Von Klaus Alfs.
Der Versuch, nicht am Menschen Maß zu nehmen, muss scheitern. Den Anthropozentrismus kann man nicht eliminieren. Es trotzdem zu versuchen, ist so erfolgversprechend wie das Bemühen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Man kann jedoch prüfen, wie aufgeklärt Personen über genau diesen Tatbestand sind. In meinem Buch wollte ich unter anderem zeigen, dass viele Tierethiker und Verhaltensbiologen in dieser Hinsicht unaufgeklärt sind, da sie Tiere unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie ähnlich sie dem Menschen sind. Diese Fixierung ist wissenschaftlich wenig fruchtbar. Unverdrossen reden ethische Vegetarier von „höher entwickelten Tieren“, bemühen ohne Bedenken die Scala naturae mit dem Menschen als Fluchtpunkt – also die alte aristotelische Stufenleiter der Wesen nach dem Grad ihrer „Vollkommenheit“.
Mit „höher“ ist aber ausdrücklich „nicht das hochentwickelte und komplexe Facettenauge der Libelle gemeint, das man für sinnesphysiologisch höher entwickelt halten könnte als jenes der menschlichen Spezies“, betont der Philosoph Herwig Grimm. „Der verzweigte Baum der Evolution hat nicht nur einen, sondern Millionen Kulminationspunkte – nämlich je einen in jeder auf der Erde lebenden Art“, ergänzt der Mathematiker und Wissenschaftsjournalist Stephen Budiansky: „Die Vorstellung, dass die Fische momentan auf Stufe 21 festsitzen und mit aller Macht versuchen, auf Stufe 22 aufzusteigen, ist aus evolutionsgeschichtlicher Sicht barer Unsinn. Die Fische sind durch Jahrmillionen währende Evolution ihrer eigenen, sehr speziellen ökologischen Nische angepasst. Dazu mussten sie sich ebenso lange entwickeln wie wir. Keineswegs sind sie bloß Beispiele einer halb fertigen Evolution, deren Kulminationspunkt der Mensch (womöglich gar der nordische) wäre.“ Alle Abstufungen, die Tierethiker mit dem Bekenntnis vornehmen, den Anthropozentrismus zu vermeiden, sind damit nichtig.
Dennoch meint der Schweizer Philosoph Jean-Claude Wolf, den „Sentientismus“ verteidigen zu können, indem er über die Empfindungsfähigkeit Folgendes behauptet: „Niemand kann bestreiten, dass diese Fähigkeit in der absteigenden Linie der Evolutionsleiter beträchtlich absteigt.“ Mit „Sentientismus“ ist eine ethische Position gemeint, in der moralische Verpflichtungen nur gegenüber empfindungsfähigen Wesen bestehen. Wolf fügt hinzu, dass „wir“ bei Schimpansen „sogar Interaktionen des Grolls oder Verzeihens nachvollziehen können“, während uns das Leid eines verdurstenden Rhabarbers oder eines verschmutzten Sees „gänzlich unbekannt“ sei. Nun kann man aber mit Fug alles bestreiten, was Wolf hier behauptet. Da es keine Evolutionsleiter gibt, ist es auch nicht möglich, auf einer solchen die Stärke der kognitiven Fähigkeiten abzutragen – schon gar nicht wie auf einem Lineal.
Außerdem mangelt es Wolf offensichtlich an Phantasie. Wenn „wir“ angeblich Interaktionen des Grolls und der Verzeihung bei Schimpansen nachvollziehen können, obwohl es wissenschaftlich sehr fraglich ist, ob man Verhaltensweisen von Schimpansen in diesem Sinne deuten kann, können wir doch auch das Leid eines verdurstenden Rhabarbers oder eines verschmutzten Sees nachvollziehen. Warum denn nicht? Ich habe während der Dürre im letzten Jahr durchaus Mitleid mit den verdorrenden Bäumen empfunden. Sie taten mir leid. Will Wolf mich darüber aufklären, dass mein Gefühl weniger echt sei als seine Empfindungen gegenüber „unseren nächsten Verwandten“? Warum spielt es überhaupt eine Rolle, was wir Menschen nachvollziehen können oder nicht? Warum soll die Grenze moralischer Berücksichtigung ausgerechnet dort gezogen werden, wo „Sentientisten“ sich überfordert fühlen und entnervt den Bettel hinwerfen? Ist es nicht anmaßend, nur diejenigen Entitäten moralisch zu berücksichtigen, deren Regungen wir nachvollziehen können? Was bilden wir Menschen uns nur wieder ein?
„Das Menschliche im Fremden“
Mit Wolfs absteigender Evolutionsleiter und Budianskys Hinweis auf den nordischen Menschen ist die Brücke zum Speziesismus geschlagen, der ja angeblich dem Rassismus strukturell gleicht. Ethischen Vegetariern zufolge würden Menschen Angehörige der eigenen Art entweder nur deshalb bevorzugen, weil sie Menschen sind (unqualifizierter Speziesismus), oder weil sie spezielle Eigenschaften wie Vernunft besitzen (qualifizierter Speziesismus). Dies sei im Prinzip das Gleiche wie zum Beispiel Farbige unqualifiziert zu diskriminieren, weil sie farbig sind, oder qualifiziert zu benachteiligen, weil sie angeblich weniger intelligent sind als Weiße. Vegetarischen Ethikern, die den Anthropozentrismus ablehnen, ist jedoch ein Rückgriff auf alle denkbaren Varianten der Scala naturae nicht gestattet. Tun sie dies, machen sie sich gemäß ihren eigenen Regeln des qualifizierten Speziesismus schuldig.
