Thilo Sarrazin / 31.08.2022 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 57 / Seite ausdrucken

Erkenntnis und Interesse

Ist objektive Erkenntnis überhaupt möglich, wenn doch die Fragen, die man stellt, und das Erkenntnisinteresse, das man hat, subjektiv geprägt sind?

Der menschliche Erkenntnisprozess vollzieht sich so, dass der Mensch dort, wo er nicht rein instinktiv handelt, Hypothesen über den ihn gerade interessierenden Ausschnitt der Welt aufstellt. Die Beobachtungen, die er macht, versucht er in ein Erklärungsmuster zu bringen und stimmt darauf gegebenenfalls sein eigenes Verhalten ab. Die damit verbundenen geistigen Prozesse, auch die Hypothesenbildung, müssen nicht auf der obersten Bewusstseinsebene stattfinden. Zumindest im Alltagsleben können sie auch weitgehend unbewusst ablaufen.

Dies wirft die Frage auf, ob überhaupt objektive Erkenntnis möglich ist, wenn doch die Fragen, die man stellt, und das Erkenntnisinteresse, das man hat, subjektiv geprägt sind. Diese Problematik bestimmt grundsätzlich jedwede wissenschaftliche Erkenntnis. Sie ist aber dort besonders drängend, wo es um Fragen des menschlichen Zusammenlebens und der Organisation der Gesellschaft geht. Dort sind nämlich zumeist die Emotionen größer, und es ist häufig schwierig, kausale Zusammenhänge eindeutig festzustellen und adäquat zu beschreiben. Im Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis fällt dies häufig leichter und ist auch weniger emotional. Worauf sich unser Interesse richtet und welche Fragen wir an die Wirklichkeit stellen, hängt von vielen Faktoren ab: von unserem Vorwissen, unserer geistigen Regsamkeit, unseren Hoffnungen und Begierden, vom Geist der Zeit, von unserem sozialen Hintergrund und von vielem anderen mehr.

Es hängt subjektiv von uns ab, welche Fragen wir an die Wirklichkeit richten und welche Bedeutung wir unserem jeweiligen Interesse geben. Die Auswahl möglicher Fragestellungen ist unbegrenzt. Denselben Sachverhalt können wir unter ganz unterschiedlichen Perspektiven im Hinblick auf seine Bedeutung, seine Wirkungen und die mit ihm verbundenen kausalen Zusammenhänge untersuchen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass man gerade in den Sozial- und Kulturwissenschaften auf scheinbar ähnliche Fragestellungen ganz unterschiedliche Antworten bekommt. Bedeutet dies, dass objektive Erkenntnis zumindest in den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht möglich ist?

Im sogenannten Werturteilsstreit deutscher Ökonomen, Soziologen und Historiker wurde dies vor dem Ersten Weltkrieg intensiv diskutiert. Einer der Mitstreiter, der Soziologe Max Weber, sprach von der „oft haarfeine(n) Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet“. (1)

Die subjektive, wertbehaftete Fragestellung steht der Objektivität der auf ihrer Grundlage gewonnenen Erkenntnis aber nicht prinzipiell im Wege. Im Gegenteil: Ohne eine klar gerichtete Fragestellung fehlen dem zu klärenden Sachverhalt die Bezugspunkte, an denen sich die Objektivität der Erkenntnis messen lässt. In den Worten Max Webers:

„Die objektive Gültigkeit allen Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, dass die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag. Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist – und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes –, dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten.(...) Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher Erkenntnis hängt (...) davon ab, dass das empirisch Gegebene zwar stets auf jene Wertideen, die ihr allein Erkenntniswert verleihen, ausgerichtet, in ihrer Bedeutung aus ihnen verstanden, dennoch aber niemals zum Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer Geltung gemacht wird.“ (2)

