Pieter Cleppe, Gastautor / 29.06.2019 / 06:00 / Foto: Pixabay / 53 / Seite ausdrucken

Erpressung der Schweiz? Die EU dreht durch

Während die Brexit-Verhandlungen ins Stocken geraten sind, nehmen die Spannungen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz zu. Seit 2014 versuchen die Schweiz und die EU, ihre 120 bestehenden bilateralen Verträge zu einem einzigen Abkommen zusammenzuführen. Aber die Schweizer weigerten sich, den EU-Bedingungen zuzustimmen, ohne vorher bestimmte Fragen geklärt zu haben; als Reaktion darauf scheint die EU nun wahrscheinlich innerhalb weniger Tage die Schweizer Börsen vom Binnenmarkt ausschließen zu wollen, als Vergeltung dafür, dass sie den Vertrag nicht schnell genug ratifiziert haben.

Wie ein Leak letzte Woche enthüllte, sind die durchsichtigen Gründe dafür, "in der wahrscheinlich entscheidenden Phase bezüglich des Brexits" – so der für die Gespräche zuständige Kommissar – ein Exempel an der Schweiz zu statuieren. Mit anderen Worten, die Schweiz, Mitglied der EFTA und des Schengen-Raums, ein Land, das über Jahrzehnte hinweg Milliarden in die Brüsseler Kasse gezahlt hat und mit der man über weitgehend freundschaftliche Handelsbeziehungen verfügte, ist zu einem bloßen Pfand geworden beim Bestreben der EU, Großbritannien zur Unterwerfung zu zwingen.

Aber die Schweizer weigern sich, klein beizugeben, und drohen mit Vergeltungsmaßnahmen, indem sie den EU-Börsen den Handel mit Schweizer Aktien verbieten. Rund 30 Prozent des Handels mit Schweizer Bluechips findet in London statt. Opposition kommt nicht nur von der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei, sondern auch von den Gewerkschaften. Das Schweizer Parlament hat die Regierung angewiesen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. 

Selektiver Marktzugang? – „Rosinenpickerei“

Für die EU gehen diese Probleme bis in die 80er Jahre zurück, und zwar auf eine Initiative des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors, der nach einem seiner Zusammenstöße mit Margaret Thatcher die legendäre Sun-Schlagzeile "Up Yours Delors!" inspirierte. Delors, der bestrebt war, ein einheitliches System für die Beziehungen zu den benachbarten "Drittländern" zu entwickeln, schlug vor, ihnen uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren, jedoch nur im Gegenzug für die Übernahme aller Regeln und Normen der EU. Das Fehlen eines Vetorechts gegen diese Regeln inspirierte Jens Stoltenberg, den norwegischen Ministerpräsidenten, der diese Regelung übernahm, sein Land als "Fax Demokratie" zu bezeichnen. Es dauerte nicht lange, bis die souveränen Schweizer Wähler dies herausgefunden hatten, und sie lehnten eine ähnliche Regelung in einem Referendum 1992 ab.

Damals respektierte die EU dieses Ergebnis und verhandelte über ein Paket von bilateralen Abkommen, die den Schweizern einen selektiven Marktzugang als Gegenleistung für selektive Regelwerke gewährten. Heute lehnt die EU diese Regelung, die dem "Chequers-Plan" der Regierung für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien sehr ähnlich ist, jedoch als „Rosinenpickerei“ ab.

Es gibt viele Parallelen zwischen dem Brexit und den Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz, und in der Tat sollte die britische Regierung die Koordination mit der Schweiz verstärken, um den Versuchen der EU entgegenzuwirken, ihre Regulierungsbefugnisse auf dem Rücken zerstörter Geschäftsbeziehungen zu vergrößern.

Tiefe schweizerische Verbundenheit mit der Demokratie

Das vorgeschlagene Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz enthält zwei Punkte, die nicht nur beunruhigend für Schweizer Politiker sind, sondern die auch bei der Volksabstimmung abgelehnt werden könnten, die folgen wird, wenn die Schweizer Regierung den EU-Bedingungen zustimmt. Erstens führt das Abkommen einen Schlichtungsmechanismus in die Beziehungen Schweiz-EU ein, bei dem der Europäische Gerichtshof eine Rolle spielt. Das war bisher nicht der Fall – alle bisherigen Streitigkeiten wurden von der Politik beigelegt. Der in der Rahmenvereinbarung vorgesehene Schiedsmechanismus entspricht im Wesentlichen demjenigen, den Theresa May mit der EU im November vereinbart hat. Die Schweizer Regierung scheint in dieser Frage Zugeständnisse gemacht zu haben, aber ob dieses Zugeständnis die direkte Demokratie der Schweiz überleben wird, ist eine andere Frage.