Zwar lehnen sie verbal eine Bevorzugung des Menschen ab, die nur mit dem Menschsein begründet wird. Doch sie selbst bevorzugen Wesen aufgrund von Eigenschaften, die sie mit Menschen gemeinsam haben. Herwig Grimm meint zwar, hier läge noch kein Speziesismus vor, sondern lediglich „epistemischer Anthropozentrismus“. Doch hebt er selbst hervor, dass die Grundlage für moralische Berücksichtigung hier „das Menschliche im Fremden“ sei. Warum kann man dann nicht auch sagen: Der Mensch wird im Tier aufgrund seines Menschseins beziehungsweise spezifisch menschlicher Eigenschaften bevorzugt? Das, was das Tier mit moralischem Wert ausstattet, ist der Mensch, der in ihm steckt, und gerade nicht, was es vom Menschen unterscheidet. Der Begriff „Speziesismus“ ist ohnehin in seiner Bedeutung schillernd. Er bleibt eine Kampfparole. Insofern kann nie klar gesagt werden, welche Einstellungen und Praktiken schon oder noch als „Speziesismus“ bezeichnet werden sollten.
Der Kampf gegen Anthropzentrismus und Speziesismus wird auf einer widersprüchlichen, irrationalen Basis geführt. Ethische Vegetarier konzentrieren sich in typischer Manier darauf, bei anderen Sachverhalte zu kritisieren, die überhaupt nur in nichtanthropozentrischen und antispeziesistischen Systemen als Defizite erscheinen können. Wer sich des unhintergehbaren Anthropozentrismus voll bewusst ist, fühlt ja keinerlei Verpflichtung, ihn zu bekämpfen. Wenn man der Ansicht ist, dass sich der klassische Humanismus trotz massiver Verwerfungen im Ganzen durchaus bewährt hat, sieht man auch keinen Grund, von ihm abzurücken. Es dennoch zu tun, gliche einem durch Unterbeschäftigung übermütig gewordenen Immunsystem, das gegen den eigenen Körper wütet – nach dem Motto: Wenn ich keinen äußeren Gegner habe, kämpfe ich eben gegen mich selbst. Was können denn andere dafür, dass ethische Vegetarier über ihre eigenen Pantinen in den Quatsch hineinstolpern?
Wo alle Rationalität am Ende ist
Da ihre theoretischen Annahmen unklar und die daraus abgeleiteten Normen paradoxal sind, entsteht eine Spirale der Radikalisierung. Es ist kein Wunder, dass sich die akademischen Vertreter des ethischen Vegetarismus seit eh und je gegenseitig vorwerfen, anthropozentrisch zu argumentieren, Speziesisten zu sein, bloß klassischen Tierschutz zu betreiben. So liefert zum Beispiel der Philosoph und Tierrechtler Gary Steiner einen kurzen Abriss der tierethischen Theoriegeschichte, um aufzuzeigen, dass alle Ansätze – ob von Singer, Regan, Derrida oder anderen – widersprüchlich sind.
Steiner kommt jedoch nicht auf den naheliegenden Gedanken, das gesamte Unterfangen infrage zu stellen oder gar abzublasen, sondern beklagt, dass es nicht radikal genug angegangen werde. Wo alle Rationalität am Ende ist, kommt bei Steiner das Gefühl wieder zu hoher Geltung. „Wir brauchen einen tiefgreifenden Wandel in der Art, wie wir uns hinsichtlich der Ausbeutung der Tiere fühlen (…). Nur dann können wir gemeinsam eine Gesetzgebung ausarbeiten, die den Tieren einen echten moralischen Status einräumt und ihn wirksam schützt.“
Die Frage ist hier, wer diesen tiefgreifenden Wandel braucht? Die Menschen, denen auch ohne ethisches Fachpersonal das Tierleid nicht gleichgültig ist? Oder doch bloß die Tierethiker selber, die mit Steiner nun beim „kosmischen Holismus“ angekommen sind und „Gerechtigkeit zwischen Natur und Mensch“ einfordern? Einen Defekt kann man nicht beheben, indem man ihn mit aller Macht vergrößert. Das Rationalitätsdefizit, das vegetarische Ethiker beim klassischen Humanismus entdeckt haben wollen, ist in Wahrheit ihr eigenes. Wenn der Kosmos des Widersinns nicht unendlich wäre, könnte man darauf hoffen, dass die Ethik nach ihrer Umkreisung des Universums wieder da ankommt, wo sie hingehört: beim Menschen als Maß aller Dinge.
Klaus Alfs ist Autor des soeben neu erschienen Buches "Kritik der vegetarischen Ethik – Wie vernünftig ist der Verzicht?“ (Klaus Alfs, Hofstetten: Eichelmändli Verlag, erschienen am 31.10.2019). Das Buch ist hier bestellbar. Dieser Beitrag ist ein für die Veröffentlichung auf Achgut.com leicht modifizierter Auszug aus diesem Buch.