Von Susanne Baumstark.
Man kann es in der Menschenrechtsdebatte wenden und zerfieseln wie man will, letztlich wird eine Entscheidung gefällt: tendenziell eher zu Gunsten des Täterschutzes oder zu Gunsten des potenziellen Opferschutzes. Anders formuliert: Es dominiert entweder das Individualinteresse des Täters, oder es dominiert das Interesse der Allgemeinheit an Schutz und Sicherheit. Laut Einspielern bei Plasberg (Minute 23:00) am 18. September fällt die Entscheidung pro vorrangigen Täterschutz nicht nur bei den üblichen Demonstranten gegen jedwede Abschiebung, sondern auch bei den beiden einflussreichsten deutschen Wohlfahrtsorganisationen. Das wird einfach so hingenommen. Warum?
In Bezug auf die Abschiebung von acht Straftätern nach Afghanistan, die sich unter anderem der Vergewaltigung und des schweren sexuellen Kindesmissbrauchs schuldig machten, sagte Caritas-Präsident Peter Neher: „Wir halten daher auch weiterhin an einem Abschiebestopp fest, um zu verhindern, dass die Menschen in das voraussehbare Unglück geführt werden.“ Und Diakonie-Präsident Ulrich Lilie: „Auch wenn es sich bei den Abgeschobenen um Straftäter (…) handelte, dürfen diese Menschen nicht aus wahltaktischen Gründen einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt werden. Das ist auch mit unserem Verständnis eines Rechtsstaats, in dem auch Täter einen Anspruch auf Schutz haben, nicht vereinbar.“
Das Perfide an letzterer Aussage ist die Unterstellung der „wahltaktischen Gründe“. Damit auch ja keiner auf die Idee kommt, dass es um den Schutz potenzieller Gewaltopfer gehen könnte? Oder dient dieser Einschub der Verschleierung der Tatsache, dass dem Täterschutz hier mehr Relevanz beigemessen wird, als dem Schutz der Bevölkerung? Wie anders jedenfalls käme folgender Satz an: „Auch wenn es sich bei den Abgeschobenen um Straftäter (…) handelte, dürfen diese Menschen nicht aus Gründen von Schutz- und Sicherheitsinteressen der Bevölkerung einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt werden.“
Die wahltaktischen Gründe könnten indessen bei Diakonie und Caritas selbst eine Rolle spielen. Spätestens seit einem sehr ausführlichen Beitrag in der Wirtschaftswoche vom November 2012 „über die Untiefen des deutschen Sozialsystems“ ist bekannt: „In den Wachstumsfeldern des Sozialstaats spielen die kirchlichen Wohlfahrtsträger Caritas und Diakonie die entscheidenden Rollen. Unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit haben sie ein expansives Perpetuum mobile konstruiert: Sie erfinden sich selbst immer neue Aufgaben, der Staat gibt das Geld.“ Die Verbände an allen Schalthebeln, ausgestattet mit einer „immensen Macht“ und dem Willen, keinesfalls „auf ihre Privilegien“ zu verzichten. „Doch von der politischen Seite müssen die Wohlfahrer trotz dieser Doppelzüngigkeit nichts fürchten.“ Bis dato, kurz vor der Bundestagswahl, ist das sicherlich der Fall.
Ein lukratives Perpetuum mobile
Die „Wohlfahrer“ treffen mit ihrer Entscheidung pro vorrangigen Täterschutz nicht nur bei den ganz Linken und der grünen Jugend auf Gegenliebe. Wie Teile der SPD diesbezüglich ticken, verdeutlicht ein aktuelles, von weiteren Medien verbreitetes Interview des Deutschlandfunks (DF) mit dem SPD-Innenpolitiker Rüdiger Veit. Er hält es „angesichts der Sicherheitslage für unvertretbar, abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abzuschieben. Das gelte auch für Straftäter.“ Diese sollten in Deutschland ihre Strafe verbüßen. In den schon jetzt überfüllten Gefängnissen?
Weitere Fragen des DF: „Aber geht denn nicht der Schutz der eigenen Bevölkerung vor dem Schutz dieser Schutzsuchenden, die ja auch abgelehnt sind?“ Veit: „Es geht hier nicht darum, dass die Betreffenden bei uns Schutz finden müssten. Es geht um die Frage, ob man sie in Lebensgefahr bringen kann, dadurch, dass man sie in ihren Heimatstaat abschiebt, und auch Straftäter können Träger, beziehungsweise sind Träger von Menschenrechten…“ DF: „Haben Sie nicht das Gefühl, dass das vielen Wählerinnen und Wählern gar nicht unbedingt so vermittelbar ist, dass jemand, der hier wirklich schwere Straftaten begeht, dann auch weiterhin unter unserem Schutz steht?“ Veit: „Das ist ja das, was ich versuchte, eben zum Ausdruck zu bringen. Es geht hier nicht um die Frage des Schutzes, den der Betreffende natürlich dann eben nicht dauerhaft bekommen kann.“ Dieses Lavieren geht bis zum Schluss des Interviews weiter. Auch hier wird partout nicht unmissverständlich zugegeben, dass eine Entscheidung zu Ungunsten des Schutzinteresses der Bevölkerung gefallen ist.
