EU akzeptiert Brexit-Realitäten, Boris nicht allein zu Haus

Ein Artikel in der linksgerichteten niederländischen Zeitung Het Parool titelte diese Woche „Trotz Brexit bevorzugen multinationale Unternehmen London gegenüber Amsterdam oder Paris“. Der Artikel berichtet, dass „der befürchtete Abgang [der Unternehmen] aus Großbritannien nicht wie erwartet eintritt“, und hebt die Tatsache hervor, dass Unilever sich dazu entschlossen hat, „vollständig britisch zu werden und seine [englisch-holländische] Doppelstruktur [die seit 90 Jahren besteht] aufzugeben. Sein Hauptsitz wird London und nicht Rotterdam sein, trotz der eifrigen Bemühungen von Premierminister Mark Rutte.“

Berichten zufolge übertreffen die Chancen, die die Londoner Kapitalmärkte bieten, alle Risiken, die sich aus dem Brexit ergeben, ein Element, das auch eine Rolle bei einer möglichen Verlegung des Hauptsitzes von Shell von den Niederlanden nach Großbritannien spielen könnte.

Der Artikel weist weiter darauf hin, dass trotz der Standortverlagerungen einiger großer Unternehmen (wie Dyson, Honda und Panasonic) die Firmen Großbritannien nicht überstürzt verlassen haben. Mindestens 1.441 Unternehmen sind sogar vor kurzem nach Großbritannien umgezogen, so die im November veröffentlichte offizielle Statistik.

Multinationale Konzerne fürchten die Labour-Partei weniger

Goldman Sachs hat vor kurzem beschlossen, für 1 Milliarde Pfund in London einen neuen Hauptsitz zu bauen. Die Firmen in der Hauptstadt machen sich weniger Sorgen um den Brexit, „da sie Millionen von Pfund für Vorkehrungen für etwaige negative Folgen ausgegeben haben“. Vor der Pandemie gab der IWF eine Prognose heraus, dass die britische Wirtschaft in den ersten zwei Jahren nach dem Brexit die Euro-Zone überflügeln würde, und kam zu dem Schluss, dass Großbritannien trotz des Risikos, dass kein Deal zustande kommt, „selbst im Auge eines Sturms ein Magnet für Kapital bleibt“.

Bemerkenswerterweise fügt der Artikel hinzu, dass „die Anwesenheit von Premierminister Boris Johnson beruhigend ist, obwohl seine Handlungen während der Pandemie Anlass zur Sorge geben. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin, Theresa May, kommt er mit den Unternehmen gut zurecht. Er ist gegen Regulierung und für freien Handel. Multinationale Konzerne fürchten nun auch die Labour-Partei weniger, da der gemäßigte Keir Starmer zu ihrem Vorsitzenden gewählt wurde“.

Analysen wie diese zeigen, dass sich das europäische Festland nun endlich mit dem Brexit arrangiert, und zwar auf der Grundlage der Fakten vor Ort.

Es gibt jedoch einen Vorbehalt gegenüber Importen: Es ist immer noch wichtig, welche Art von Handelsvereinbarung das Vereinigte Königreich vor dem 1. Januar mit der EU vereinbart. Wird es ihm gelingen, die Regulierungs- und Handelssouveränität mit der Aufrechterhaltung des Zugangs zu den kontinentalen Märkten in Einklang zu bringen? Wird es ihm gelingen, den unvermeidlichen Verlust eines gewissen Maßes an Marktzugang durch wettbewerbsorientierte Maßnahmen, wie die Schaffung von Freihäfen, auszugleichen? Das bleibt abzuwarten.

Wirtschaftliche Schäden am Ende des Jahres vermeiden

Eine entscheidende Frage in den laufenden Verhandlungen ist, inwieweit die EU ihr Beharren auf Mindeststandards für „gleiche Wettbewerbsbedingungen“ bei britischen Regelungen im Gegenzug für einen fortgesetzten Marktzugang für britische Unternehmen aufgeben wird. Ein Verbot staatlicher Beihilfen ist Bestandteil der „gleichen Wettbewerbsbedingungen“, aber die EU hat diesbezüglich gerade eine gewisse Flexibilität signalisiert.

In Anbetracht der Art und Weise, wie die EU-Kommission Steuervergünstigungen oft als „staatliche Beihilfen“ uminterpretiert, ist dies eine willkommene Entwicklung. Ein Kompromiss könnte die Schaffung eines „Streitbeilegungsmechanismus“ für alle staatlichen Beihilfen, die britischen Unternehmen gewährt werden, sein, anstatt London sofort zur Einhaltung der EU-Vorschriften zu verpflichten. Dieses Konzept sollte vielleicht auch auf den Marktzugang im Allgemeinen angewandt werden. Das Vereinigte Königreich könnte zustimmen, dass es nach Dezember weiterhin alle EU-Vorschriften, die es in die innerstaatliche Gesetzgebung übernommen hat, beibehält, aber sich verpflichtet, die EU jedes Mal zu benachrichtigen, wenn es beabsichtigt, abweichende Vorschriften zu erlassen. Dieses Zugeständnis sollte natürlich davon abhängen, dass die EU wesentlich mehr Marktzugang gewährt als bisher.

