Thomas Rietzschel / 06.05.2016 / 17:00 / 0 / Seite ausdrucken

Erdogan kommt. Und Europa hält ihm die Tür auf

"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Goethe will den denkwürdigen Satz nach der Kanonade von Valmy im Kreise deutscher und österreichischer Offiziere gesagt haben. Ob sich das wirklich so zutrug, wie es der Dichter dreißig Jahre später in seinen Erinnerungen an die "Kampagne in Frankreich" erzählt hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären. Vorstellbar ist es allemal. Als Begleiter seines Dienstherren, des Herzogs Karl August von Sachsen und Weimar, hatte er am Feldzug der Monarchen gegen das jakobinische Frankreich teilgenommen und am 20. September 1792 erlebt, wie die Invasionstruppen von der Revolutionsarmee in die Flucht geschlagen wurden. Am Tag darauf proklamierten die Franzosen in Paris ihre Erste Republik. Ein Epochenumbruch, der die Erfindung jeglicher Anekdote rechtfertigen würde. Das Weltgeschehen beflügelte die dichterische Phantasie. Noch den alternden Goethe erfüllt es mit Stolz, Zeitgenosse dieser historischen Ereignisse, eines Aufbruchs in die Zukunft, gewesen zu sein.

Dass die Menschen das, was sie heute erleben, später einmal in ähnlicher Weise bewegen könnte, scheint eher zweifelhaft. Werden wir doch gerade Zeitzeugen des historischen Rückfalls, der Restauration eines Sultanats, das Anspruch auf Europa erhebt. Sicher, auch das ist ein Epochenumbruch, der den Lauf der Geschichte verändern wird, freilich einer, an den sich die westliche Welt nachher nur mit Scham erinnern dürfte. Die deutsche Regierung zumal muss sich dann den Vorwurf gefallen lassen, einem Totengräber der Demokratie die Hand gereicht zu haben.

Denn daran, dass er ein neues Kalifat errichten will, lässt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan keinen Zweifel. Der offensichtlich erzwungene Rücktritt des Regierungschefs Ahmet Davutoglu ist da nur ein weiterer Schritt hin zu einem Präsidialsystems, bei dem es auf die Alleinherrschaft Erdogans hinausläuft. Die Zustimmung des Volkes erkauft sich der Diktator in spe durch eine kurzfristige Steigerung des Lebensstandards. In diesem Taumel erscheint vielen der Verlust demokratischer Rechte, die Einschränkung der Presse- und der Meinungsfreiheit zunächst als das geringere Übel.

Kraft durch Freude - jetzt auch auf Türkisch

Ein Spiel, auf das sich vor dem Türken schon andere Autokraten trefflich verstanden. Selbst unter Stalin ging es großen Teilen der russischen Bevölkerung besser als je zuvor. Hitlers Volksgenossen erfreuten sich in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wachsenden Wohlstands. Die Arbeiter konnten sich einen Urlaub an der Ostsee leisten, manche sogar eine Kreuzfahrt auf der "Wilhelm Gustloff", mit der später, am 30. Januar 1945, mehr als 9.000 Flüchtlinge in der Ostsee untergegangen sind. Die nationalsozialistische Organisation "Kraft durch Freude" machte es möglich. Die neue Reisefreiheit wurde dem Führer mit Duldung der Diktatur vergolten. Und natürlich wird auch der Wegfall der Visumpflicht für die Türken bei der Einreise nach Europa jetzt dazu beitragen, das Ansehen Erdogans in seiner Heimat zu stärken.

Dieser diplomatische Erfolg wird ihm mehr nützen, als ihm der Rücktritt seines Regierungschefs schaden kann. Handelt es sich doch auch bei der Regelung dieser Personalfrage um eine vielfach erprobtes Verfahren. Die Ausschaltung einstiger Weggefährten gehört seit jeher zum ordentlich Aufbau einer Diktatur. Hitler inszenierte 1934, ein Jahr nachdem ihn das Volk gewählt hatte, den Röhm-Putsch, um die alte Führungsriege der SA ermorden zu lassen. Stalin veranstaltete seine berüchtigten "Schauprozesse", um einstige Kumpane aus dem Weg zu räumen. Und fast alle haben sie dem "Väterchen" noch nach der Verurteilung zur Verbannung oder zum Tode ihre ewige Treue versichert, manche, weil man sie bereits zum Wahnsinn getrieben hatte, andere, weil sie ihre Angehörigen vor weiterer Verfolgung schützen wollten.

Was den türkischen Ministerpräsidenten jetzt veranlasste, bei der Ankündigung seines Rücktritts zu versichern, er werde Recep Tayyip Erdogan bis zum "letzten Atemzug" die Stange halten, für die "Familienehre" des Präsidenten einstehen, kann man sich leicht ausmalen. Die Angst vor dem politischen gewalttätigen Autisten hat ihn ebenso in die Knie gezwungen wie die EU und die deutsche Regierung unter Führung von Angela Merkel.

Und der Sultan lacht

Damit er sie nicht im Schlamassel ihre Flüchtlingspolitik sitzen lässt, liefern sie Europa einem Diktator aus, der, besessen von der Idee des osmanischen Großreiches, die Islamisierung der westlichen Welt auf allen politischen Wegen, mit Trickserei und Erpressung voran zu treiben sucht. Er wäre nicht der Diktator, der er zu sein sich schickt, wenn er sich mit der Herrschaft über das eigene Land zufrieden gäbe. Die Expansionstrieb  liegt im Wesen aller totalitären Herrschaft. "Die Moscheen", hat Erdogan einmal gesagt, "sind unsere Kasernen, die Kuppeln unsere Helme, die Minarette unsere Bajonette, und die Gläubigen sind unsere Soldaten."

Diesen Soldaten wollen die regierenden Tölpel in Berlin und Brüssel jetzt alle Tore öffnen. Statt einen Blick ins Geschichtsbuch zu werfen, um zu erkennen, wo man landet, wenn man den aufstrebenden Diktatoren so zu Willen ist, wie es die Westmächte waren, als sie 1938 das Münchner Abkommen mit Hitler unterzeichneten, statt sich diese tatsächlich drohende Gefahr  vor Augen zu führen, überschlagen sie sich lieber bei der Verdächtigung demonstrierender Bürger als rechtsradikale Gefährdung der Demokratie. Näher als die Jacke ist ihnen das Hemd.

Ihre Abwahl befürchtend, um die Pfründe in Berlin und Brüssel bangend, verteufeln die etablierten Parteien lieber die politische Konkurrenz im Lande, als dass sie es wagten, die Bedrohung von außen wahrzunehmen. Lieber stellen Sie sich mit den fremden Machthabern auf guten Fuß, als dass sie es wagten, den Bürgern reinen Wein einzuschenken. Der Epochenwandel, den wir gerade eben miterleben müssen, geht nicht zu geringen Teilen auf das Konto unserer eigenen politischen "Eliten".

Dass wir wie Goethe nach der Kanonade von Valmy später einmal mit Stolz sagen könnten, wird sind dabei gewesen, ist schlichtweg unvorstellbar. Die Zukunft, die damals anbrach, wird von denen beerdigt, die nicht mehr ein noch aus wissen. Und der Sultan, der Sultan, der lacht sich ins Fäustchen. 

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