Zweitens befürwortet die EU eine "dynamische Anpassung", was bedeutet, dass die Schweizer gezwungen wären, Aktualisierungen der EU-Vorschriften, an denen sie sich ausgerichtet haben, als Gegenleistung für den Marktzugang ebenfalls zu akzeptieren. Zur langjährigen Frustration der EU wurde dies in den 90er Jahren nicht ausgehandelt. Der Grund dafür war natürlich die tiefe schweizerische Verbundenheit mit der Demokratie und der Verdacht, dass man sich auf EU-Vorschriften einlässt, die man noch gar nicht richtig verstanden hat.

Alles in allem waren die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU bisher so reibungslos, dass die Ultimaten und Drohungen der EU, den Handel zu beschränken, unverhältnismäßig und unfreundlich erscheinen. Die Schweiz hat Milliarden in EU-Projekte eingebracht und die Freizügigkeit gewährt, sodass heute fast jeder vierte Einwohner der Schweiz nicht die Schweizer Staatsangehörigkeit besitzt, davon 80 Prozent Europäer. Wie kann die EU einen freundlichen Nachbarn auf diese Weise behandeln? 

Wohlstand dank Flexibilität

Im Jahr 2018 lehnten elf EU-Länder, darunter Deutschland und Großbritannien, den Vorschlag der EU-Kommission ab, den Zugang für die Schweizer Börsen zu unterbinden. Nun geht die Kommission erneut diesen Weg und ignoriert dabei die Warnungen von Business Europe, dem Verband der europäischen Industrie, die Sache nicht eskalieren zu lassen. 

Ein EU-Diplomat sagte der Financial Times, dass „wir die Briten nicht schlechter behandeln werden als die Schweiz“ und dass deshalb deren „Nichtbestrafung“ als gefährlicher Präzedenzfall angesehen werden könnte. Obwohl es der Schweiz wahrscheinlich gelingen würde, den Schaden durch ihre Schutzmaßnahmen zu mildern, würde das signalisieren, dass die EU bereit ist, den Marktzugang zu beschränken, wenn sie ihre regulatorische Kontrolle über einen Handelspartner nicht verstärken kann. Angesichts der tiefgreifenden Liebe zur Selbstverwaltung sowohl in der Schweiz als auch in Großbritannien, zwei der ältesten Demokratien der Welt, werden selbstzerstörerische Versuche, den Handel zu schädigen, um mehr Regulierungskontrolle zu erlangen, nur scheitern. 

Konfrontiert mit einem europäischen Land wie der Schweiz, das nicht versucht, der Zollunion oder dem Binnenmarkt anzugehören, aber dennoch eine reibungslose Handelsbeziehung mit dem EU-Block unterhält, sollte die EU nicht versuchen, die Flexibilität einzuschränken, die über Jahrzehnte hinweg den Wohlstand auf beiden Seiten gefördert hat. Stattdessen sollte sie einen Teil ihres bisherigen Pragmatismus in die Beziehungen zur Schweiz einbringen bei der Annäherung an die Frage der zukünftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich.

Der Artikel erschien zuerst im Telegraph.

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Leserpost

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Günter Schaumburg / 29.06.2019

Sehr geehrte Frau Buhr, Sie haben das großartig beschrieben und ihre satirischen Einlagen sind otschen karascho, wie der Schwyzer zu sagen pflegt.

Gottfried Köppl / 29.06.2019

Eigensinn macht Spaß, wusste schon der Wahlschweizer Hesse. In diesem Sinne weiterhin viel Spaß, liebe Schweizer!

Walter Wolf / 29.06.2019

Tja liebe Schweizer, ihr profitiert im höchsten Umfang von den angrenzenden Ländern. Ihr lebt in Sicherheit, könnt die komplette Infrastruktur Europas nutzen und schädigt mit eurer Finanzpolitik die EU Bürger. Irgendwann läuft das Fass über. Und im übrigen zahlt die Schweiz nur ein Trinkgeld an die EU. Aber ihr habt ein tolles Land und die meisten Schweizer sind nette Leute.

Udo Kalipke / 29.06.2019

Die EU in ihrem Lauf, hält weder Brit’ noch Schweizer auf. (Gutes Gelingen - und Prösterchen! nach Brüssel).