Auf diese Weise könnten Klippen, Zölle und wirtschaftliche Schäden am Ende des Jahres vermieden werden. Die Einbeziehung der EU in den britischen Gesetzgebungsprozess könnte auch dazu beitragen, die britischen Gesetzgeber darüber zu informieren, wie sie den Verlust an Marktzugang minimieren können, wenn sie von den EU-Vorschriften abweichen. Bei Chemikalien könnte sich die britische Regierung aufgrund der Bedeutung des EU-Marktes einfach dafür entscheiden, vor unterschiedlichen Standards für chemische Produkte zurückzuschrecken. Bei der digitalen Innovation könnte das Vereinigte Königreich entscheiden, dass es sich nicht lohnt, britische Innovatoren mit der GDPR (DSGVO) und anderen ähnlich innovationshemmenden Zwangsjacken zu behindern, und somit von der EU abweichen.

Sich von den massiven Schäden der Pandemie erholen

Im Juli schloss Großbritannien einen Kompromiss, indem es statt eines Flickenteppichs von sektorspezifischen Vereinbarungen einen umfassenden Governance-Rahmen akzeptierte, und die EU-Seite zeigte sich – zumindest laut Brexit-Verhandlungsführer David Frost – hinsichtlich der Rolle des Europäischen Gerichtshofs flexibel. Wenn es den beiden Seiten gelingt, ihre Fragen zum Thema „gleiche Wettbewerbsbedingungen“ zu klären, bleibt als letzter großer Knackpunkt nur noch der Zugang zur Fischerei. Ein EU-Diplomat hat gegenüber Reuters erklärt, dass „die Fischerei nicht alles zunichte machen wird“, was wahrscheinlich richtig ist, schon allein deshalb, weil das Vereinigte Königreich nicht in der Lage wäre, alle Fische zu konsumieren, die es in seinen eigenen Gewässern fangen darf.

Wenn all dies aus dem Weg geräumt ist, können sich sowohl die EU als auch das Vereinigte Königreich darauf konzentrieren, sich von den massiven und anhaltenden Schäden zu erholen, die die Pandemie angerichtet hat.

Jetzt, da die Europäer endlich zu der Einsicht gelangen, dass der Brexit nicht die vollständige Katastrophe sein wird, die viele von ihnen ursprünglich vorhergesagt hatten, und dass Großbritannien nach dem Brexit nicht die verzweifelt abhängige und hilflose Insel sein wird, die sie sich vorgestellt hatten, sollten sie zu Gesprächen bereit sein.

Der Artikel erschien ursprünglich im Spectator.

 

Pieter Cleppe ist ein unabhängiger Publizist mit Sitz in Brüssel. Er ist Non-Resident Fellow der „Property Rights Alliance“. Twitter: @pietercleppe.

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Jochen Lindt / 14.08.2020

Die winzige, etwa 3 qkm große “City of London” ist ein Gebiet mit völliger Steuerfreiheit vom Vereinigten Königreich. Eine Steueroase.  Erfolgsmeldungen aus der “City of London” haben für das UK etwa denselben Stellenwert wie Berichte aus Monaco für die République française.  (P.S:  Ich bin in UK zur Schule gegangen. Es war großartig. Aber heute liegt das Land am Boden. Eine Stipvisite in Birmingham erinnerte mich an die DDR anno 1989.  Und das war vor Corona und Brexit).

Wolfgang Richter / 14.08.2020

@ Peter Robinson - Erinnert sei auch an den Subventionsvagabunden NOKIA, der seinerzeit das Werk in Bochum schloß und nach Rumänien abwanderte, weil hier der Zuwendungsrahm abgeschöpft war, in Rumänien neben niedrigeren Löhnen weitere Subventionen lockten. Und Dld. wird gerade zur Staatswirtschaft transferiert. Die politischen Entscheider diesseits des Kanals scheinen von reichlich Scheuklappen des Denkens beengt.