An dieser Stelle noch die Argumentation des Bayerischen Flüchtlingsrats:
Erstens: Die Abschiebung von Straftätern sei in der Regel eine Doppelbestrafung. „Straftäter sitzen hier ihre Strafe ab wie jeder andere auch, nur erwartet sie dann nach der Verbüßung der Strafe noch eine Strafe obendrauf. Das ist in unseren Augen nicht nur nicht fair, sondern verletzt den Gleichheitsgrundsatz moderner Rechtsstaaten.“
Zweitens: Abgeschobene seien im Bürgerkriegsland Afghanistan großen Gefährdungen aussetzt. „Das gilt, da es sich nicht auf spezifische Individuen bezieht, für alle, auch Straftäter. Menschenrechte sind hier nicht unterschiedlich auszulegen.“
Drittens: „Schließlich brüsten sich hier Innenminister wie Joachim Herrmann damit, dass da zwei Vergewaltiger und einer, der schwere Körperverletz-ung begangen hat, aus Bayern abgeschoben wurden. Die afghanischen Behörden werden aber nicht darüber informiert, wer Straftäter ist und welche Delikte begangen wurden, angeblich aus Datenschutzgründen. Das heißt, auch Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder spazieren dort vom Flughafen in die Stadt und können unbehelligt ihr Unwesen treiben. Dies finden wir politisch höchst verantwortungslos. Abschiebung schafft Probleme nicht aus der Welt, sondern bürdet sie nur Staaten auf, die viel hilfloser sind als wir.“
Die Lage der Opfer ist dramatisch
Die theoretische Abgehobenheit dokumentiert in all diesen Fällen, dass die Menschenrechte der Opfer und deren dramatische Lage nicht mal im Ansatz von Interesse sind. Eine seltene Ausnahme bot im Mai die Pforzheimer Zeitung, als sie den Vater des Vergewaltigungsopfers in der Bonner Siegaue zu Wort kommen ließ: „Die Familie stammt aus dem Enzkreis, sie lebte das, was man ein normales Leben nennt. Bis zur Tatnacht. Seither: Verzweiflung. Trauer. Wut.“ Der Vater beklagte in einem Brief an die Bundeskanzlerin und den Bundesinnenminister die unkontrollierte Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge, und dass abgelehnte Asylbewerber nicht bis zum Tag der Abschiebung in Abschiebehaft kommen. „Er sagt, mit anderen Gesetzen hätten seine Tochter und ihr Freund nicht so Schreckliches erleben müssen.“ Die beiden Opfer seien tief traumatisiert. „Dieses Ereignis“, so der Vater, „wird unsere Familien und alle, die uns nahe stehen, unser Leben lang verfolgen.“
Immerhin liegen hierzulande auch umsichtige Argumentationen vor, wenn es um die Abwägung von Menschenrechten geht. The European schrieb im Mai 2011 zum Thema Sicherungsverwahrung: „Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention lautet: ‚Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.‘ Während aber in der Rechtsprechung das Recht auf Freiheit von Angeklagten und auch von verurteilten Straftätern fein ziseliert ausgearbeitet worden ist, wird der zweite Teil der Vorschrift, das Recht auf Sicherheit von potenziellen Opfern von Straftaten meist nicht einmal erwähnt.“
In den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finde sich kein Wort zur Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Verurteilten und dem Sicherheitsanspruch der Opfer und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts setzte kein deutliches Signal pro Opfer. „Keine deutliche Aussage der Karlsruher Richter zu berechtigten und nachvollziehbaren Belangen von Gewaltopfern – wieder einmal stehen die Täter und deren Interessen und Belange im Vordergrund. Der Blickwinkel der Opfer von schwersten Straftaten ist ebenso wie das für einen modernen Rechtsstaat klare Bekenntnis zu einem möglichst umfassenden Schutz vor hochgradig gefährlichen Verbrechern kaum erkennbar.“ Oberste Prämisse des Staates müsse aber immer der Schutz der Bevölkerung sein und ihr Recht auf Sicherheit und Frieden. Warum ist es das nicht?
Susanne Baumstark ist freie Redakteurin und Diplom-Sozialpädagogin. Ihren Blog finden Sie hier.