Die verschlungenen Wege des menschlichen Herzens

Das heißt, die Geltung von Werten jedweder Art lässt sich nicht aus der Wirklichkeit „beweisen“, dem steht ihr Charakter als subjektive Norm im Wege. Wohl aber kann das empirisch Gegebene unsere Einschätzung von der Bedeutung und Angemessenheit bestimmter Werte und Normen verändern. Um es im Bild von Jonathan Haidt auszudrücken: Der Elefant, unsere Gefühlswelt, ändert seine Richtung, und jetzt fallen dem Reiter all die Gründe ein, weshalb er einen neuen anderen Weg beschreiten soll. Weber spricht von dem „uns allen in irgendeiner Form innewohnende(n) Glaube(n) an die über- empirische Geltung letzter und höchster Wertideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern“. Das schließt für ihn „die unausgesetzte Wandelbarkeit der konkreten Gesichtspunkte, unter denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält, nicht etwa aus, sondern ein: Das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehung bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in eine dunkle Zukunft der menschlichen Natur hinein.“ (3)

Dem konkreten menschlichen Wertgerüst misst Weber keine Dauer zu. Es ist historisch wandelbar und wird sich auch in Zukunft wandeln. Er beendet seine Ausführungen zur Möglichkeit objektiver Erkenntnis mit einem Zitat aus Goethes Faust:

der neue Trieb erwacht,
Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken,
vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,
den Himmel über mir und unter mir die Wellen.

Man könnte es auch so sagen: Die verschlungenen Wege des menschlichen Herzens, die passions in der Diktion von David Hume, führen uns in immer neue Richtungen. Bewährte Wahrheiten objektiver Erkenntnis werden dadurch zwar nicht ungültig. Aber sie können Staub ansetzen und sagen uns vielleicht nichts mehr, weil wir selber oder nachfolgende Generationen in ganz anderen Bezügen leben.

Weber erweist sich als überzeugter Empiriker. Er hält es für die Aufgabe der Wissenschaft, unter klar formulierten, durch das subjektive Erkenntnisinteresse geprägten Fragestellungen möglichst gültige und objektive Antworten zu finden, und er hält dies, methodisch gesehen, grundsätzlich für möglich. Hinsichtlich der Methodenvielfalt beim Finden von Fragestellungen und beim Formulieren von Hypothesen ist er liberal. Streng wird er bei der Forderung nach grundsätzlicher empirischer Überprüfbarkeit. Das ist die zitierte „haarfeine Linie, welche Wissenschaft vom Glauben trennt“. Die grundsätzliche Möglichkeit objektiver Erkenntnis sagt natürlich nichts zur Frage, ob es wirklich sicheres Wissen gibt.

Dies ist ein Auszug aus „Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens“ von Thilo Sarrazin, 2022, Langen Müller Verlag: München. Hier bestellbar.

 

Weitere Anmerkungen

(1) Max Weber: „Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, erstmals veröffentlich 1904, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 146–214, S. 212.

(2) Ebenda, S. 213

(3) Ebenda, S. 213

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Martin Landvoigt / 31.08.2022

@Zdenek Wagner - Sie schrieben: ‘Tauschen wir doch den Begriff “Erkenntnis” gegen den Begriff “Wahrheit”’ genau das ist aber das Problem! Natürlich trachtet die (subjektive) Erkenntnis nach der (objektiven) Wahrheit, aber letzte Gewissheit erreicht sie nie. Darum hat niemand die Wahrheit für sich gepachtet, aber manche kommen ihr näher als andere. Und das Kriterium hierbei ist das Argument.

Peter Holschke / 31.08.2022

Bevor man über Objektivität debattiert, sollte man sich darauf einigen, was unter diesem Begriff überhaupt zu verstehen sei. Damit fängst man an. Andernfalls verkommt jegliche Erörterungen zu einem Narrenspiel. Zu reinem Geschwätz, nach dem Motto: “Laßt uns Worte ausdenken, danach über die Bedeutung streiten”. Wer an Objektivität zweifelt, dem sei ein Stein an den Kopf geworfen, dann erkennt er instant, was ein Objekt ist. Aber was soll das Geschwätz über einen Artikel ohne jegliche Relevanz. (Besonders angesichts eines herbeigeführten Hunger- und Kältewinter, nebst laufendem Mordprogramm). Wacht mal auf!

Martin Landvoigt / 31.08.2022

Im übrigen ist Erkenntnistheorie nicht gleich Wissenschaftstheorie. Denn während die Wissenschaft grundsätzlich im Positivistischen bleiben muss, werden alle Erkenntnisse die z.B. im Zwischenmenschlichen (Ich liebe dich), der Ethik und im Metaphysischen (Warum existiert irgend etwas etc.) ausgeblendet. Die Politik muss sich zuerst um die Wissenschaft und einen Realitätssinn kümmern, dann um die Ethik und Werte. Aber man kann mit der Ethik nicht die Wissenschaft ersetzen.

