Friedrich Merz hat flugs eine Brandmauer geopfert, um noch am gleichen Tag die Chance zum zweiten Wahlgang zu bekommen. So ist er nur mit leichter Verspätung Kanzler geworden.
Was war das für ein Tag, dieser 6. Mai 2025? Auf den Tag genau ein halbes Jahr nach dem Zerbrechen der Ampel-Koalition gab es im Reichstag eine Premiere. Friedrich Merz war der erste designierte Bundeskanzler, der im ersten Wahlgang nicht gewählt wurde. Das kam unerwartet und war ein Tiefschlag, mit dem offensichtlich keiner ernsthaft gerechnet hätte. Die Plenarsitzung wurde unterbrochen und die meisten Fraktionen zogen sich zu Beratungen zurück, während sich alle – ob professionelle Politiker oder professionelle Parlamentsjournalisten – erst einmal kundig machen mussten, welches Procedere in einem solchen Fall eigentlich einzuhalten ist. In der deutschen Nachkriegsgeschichte gab es den bis dato noch nicht.
Nur in manchen Landtagen hatten sich Ministerpräsidenten schon mehreren Wahlgängen stellen müssen. Da folgte der zweite Wahlgang dem ersten nahezu auf dem Fuße. Doch für die Kanzlerwahl – so lernten alle Interessierten nun – gelten andere Regeln.
Da gibt es Fristenregelungen, die festlegen, dass es den zweiten Wahlgang frühestens 48 Stunden nach dem ersten geben soll. Zunächst hieß es deshalb auch zeitweise in fast allen Medienberichten, dass es am Dienstag keinen neuen Kanzler mehr geben könne. Doch was sind schon Regeln gegen den Willen von Friedrich Merz und den Seinen, in Regierungsämter zu kommen? Wer sich das Grundgesetz zu seinen Gunsten vom eigentlich abgewählten Bundestag in dessen Restlaufzeit ändern lässt, schreckt auch keine Geschäftsordnung.
Es muss heute noch sein, soll er angeordnet haben und darum kümmerten sich die Funktionäre aus den Koalitionsfraktionen auch prompt. Schnell war klar, dass sich diese Frist mit einer Zweidrittelmehrheit aufheben lässt. Die AfD signalisierte prompt, für eine solche zur Verfügung zu stehen. Aber dürfen CDU und SPD einen Antrag stellen, der mit Hilfe der AfD durchkommen könnte? Da steht selbstverständlich die Brandmauer vor. Also kümmerten sich die Koalitionäre stundenlang darum, mit den anderen Fraktionen im Vorfeld deren Zustimmung auszuhandeln.
Die Brandmauer nach links ist gefallen
Im Prinzip waren Grüne und Linke dazu bereit, aber insbesondere die Linken forderten von Merz eine Gegenleistung, nämlich den deutlichen Bruch des eigentlich gültigen CDU-Unvereinbarkeitsbeschlusses mit der Linken, also das Niederreißen der CDU-Brandmauer nach links, um die nach rechts zu halten.
Zwar verbietet der Unvereinbarkeitsbeschluss nicht, dass es Mehrheiten auch mit Stimmen der Genossen Linkspopulisten gibt, doch gemeinsame Anträge fallen unter ein solches de facto-Verbot. Damit wollte sich die selbsternannte Partei der Mitte den Anschein der Äquidistanz zu Links- und zu Rechtspopulisten geben sowie zu allem, was weiter links- und rechtsaußen liegt.
Die Genossen von der Ex-SED sahen nun ihre Chance, den CDU-Chef zum offenen Bruch dieses Beschlusses zu drängen, indem sie auf einem gemeinsamen Geschäftsordnungsantrag von CDU, SPD, Grünen und Linken bestanden. Sie hatten zu recht einkalkuliert, dass ein Mann wie Merz, der auf dem Weg zur Kanzlerschaft schon viele Prinzipien und Versprechen über Bord geworfen hat, sich auch nicht von einem Unvereinbarkeit-Parteitagsbeschluss aufhalten lässt. Und so kam es, dass dieser Geschäftsordnungsantrag, der Merz den Weg zum schnellen zweiten Wahlgang ebnete, gemeinsam mit den Linken gestellt wurde, damit man die Stimmen der AfD nicht brauchte. Die Brandmauer nach links wurde niedergerissen, um die nach rechts zu halten. Wer kann da noch leugnen, dass Friedrich Merz die Merkelsche Linksdrift der Partei nicht bremsen, sondern fortsetzen will?
Aber darum geht es nicht. Es erscheint wie ein kleiner Treppenwitz, dass dann ausgerechnet dieser Geschäftsordnungsantrag einer war, dem einstimmig von allen Fraktionen von AfD bis Linken zugestimmt wurde. Natürlich nicht ohne zuvor dem Publikum noch eine Geschäftsordnungsdebatte zu bieten, in der der CDU-Redner Steffen Bilger auch noch einmal ausdrücklich den Linken dankte, den schnellen zweiten Wahlgang mit ermöglicht zu haben.
Ein wenig ging der Fall der CDU-Brandmauer nach links in der Aufregung des Tages unter. Vielleicht weil manch einer dachte, die wäre ohnehin schon gefallen? Vor allem aber waren Politiker und Meinungsbildner mit der Frage beschäftigt, wer denn eigentlich Friedrich Merz die Zustimmung verweigert hatte. Waren es unzufriedene Christdemokraten, die sich an den SPD-lastigen-Koalitionsplänen störten? Oder waren es Genossen aus der SPD, die Lars Klingbeil eins auswischen wollten? Alle leugneten. Keiner wollte es gewesen sein.
Start mit einem Alleinstellungsmerkmal
So wundert es nicht, dass es Friedrich Merz im zweiten Wahlgang geschafft hat, zum neuen Bundeskanzler gewählt zu werden. Statt der 310 Stimmen im ersten Wahlgang bekam er nun 325. Das sind zwar neun Stimmen mehr als er zur Kanzlermehrheit braucht, aber drei Stimmen weniger, als Koalitionsabgeordnete anwesend waren. Immerhin hat Friedrich Merz in diesem Amt von vornherein ein Alleinstellungsmerkmal: Er ist der erste Kanzler zweiter Wahl.
Und wir bekommen eine neue Bundesregierung. Eine, die sich noch mit abgewählten Mehrheiten die Lizenz zur grandiosen Neuverschuldung ins Grundgesetz hat schreiben lassen, damit bei der Fortsetzung des deutschen Politikstils, die Welt mit Geld und guten Worten zu beglücken, nicht irgendwann die Mittel ausgehen. Auch die amtliche Extremisten-Einstufung für die größte Oppositionspartei hat noch die alte Regierung an ihren letzten Tagen erledigt. Da kann jetzt das Dreamteam Merz-Klingbeil (oder sollte man besser schon Klingbeil-Merz sagen?) unbeschwert in die Zukunft starten.
Für die Bürger bleibt es wohl bis zum nächsten Koalitionsbruch beim Herumwursteln am Abstieg. Vielleicht werden begleitend dazu noch ein paar neue schöne Formulierungen geschaffen, wie „gutes soziales Abstiegsmanagement“ oder „nachhaltige Wohlstandsverschlankung“.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.