Sebastian Biehl, Gastautor / 05.07.2024 / 12:25 / Foto: Pixabay / 15 / Seite ausdrucken

Eine Erdrutschniederlage, kein Erdrutschsieg!

Der vermeintliche Erdrutschsieg der Labourpartei bei der britischen Unterhauswahl scheint gegen den allgemeinen Rechts-Trend in Europa zu laufen. Der zweite Blick fördert allerdings Bemerkenswertes zu Tage.

Auf den ersten Blick gab es einen kräftigen Linksruck: Die Labourparty verdoppelte die Anzahl ihrer Sitze, von 202 auf 412, auch die linksliberalen Liberalen Demokraten verbesserten sich phänomenal von elf auf 71 Sitze und ebenso legten die Grünen zu, von einem auf vier Sitze. Dagegen gab es ein Massaker bei der Konservativen Partei, die 248 Sitze verlor und nur noch 119 behalten hat. Auch Gewinne der neuen, rechtspopulistischen Partei Reform UK, die auf vier Sitze kam, konnten das nicht ansatzweise kompensieren.

Andere, vor allem regionale Parteien, mischten auch mit: Die Schottische Nationalpartei (SNP), politisch stramm links, verlor sehr deutlich, nämlich 38 Sitze, und hat nur noch neun. Die konservative Repräsentantin der irischen Protestanten, die Demokratische Unionistenpartei, verlor drei Sitze auf nun fünf, wohingegen die linke Sinn Fein, die wiederum die Katholiken Nordirlands repräsentiert und für Anschluss an die Republik Irland ist, sieben Sitze gewann (vorher keinen). Auch die walisischen Nationalisten der Plaid Cymru schnitten mit vier Sitzen besser ab, zuvor waren es zwei. Unabhängige Kandidaten (meistens Personen, die selbst Labour zu links waren) und einige Kleinparteien aus Nordirland teilen sich die restlichen elf Sitze.

Wenn man auf die Karte der Wahlkreise schaut, hat Labour seine traditionellen Hochburgen zurückerobert oder gehalten, die da wären: Zentralschottland rund um Glasgow und Edinburgh; Nordengland (York, Newcastle); das (ehemalige) mittelenglische Industriegebiet um Liverpool, Manchester, Leeds und Birmingham; den Süden von Wales; die Hauptstadt London. Sogar im Herzland der Konservativen, Südengland, konnte Labour einige Eroberungen machen. Allerdings verloren die Konservativen hier vor allem an die Liberalen Demokraten. Die SNP, die einmal fast ganz Schottland beherrschte, wurde wieder zurückgeworfen auf ein paar ländliche Wahlkreise im Norden.

Aufschlussreicher als die Anzahl der Sitze, die bekanntlich nach dem „first past the post“ System vergeben werden, also an den Wahlkreisgewinner fallen, selbst wenn er, bei entsprechend vielen Kandidaten, beispielsweise nur 20 Prozent bekommen hat, ist die absolute Anzahl der Stimmen, die prozentuale Verteilung und die Gewinne und Verluste.

Absolute Zahlen zeigen die wahren Tendenzen

Zuerst fällt auf, dass die Wahlbeteiligung diesmal mit 60 Prozent beträchtlich geringer war als bei der letzten Unterhauswahl 2019 mit 67,6 Prozent. Auch sonst lohnt ein Vergleich absoluter Zahlen mit 2019: Labour bekam diesmal 9,6 Millionen Stimmen und 34 Prozent, gegenüber 10,3 Millionen Stimmen und 32 Prozent 2019, also prozentual nur ein geringer Zuwachs und in Stimmen sogar ein Rückgang. Da allerdings die Konservativen massiv verloren haben, nämlich von fast 14 Millionen Stimmen und 44 Prozent 2019 auf 6,8 Millionen Stimmen und 24 Prozent jetzt, wurde Labour in etlichen Wahlkreisen, die die Konservativen gerade in den mittelenglischen Arbeitergegenden 2019 wegen des populären Boris Johnson hinzugewannen, wieder die Nummer eins.

