verzicht auf Kernenergie in der Realität? Dr. Patrick Moore, einstmals Mitbegründer von Greenpeace, ist sich sicher: „Im Grunde wäre es das Ende der Zivilisation, wenn 85 Prozent der Weltenergie in Form von Kohle, Öl und Erdgas in den nächsten etwa 10 Jahren wegfallen würden. Wir haben keine alternativen Energien, die diese schnell ersetzen könnten.“
Ohne Energie ist alles nichts.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.