Stephan Bujnoch / 31.08.2022

Die Realität ist noch viel schlimmer. Selbst so “honorige” Personen wie Prof. Fratzscher vom DIW macht bei diesem unwissenschaftlichen Spielchen mit. Nicht nur, daß er nicht sich neutrale Fragen stellt, nein er operiert nur im ideologisierten Raum der öko-kompatiblen Antworten : Gestern bei Lanz verstieg er sich doch zur These, der sich abzeichnende Engpaß bei der Stromversorgung sei der mangelhaften Ausbau Geschwindigkeit bei den Windrädern geschuldet. Das scheint typisch deutsch zu sein, .... wenn es nicht richtig funktioniert, dann muß schnellstens mehr davon her, ein anderer Grund ist nicht vorstellbar, da gegen die politisch korrekte Ideologie gerichtet. In D fehlt der Straftatbestand des “Amtsmissbrauches”. Den sehe ich gegeben, wenn ein hoher Funktionsträger (immerhin Präsident des DIW) an allen wissenschaftlichen Geboten vorbei seit Jahr und Tag Falschmeldungen absondert, die dann von der Politik aufgegriffen und in Projekten zum Schaden des Steuerzahlers realisiert werden. Wahrscheinlich kennt Herr Fratzscher - wie die Kemfert Dame - die zeitliche Entwicklung der Strompreise nicht.

Thomas Szabó / 31.08.2022

Der Text ist zu intellektuell. Das ist nicht hilfreich. Selbst wenn man das Buch gelesen und verstanden hat und sogar imstande ist es nachzuerzählen oder gar in seinem Sinne zu argumentieren, es wird sich auf diesem Niveau keine Diskussion mit dümmlich grinsenden Idioten führen lassen. Die Leute die dieses Buch ansprechen sollte, sind zu blöd & borniert, um sich von diesem Buch ansprechen zu lassen.

K.Klaus / 31.08.2022

Angesichts der heutigen Lage ist es einfach billiges fishing for compliments, auf so einer Seite mit Max Weber herumzufuhrwerken. Deutschland schafft sich gerade ab, da ist anders nötig als scheinphilosophisches Dillettieren.

Dirk Jungnickel / 31.08.2022

Man kann sicher trefflich darüber streiten wie tief die Trennung zwischen Wissenschaft und Glauben sein mag, vor allem dürfte sich das im Laufe der Zeitläufte immer wieder modifizieren. Die Scholastiker und die Alchemisten des Mittelalters wähnten sich auf der Höhe der Zeit und g l a u b t e n an ihre Erkenntnisse. Meiner Meinung nach ist auch die Religion nicht vom Glauben zu trennen. Wer dies tut und die Religion “verwissenschaftlicht ”  tut ihr absolut keinen Gefallen und und wandelt auf einem Holzwege. Übrigens: Die Darwinsche Evolutionstheorie (Entwicklung der Arten)  hatte wiederum über viele Jahrzehnte nahezu Glaubenscharakter, bis sich nach Erforschung des Genoms herausstellte, dass man zwar rhetorisch aus der Mücke einen Elefanten machen kann, aber dass sich aus einer Mücke auch über Jahrmillionen genetisch kein Elefant entwickeln kann, woran heute noch Manche glauben. Eine Evolution in horizontaler Richtung war immer möglich, nicht aber in vertikaler Richtung, also Artensprünge sind genetisch ausgeschlossen Herzlichen Dank, Th. Sarrazin, Ihr Beitrag ist ein hervorragender Denkanstoß !

Paul Franklin / 31.08.2022

@ P. Ackermann “Jemand (Achse) zitiert jemanden (Sarrazin), der jemanden zitiert…”  Das ist moderne Wissenschaft: alte Knochen von einem Friedhof auf einen anderen tragen. Ein an und für sich totes System, aber die Totengräber nennen es “wissenschaftliches Arbeiten”. Und wundern sich dann, dass sie keine Erkenntnisse gewinnen.

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