“Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus”, heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Sechs Worte, die den grundlegenden Sinngehalt einer demokratischen Ordnung in aller Kürze beschreiben. Dass deshalb ein gewählter Regierungspolitiker zum Amtsantritt einen Eid leistet, in dem er verspricht, sich zum Wohle ebendieses Volkes einzusetzen, ist folgerichtig, eigentlich in allen demokratischen Systemen üblich und normalerweise kaum erwähnenswert. Die Formulierungen sind nicht immer gleich: Mal ist es das Volk, mal sind es Bürger oder auch die Menschen im Lande auf die Minister und Ministerpräsidenten schwören.
Doch was möchten eigentlich gewählte Volksvertreter dem verfassungsmäßigen Souverän mitteilen, wenn sie beschließen, den Amtseid der Regierungsmitglieder so zu ändern, dass sich die Regierung künftig nicht mehr dem Wohl von Volk, Bürgern oder Menschen verpflichtet? Wenn bei der Abstimmung im Landtag von Nordrhein-Westfalen im Spätsommer eine verfassungsmäßige Mehrheit zusammenkommt, wovon man nach dem einhelligen Votum der Verfassungskommission ausgehen muss, dann schwören die Minister dort künftig nur noch auf das Wohl des Landes und nicht mehr auf das seiner Bürger.
Die Sicht der Verantwortungsträger auf “ihr” Land und die Menschen hat sich verändert
Zu Recht könnten Sie jetzt einwenden, dass wir doch wohl eigentlich ein paar wichtigere Probleme hätten, als die Eidesformel von Ministern. Doch so nebensächlich diese auch erscheinen mag, so ist eine solche Änderung auch ein Indikator dafür, wie sehr sich die Sicht der politischen Verantwortungsträger auf “ihr” Land und die dieses Land besiedelnden Menschen verändert hat. Und dabei geht es mitnichten nur darum, eine bislang angeblich diskriminierende durch eine “diskriminierungsfreie Eidesformel” zu ersetzen.
Mit dieser Begründung hat die Verfassungskommission ja Hand an die Eidesformel gelegt. Die jetzige rot-grüne Regierung soll die letzte gewesen sein, die in Düsseldorf schwören musste, dem “Wohle des deutschen Volkes” zu dienen. “Deutsches Volk”, das klingt sicher so manchem derzeitigen Kabinettsmitglied in Düsseldorf eigentlich viel zu national, völkisch und rechts. Dass das Fundament der Bundesrepublik nur durch das deutsche Volk existiert, das sich “kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz” gegeben habe, wie es in dessen Präambel nachzulesen ist, ficht die Düsseldorfer Eidesreformer dabei offenbar nicht an.
Grenzt also auch das Grundgesetz aus? Kann es kein diskriminierungsfreies deutsches Volk geben? Gehört nicht jeder zum deutschen Volk, der sich hat einbürgern lassen und in diesem Lande seine Volksvertreter wählen kann, egal welche ethnischen Wurzeln, welche Hautfarbe oder welche Weltanschauung er hat? Zumindest darf niemand aus diesen Gründen benachteiligt werden, so steht es in dem vom “deutschen Volk” gegebenen Grundgesetz.Nach den Buchstaben der Verfassung sind Diskriminierungen im “deutschen Volk” demnach theoretisch ausgeschlossen. Wer den Begriff dennoch für diskriminierend hält, dessen Vorstellung vom “deutschen Volk” ist offensichtlich weniger vom Grundgesetz als vielmehr von Blut-und-Boden-Ideologien geprägt. Ironischerweise pflegen manche rot-grüne Politiker diese Vorstellung sehr gern, um sich ein vertrautes Feindbild zu erhalten.
