Josef Joffe über Prozac und Placebos, Homöopathie und Humbug (ZEIT online vom 11.3.2008)
In diesen Tagen laufen Berichte durch die Weltpresse, wonach Antidepressiva (wie Prozac) kaum besser funktionieren als Placebos (Pillen ohne Wirkstoffe). Das haben Irving Kirsch und sein Team von der britischen Hull Universität aufgrund von Daten festgestellt, die sie von der amerikanischen Heil- und Lebensmittel-Behörde FDA bekommen haben.
Was zu der Geschichte aus dem Ferienlager führt, die Michael Skapinker in seiner lesenswerten Analyse der Alternativ-Medizin in der Financial Times vom 11. März erzählt. Eine Heimweh-Epidemie war ausgebrochen, und die Krankenschwester verteilte rosa Smarties gegen Mutter-Entzug, blaue gegen die viel seltenere Vater-Sehnsucht. Die Epidemie brach zusammen…
Das nennt man den Placebo-Effekt. Eine Gruppe vom MIT, der Hochschule in Cambridge, Massachusetts, hat diese vertraute Erfahrung nun weitergedreht. Teure Placebos funktionieren besser als billige - ein Phänomen, mit dem die Kosmetik-Industrie Milliarden verdient. Den Probanden wurden leichte Schmerzen zugefügt, nachdem ihnen zwei verschiedene Placebos verabreicht worden waren. Die eine Pille kostete (angeblich) $ 2.50, die andere zehn Cent. Nach Einnahme der Hochpreis-Pillen berichteten 82 Prozent von Schmerzverringerung; das taten nur 61 Prozent derer, die das “Billig-Präparat” erhalten hatten.
Jetzt tobt natürlich die Frage, ob Ärzte nicht grundsätzlich Placebos verschreiben sollten - billige und fast genauso gute Pillen (Achtung: Bei den Antidepressiva vermerken die Forscher, dass sie in schweren Fällen tatsächlich viel besser wirken). Dazu gibt es ein brandneues Buch von Rose Shapiro, Suckers: How Alternative Medicine Makes Fools of Us All (etwa: “Trottel: Wie die Alternativmedizin uns alle zum Besten hält”). Ihr Hauptanklagepunkt: Seit Jahrzehnten verschreiben viele Ärzte Placebos, die gerade in Deutschland in hohen Ehren gehalten werden. Das sind die Kügelchen und Tropfen, die unter dem Rubrum “Homöopathie” in unsere Medizin-Schränkchen wandern.
In England verschreiben 42 Prozent der Ärzte Homöopathisches - oder verweisen die Patienten an solche Spezialisten. In Holland ist es fast die Hälfte, in Belgien sind es gar 85 Prozent. Bekanntlich ist Homöopathie logischer Unfug, sagt sie doch, dass die heilende Substanz so weit in Wasser verdünnt worden ist, dass von ihr nichts mehr übrig bleibe - nur noch das “Gedächtnis”.
Ironisch folgert Shapiro: Dann müsste sich das Wasser doch an ALLES “erinnern”, das je in ihm aufgelöst wurde: das angeblich Heilende sowie die Seife aus dem Bad von Marilyn Monroe. “Wie kann Wasser ein selektives Gedächtnis haben?”, fragt sie.
Wir wollen aber nicht das Heilende mit dem Wasser ausschütten. Was hier wirkt, ist die gewaltige Kraft des Placebos, die inzwischen tausendfach in rigorosen statistischen Studien belegt worden ist. Hinzu kommt womöglich ein noch wichtigerer Effekt, der noch nicht genügend erforscht worden ist: die Zeit, die Ärzte ihren Patienten widmen.
Die, das weiß jeder Kassenpatient, wird im Minutentakt zugeteilt - in Britannien wie in Deutschland. Eine Erst-Untersuchung beim Homöopathen in England aber, schreibt der Autor der Financial Times, dauert eine Stunde und mehr. Ergo: “Der Patient hat das Gefühl, dass ihm zugehört wird, dass er Wertschätzung erfährt.” Da Kassenärzte diese Zeit nicht aufbringen können, betrieben sie “Outsourcing” zum Homöopathen. Die Zeit, nicht das “Gedächtnis” des Wassers macht den Heilerfolg aus.
Schließlich: Weil sie im strengen Sinn unwirksam ist, schadet Homöopathie auch nicht - genauso wie das 80-Euro-Tiegelchen mit der Anti-Aging-Creme (wenn sie denn hypo-allergen ist). Es gibt im Gegensatz zur “Schulmedizin” keine Nebenwirkungen - also keine endlos langen Beipackzettel mit dem winzigen Kleingedruckten.
Was folgt daraus? Man möge der Verachtung, welche die “Alternativen” über die “Schulmedizin” ausgießen, heftig widerstehen. Gegen Gonorrhoe wirken Antibiotika garantiert besser als Zuckerkügelchen, und Kräutertee, wiewohl gut für die Seele, hilft nicht gegen Arthrose.
Doch helfen Zuwendung, Hinhören und Ernstnehmen Wunder - so wie die rosa und blauen Smarties im Ferienlager. Zumindest wäre es in Zeiten explodierender Gesundheitskosten und überquellender Wartezimmer einen groß angelegten Versuch wert. Hier die Gruppe, die vier Minuten und ein Rezept beim Herrn Doktor bekommt, dort das längliche Gespräch mit einem Berater, der nicht zehn Jahre lang als Mediziner ausgebildet worden ist, dafür aber mehr Zeit hat. Und ein Glas mit Smarties - nicht des Zuckers wegen, sondern der Zuwendung.