Auch Reform UK hat den Konservativen entscheidende Stimmen abgenommen und sie, ohne selbst den Sitz zu gewinnen, in vielen Wahlkreisen den möglichen Sieg gekostet. Reform UK hat beindruckend zugelegt ,was Stimmen und Prozente betrifft von 2019 bis heute, nämlich von 644 000 auf vier Millionen Stimmen und von zwei auf 14 Prozent, was sie nach prozentualer Zustimmung zur drittgrößten Partei Großbritanniens macht. Die vier gewonnenen Sitze geben also keinesfalls den wirklichen Triumph von Reform UK wieder. Nigel Farage, der Chef von Reform UK, sieht sich schon auf dem Weg zum Anführer der Opposition, wenn sich diese Tendenz verstärkt. Die Konservativen hätten die Leute belogen und verkauft und daher habe er sich diesmal nicht vornehm zurückgehalten und die Konservativen nicht geschont, um Labour zu verhindern, sagte Farage.

Anders als bei Reform UK war der beeindruckende Zuwachs der Sitze bei den liberalen Demokraten in Stimmen gemessen sogar ein Verlust und in Prozenten ein sehr bescheidener Zuwachs: Von 3,7 Millionen 2019 auf 3,5 Millionen jetzt und von 11,6 Prozent 2019 auf 12,2 Prozent jetzt.

Die SNP verlor etwa die Hälfte ihrer Wähler: von 1,2 Millionen und vier Prozent 2019 auf 685 400 und 2,4 Prozent jetzt.

Fazit: Nicht Starmer und Labour haben die Wahl gewonnen, die Konservativen und Sunak haben sie krachend verloren. Nicht, weil die Leute plötzlich begeistert sind von linker Politik, sondern weil die Konservativen die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllt haben und weil die Leute damals einen Boris Johnson gewählt haben und nun mit einem Rishi Sunak endeten, den sie gar nicht wollten.

Nicht einmal die Mitglieder der konservativen Partei wollten Sunak, er wurde ihnen a la Kramp-Karrenbauer oder Laschet aufgenötigt, weil es keine Alternativen mehr gab. Johnson versprach Begrenzung der Migration, niedrige Steuern, weltweite Handelsabkommen und Stärkung der nationalen Souveränität und versank dann im Sumpf von Corona.

Seine Nachfolger Truss und Sunak verhedderten sich in Flügelkämpfen und konnten die Leute nicht mitreißen. Und auch wenn es niemand wagen würde zu sagen, es kann angenommen werden, dass viele traditionelle, ländliche Wähler der Konservativen sich mit Sunak und den vielen anderen Kabinettsmitgliedern mit Migrationshintergrund einfach nicht recht identifizieren konnten, dagegen sehr mit Nigel Farage, der sein Engländertum zum Markenzeichen gemacht hat.

 

Sebastian Biehl, Jahrgang 1974, arbeitet als Nachrichtenredakteur für die Achse des Guten und lebt, nach vielen Jahren im Ausland, seit 2019 mit seiner Familie in Berlin.

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Karl Emagne / 05.07.2024

Starmer statt Sunak, Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix. Nur etwa 20% der Wähler haben kapiert, dass es egal ist, welche der etablieren Parteien gegen sie regiert. Eigentlich wie bei uns.

Andreas Huber / 05.07.2024

@Boris Kotchoubey: Nordkorea ist kein Thema, das haben wir ja mehr oder minder schon. Alternativen gibt es mehrere, und auch durchaus sozial, ökologisch und ökonomisch verträgliche. Schlagworte dazu sind beispielsweise: Freie Privatstädte. Privatrechtsgesellschaft. Minarchismus. Anarchie (bevor sie erschrecken, bitte die WAHRE Wortbedeutung recherchieren).