Aber wir wollen den guten Willen nicht verkennen. Es leben doch so viele Nicht-Deutsche im Land, denen man sich ebenso verpflichtet fühlen sollte, argumentierten die rot-grünen Eidesreformer schließlich schon 2013, beim ersten entsprechenden Vorstoß. Damals stimmte der Landtag zwar einem entsprechenden Antrag zu, doch er erreichte nicht die verfassungsändernde Mehrheit, weil sich CDU und FDP gegen die Änderung der Eidesformel wandten. Der CDU-Abgeordnete Thomas Sternberg begründete das seinerzeit ganz nachvollziehbar: Die Formulierung “deutsches Volk” schließe alle hier lebenden Menschen ein, weil sie alle das heutige Deutschland ausmachten und gestalteten. Wer das Wohl des “deutschen Volkes” aber streiche, gebe den Anspruch auf, dass die Menschen hierzulande sich überhaupt noch als Deutschland gestaltende und zugehörige Gemeinschaft verstehen sollen.
Vor drei Jahren sollten sich künftige Minister nach dem Willen der Reformer noch „dem Wohle aller Menschen“ oder „dem Wohle der nordrhein-westfälischen Bevölkerung“ verpflichten. Heute geht es nicht mehr um Volk, Bürger oder Menschen, sondern nur noch um das Land.
Was sollen all die wolkigen Formulierungen?
Was sollen all die wolkigen Formulierungen? Zwischen stimmberechtigten Bürgern eines Gemeinwesens, die feste Bestandteile der dort lebenden Gesellschaft sind, und den Menschen, die sich zeitweise im Lande aufhalten, gibt es nun einmal Unterschiede. Es steht ja wohl außer Zweifel, dass man nicht jeden Reisenden über die Zukunft des Landes, in dem er sich gerade aufhält, mitbestimmen lassen kann. Und jeder, der sich hier dauerhaft niederlässt und Teil dieser Gesellschaft werden möchte, hat die Möglichkeit, mit allen Rechten und Pflichten Bürger dieses Landes zu werden. Ist das Ausgrenzung? Wer hier lebt, ohne Teil dieser Gesellschaft werden zu wollen und die Staatsbürgerschaft dieses Landes verschmäht, hat die Rolle als nicht-mitbestimmungsberechtigter Dauergast selbst gewählt.
Ob ausgrenzend oder nicht, manch einen stört das “deutsche” im deutschen Volk nun einmal. Wenn sich die Volksvertreter in Düsseldorf nun von diesem Gefühl leiten ließen, hätte man dann die Minister nicht künftig mit ihrem Eid einfach auf das Wohl des Volkes oder der Bürger verpflichten können? Das machen andere Bundesländer doch auch. Die NRW-Volksvertreter wollen aber ganz weg vom Volk. Mit dem Volk hat man ja heutzutage auch so seine Probleme, wenn man in der Regierungsverantwortung steht. Die Bürger wählen einem ja zuweilen Parteien ins Parlament und Koalitionspartner an den Hals, die man eigentlich gar nicht mag. Und wenn sie dann mal über eine Sachfrage abstimmen dürfen, dann votiert die Mehrheit auch noch ganz anders, als es die Regierung geplant hatte. Will man sich diesem Volk und dessen Wohl wirklich noch verpflichten? Den Einsatz zum “Wohle des Landes” zu schwören, klingt fast ebenso gut, aber „das Land“ kann sich nicht äußern und missliebige Interessen formulieren.
Bertolt Brecht, Sie erinnern sich, hat der SED-Führung 1953 nach dem Volksaufstand in der DDR geraten, dass es besser wäre, die Regierung wähle sich ein neues Volk. Noch konsequenter ist es natürlich, auf das Volk einfach zu verzichten. Allerdings stehen dann noch einige Verfassungsänderungen bevor. In der NRW-Landesverfassung steht in Artikel 3 immer noch: “Die Gesetzgebung steht dem Volk und der Volksvertretung zu.” Die könnte man doch gleich dem Landtag als Vertretung des Landes zuschreiben. Artikel 2 ist da schon schwieriger: “Das Volk bekundet seinen Willen durch Wahl, Volksbegehren und Volksentscheid.” Das lässt sich nicht umformulieren, aber ist der Artikel nicht verzichtbar? Die Frage steht noch nicht an, aber nach der Eidesformel warten noch einige Herausforderungen.
Zuerst erschienen auf Peter Grimms Blog Sichtplatz hier.