Dennis Finkenau / 29.06.2019

Also erstens hat die Schweiz in der Vergangenheit bereits mehrfach bewiesen, dass sie gerne Rosinenpicken betreiben möchte und dies auch unter Missachtung der allgemein gültigen Regeln tun will. Marktzugang gibt’s nur gegen die Akzeptanz der vier Grundfreiheiten und daran hielten sich die Eidgenossen auch nach ein pasr freundlichen Erinnerung seitens der Union… Broder ignoriert das natürlich, weil er sich nicht wieder über die EU aufregen könnte. Zweitens wird “Chequers” abgelehnt, weil sich die Briten nicht an die Rechtsprechung des zuständigen EuGH halten würden, frei nach dem reichlich arroganten Grundsatz: Mitmachen, sich aber nicht den Gesetzen verpflichtet fühlen. Die Schweizer fügen sich übrigens dieser Rechtsprechung in den Bereichen selektiver Kooperation, soviel also nochmals zu Broders “Sachkenntnis”... Drittens wird hier vollkommen ignoriert, dass es hier um Verhandlungen um die Anpassung von Lohnniveaus geht, anstatt um den Brexit. Dieser Konflikt ist bereits 5 Jahre alt… PS: Ich dachte, ich kommentiere das hier mal, damit jene, die diese Artikel glauben, auch mal ein wenig von der realen Welt mitbekommen, anstatt komplett in der Filterblase zu versinken.

Sabine Schönfelder / 29.06.2019

Herr@Boitin, ich denke Sie haben die Voraussetzungen, die Länder einst zu einem wirtschaftlichen Zusammenschluß veranlaßten, wie Freiwilligkeit, i n d i v i d u e l l e Lösungsvorschläge, sowie demokratisches Miteinanander unter souveränen Nationalstaaten nicht richtig verstanden. Die Aufgabe der EU ist nicht die Gleichschaltung aller Nationalstaaten unter einer übergeordneten Judikative, die eine nationale Entmachtung zur Folge hätte. Es ist keine Gleichschaltung möglich und schon garnicht erwünscht(!) in einem inhomogenen Gefüge von Ländern mit verschieden prosperierenden Volkswirtschaften. Weder hat die EU das Recht zur Etablierung dilettantischer Umverteilungsstrategien seitens der EZB, noch die Legitimation, Unmengen hart verdientes Geld europäischer Steuerzahler in den hungrigen, nimmersatten Rachen der Griechen und anderer schlecht wirtschaftender Länder zu werfen. Sie ist am wenigsten befugt, Länder zur Aufnahme von Migranten zu zwingen, wie die linken Migrationsprofiteure sich das erträumen. England ist kein Rosinenpicker, weil die EU kein Kuchen ist. Sie ist eher ein hartleibiges Brot, das auch mit ständig frischem ‘Geldstrom’ immer trockener wird, weil die EU ohne Kompetenz, ohne Kontrolle, ohne Organisation, ohne geordnete Strukturen vor sich hin arbeitet; mit einem Suffkop an der Spitze, der zusammen mit dem weggelobten politischen Bodensatz Europas, einer französischen Luftpumpe und einer zittrigen Propagandasekretärin, einen linken Ökofaschismus errichten möchte. Wenn das Ihre Rosinen sind, die will England sicherlich nicht rauspicken!

Tobias Mannewitz / 29.06.2019

Der Vorwurf der Rosinenpickerei enthält das unfreiwillige Bekenntnis, dass die Verträge, welche die EU unterzeichnet sehen will, tatsächlich einige feine Leckereien beinhalten, die jedoch von massig viel unerwünschtem Teig umgeben sind, den keiner essen mag. Rezept ändern!

Giovanni Brunner / 29.06.2019

Vor Allem haben die Schweizer kein Interesse sich bei Rechtsentscheidungen dem Europäischen Gerichtshof mit seinen ideologisch gepolten aus der Politik kommenden Richtern zu unterwerfen. Diese elende EU Politjustiz wird von einer Mehrheit abgelehnt. Und wenn Sie als Autor dieses an und für sich sehr guten Artikels die SVP als Rechtspopulisten und zwar so beiläufig und wie selbstverständlich - wir kennen das ja, dann bezeichnen Sie gefälligst die EU Komission etc. Ebenso als populistischen,  protektionistischen und mafiösen Haufen. Nichts anderes ist sie seit einigen Jahren.

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