Richard Loewe / 05.07.2024

die wollten die Clown-Shit-Show Partei abwatschen und sind einer brutalen anti-Reform-Kampagne aufgesessen und haben die anderen beiden CSS-Parteien gewählt, die alles so weitermachen wird wie Boris, Sunak und Co. Und wenn der kleine grüne Mann im Osten dann in eine seiner vielen Villen im Ausland gezogen ist, steht die nächste Gotterdämmerung bevor. Auch der Wechsel der Kriegstreiber zu Taiwan wird Sir Keir nicht retten. Was im Artikel nicht erwähnt ist, ist der zweite Lichtblick bei den Wahlen: Galloway ist nach ein paar Wochen im Parlament wieder rausgeflogen.

Joerg Gerhard / 05.07.2024

Das Enttaeuschendste und Bezeichnendste ist fuer mich die Klatsche fuer Andrew Bridgen, und das sogar trotz der Publicity die der Postmaster Skandal und seine gute Rolle dabei gerade hatten. Das zeigt klar, dass die Masse hier bzgl. Covid nicht nur lieber den Kopf in den Sand steckt, sondern das Gleiche gerne wieder earlier, longer und harder machen wuerde. Meine Nachbarn in Sussex stehen da stellvertretend: sie fuehlen sich durch Boris’ partying deceived, fanden Lockdowns&co; aber trotzdem richtig- den Widersinn dessen kapieren sie gar nicht. Erschreckend ist auch, dass so viele prominente Wet Tories , inkl. Sunak, Hunt, wiedergewaehlt wurden und soviele Brexiters&co; nicht. Das deckt sich ebenfalls mit den Auffassungen meiner Nachbarn, und beides laesst mich daran zweifeln, dass diese Tories sich Richtung Conservative erneuern werden, oder dass eine solche rechte Partei tatsaechlich mal hier regieren wird. Und zum Sterben sind die Tories immer noch zu stark- dass sie doch weit mehr Stimmen als Reform bekommen haben ist i.A. einiger Kopf an Kopf Umfragen ebenfalls schlecht fuer die Richtung und Leadership bei Erneuerung/Ersatz. Das einzig Positive, das ich sehe, ist, dass C&R zusammen mehr Stimmen bekommen haben als Labour. Wenn man allerdings dann die anderen linken Parteien zu Labour’s Stimmen hinzuzaehlt ist klar, dass GB derzeit tatsaechlich stramm links tickt. Dass der Brexit rueckabgewickelt wird kann ich mir trotz allem ebenfalls nicht vorstellen. Es laeuft tatsaechlich auch nicht so schlecht wie es in der deutschen Presse immer dargestellt wird und war kaum ein Thema der ausschlaggebend, abgesehen von einigen Kandidaten s.o.. Und die schon ersparten 100Mrd Schulden dank Nichtteilnahme am 800Mrd Covidhilfen an Italien&co; Fond bleiben da noch aussen vor. Dummerweise stellen das auch die Brexiter nie heraus. Aber jedes Volk bekommt halt die Politiker, Regierung, Politik und Ergebnisse dessen die es verdient. Deutschland und GB werden sich ergo immer aehnlicher

Boris Kotchoubey / 05.07.2024

@Andreas Huber “Immer noch kein Zweifel am System?” Ihr Vorschlag, bitte; Nordkorea aber nicht anbieten.

María José Blumen / 05.07.2024

Seit Monaten war jedem Beobachter in GB klar dass es genauso kommen wird. Illegale Einwanderung wurde nicht angegangen. Alles was mit dem Brexit versprochen wurde kam überhaupt nicht auf die Agenda der konservativen Regierung. Die Tories verhielten sich nicht wie Wirtschaftsexperten und Erhalter der Inneren Sicherheit, sondern wie furchtsame Eliteschulenabgänger, die in die Politik gestolpert sind und sich dort wie Krähen in einem Stoppelfeld niedergelassen haben, bis sie erwartungsgemäss verscheucht wurden.

finn waidjuk / 05.07.2024

@Hans Hobel: Niemand hat mehr Migranten ins Land geholt als die Tories. Irgendetwas scheint an Ihrer Theorie also nicht zu stimmen.

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