Wolfgang Richter / 14.08.2020

“” anhaltenden Schäden zu erholen, die die Pandemie angerichtet hat.” Die Schäden haben ja wohl die politischen Entscheider mit ihren Überreaktionen verursacht, vielfach nach Mediziner- und Beamteneinschätzung (Papier des geschaßten Abteilungsleiters aus Drehhofers Ministerium) einen satten Fehlalarm hingelegt. Dazu ein Schwenk, heute nahezu das gesamte Spanien (außer Kanaren) und in Frankreich Paris und Marseille als Corona-Risiko-Gebiete eingestuft. Und wenn man die Bilder von dort guckt, strenge Aufenthaltsregeln und Maskenpflicht selbst auf der Straße, damit stetig steigende Infektionszahlen. Da kann man dann als Laie auf die Idee kommen, daß die verordneten Maßnahmen seitens der Politik offenbar kontraproduktiv sein, statt die Verbreitung des Virus zu hemmen, es eher “motivieren” sich erst richtig auszubreiten. Und bei den veröffentlichten Sterbezahlen war es ja ähnlich, die Länder mit den striktesten Regeln bis hin zum Verbot, die Wohnung zu verlassen, Einkaufen nur durch eine Person des Haushaltes im nächst gelegenen Laden führten zum Spitzenplatz bei den gemeldeten Toten (im Verhältnis zur Bevölkerungszahl) , angefangen mit Belgien. Aber ich bin ja kein Ekschpährte, wie z. B. der Soze ohne Fliege, der seinen Unsinn gestern wieder beim Lanz ins Land rustete, wie ich hörte. Also läßt sich die Mehrheit im Lande (=EU) weiter betreuen, ist dankbar und trägt die Schäden, die finanziellen verlagert auf nachfolgende Generationen.

Peter Bernhardt / 14.08.2020

@Karla Kuhn   Der MOLOCH EU erinnert an den “Immerwährende Reichstag .”  Er war von 1663 bis 1806 die Bezeichnung für die Ständevertretung im Heiligen Römischen Reich. Er tagte in Regensburg. Die letzte Tagung des Immerwährenden Reichstags fand im März 1803 mit der Annahme des Reichsdeputationshauptschlusses statt, der die Neuordnung des Reiches anordnete, bis 1806 die endgültige Auflösung des Reiches erfolgte. Es galt das Prinzip der Einstimmigkeit. Bis zu 9 kurfürstliche, 100 fürstliche und 50 reichsstädtische Voten mussten auf einen Nenner gebracht werden, bevor ein Ergebnis stand. “Verzögerungen gehörten zur Verhandlungstaktik.”

Paul Greenwood / 14.08.2020

Coronavirus hat keinen wirtschaftlichen Schaden angerichtet ! Gar keine !  Die Regierung hat Schaden angerichtet und handelt wie eine Besatzungsmacht mit Ausgangssperre. Johnson hat einen grossen Fehler begangen. Er sollte Januar BreXit Vorbereitungen eingeführt haben und Grenzen dicht gemacht. Alle internationale Flüge in einem Flughafen konzentrieren mit Einreisebeschränkungen. Die Umleitung Importwaren auf anderen Häfen um Dover zu entlasten und dann Dover umbauen. Johnson aber ist nicht konsequent - seit Thatcher ist kein PM konsequent gewesen. Grossbritannien ist die Größte Wirtschaft Europas mit eigener Währung.  Alleine durch Abbauen des Handelsdefizits mit Deutschland, Niederländen wird das Pfund stärker. Ohne diese Ubergangsphase 2020 wäre die Lage in Grossbritannien wesentlich besser gewesen - durch Zeitverschwendung mit der EU (die sowieso Art 50 nach ein Handelsabkommen schon ausgehandelt haben sollte) hat er die ganze Misere ermöglicht. Grossbritannien hatte es nicht nötig Art 50 zu verwenden. Wenn May nicht so töricht gewesen ware würde Grossbritannien wesentlich besser durch COVID-19 gekommen sein ohne EU Vorschriften darauf zu achten. Die EU hat nicht mal die Auslagerung Herstellung von Medikamenten nach China verhindert. Xi Jinping hat den ganzen Westen bloss gestellt und die Politik umgekrempelt. China merkt das Macht im Asien jetzt liegt und wie Europa je Einfluss in der Welt wieder erreicht, bleibt unbekannt. Xi hat durch COVID-19 die wirtschaftliche Zukunft des Westens auf Spiel gesetzt und die ahnungslosen Politiker haben Selbstmord begangen

Thomas Brox / 14.08.2020

Für das unfähige, schmarotzende Bürokratiemonstrum EU wäre es ein Alptraum, wenn UK die Tür für Kapital ganz weit aufmachen würde und das strikte Bankgeheimnis garantieren würde, so wie früher die Schweiz. Dazu noch niedrige Steuern, wenig Bürokratie und Schikane, und Entmachtung des EuGH.  Da würden sich Billionen Euro in Bewegung setzten. ++ Da UK eigene Häfen hat, ist es nicht erpressbar, wie zum Beispiel die Schweiz.

Friedrich Neureich / 14.08.2020

Alles Käse, Genossen. Wenn am Ende des Jahres nicht die EU-Forderungen zu 105% erfüllt sind, gibt’s in England einfach die nächste Farbenrevolution zur Einsetzung einer Clique von ultralinken “Aktivisten” ohne Bildung, Erfahrung oder demokratische Legitimation, die das UK umgehend in den Schoß der EU zurückführen, die Grenzen öffnen und die Kraftwerke abschalten werden. Die Franzosen wird es freuen, wenn die Lager von Calais verschwinden, weil die Corbyniten jeden einzelnen Lagerbewohner in Luxusverpflegung in England nehmen.

Gabriele H. Schulze / 14.08.2020

Ich freu mich schon auf meine Schadensfreude.

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