Titus Gebel / 15.10.2019 / 06:10 / Foto: Joseph M. Buliavac / 105 / Seite ausdrucken

Enteignung und Beschimpfung schaffen Populismus

Der Wähler in Europa ist ein undankbares Geschöpf. Nie war der Lebensstandard höher, die Demokratie verbreiteter, gab es mehr Freiheiten. Trotzdem erdreistet sich ein immer höherer Prozentsatz, sogenannte populistische Parteien zu wählen. Das kann nur mit den sozialen Netzwerken zusammenhängen, welche die Menschen mit Fake-News aufhetzen. Vermutlich spielt auch eine Rolle, dass sich viele als Globalisierungsverlierer fühlen und mit den Änderungen unserer modernen Gesellschaft nicht mehr zurechtkommen. Sie sind leichte Beute für populistische Rattenfänger. Stimmt’s?

So etwa lauten die Begründungen derjenigen – nennen wir sie Establishment –, die ratlos vor dem Phänomen erstarkender populistischer Parteien in immer mehr Ländern des Westens stehen. Was aber, wenn das Establishment selbst Ursache des Wählerverhaltens ist, das es beklagt?

Vielleicht haben diese Populisten das Gefühl, dass der Gesellschaftsvertrag vom Establishment zunehmend zu ihren Lasten abgeändert wird, ohne dass sie dazu befragt werden. Bei aller berechtigten Kritik an dem Konstrukt eines Gesellschaftsvertrages konnte man bisher davon ausgehen, dass zumindest in westlichen Gesellschaften tatsächlich eine Art ungeschriebene Vereinbarung gegeben war.

Dieser „consent of the governed“ erlaubte es den Regierungen, im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung neue Regeln zu erfinden. Dies scheint inzwischen immer weniger der Fall zu sein. Um zu ergründen, warum das so ist, ist ein Perspektivwechsel hilfreich.

Die Verkäuferin fragt sich, was ihre Schuld sein soll

Versetzen wir uns in die Lage eines gewöhnlichen Bürgers, also eines angeblichen Vertragspartners dieses Gesellschaftsvertrages. Diesem Bürger, etwa einer Verkäuferin im Supermarkt (es könnte auch ein Verkäufer sein), erzählt man nun, sie sei schuld daran, dass Menschen in Afrika und Asien in Armut lebten und müsste daher die Benachteiligten dieser Welt in großer Zahl aufnehmen. Wie viele genau, bleibt offen. Grenzen seien von gestern, heute sei die Welt offen und tolerant. Außerdem sei das gut für die Wirtschaft und die Rente.

Die Verkäuferin fragt sich, was genau ihre Schuld sein soll und ob die Neuankömmlinge tatsächlich Wirtschaft und Rente stabilisieren. Nach ihrer Beobachtung arbeiten viele nicht, sondern beziehen Sozialleistungen. Sie hat zeitlebens in die sozialen Sicherungssysteme einbezahlt und kann sich nun leicht ausrechnen, dass bei einer immer größeren Zahl von Nutznießern, die nicht einbezahlen, für sie am Ende weniger übrig bleibt.

Mit Sorge betrachtet sie auch, dass viele Zuwanderer Muslime sind, deren Ideologie nicht unbedingt zur Landeskultur passt, etwa was die Stellung der Frau, das Verhalten gegenüber Andersgläubigen und das Aushalten von Kritik an ihrer Religion angeht. Sie befürchtet, dass das noch erhebliche Konflikte geben wird, was gegenüber dem bisherigen Leben eine deutliche Verschlechterung bedeutet.

Unsere Verkäuferin sieht weiter, dass ihr Supermarkt jetzt einen Sicherheitsdienst hat, das war früher nicht der Fall. Auch bemerkt sie, dass zahlreiche Zuwanderer gegenüber Frauen wenig bis gar keinen Respekt an den Tag legen. Sie ärgert sich auch, dass sie nicht mehr allein durch den Stadtpark joggen oder im Sommer unbeschwert knappe Kleidung tragen kann. Immer seltener hört sie ihre Muttersprache in den Schlangen an den Kassen. Sie fragt sich, wie sich Menschen überhaupt noch an Gesetze halten sollen, wenn sie sie nicht kennen, noch nie von ihnen gehört haben, sie nicht mal lesen können?

Unsere Verkäuferin hat, wie viele, gelernt, ihren Unmut zu diesen Themen nicht mehr offen zu äußern. Eine ehemalige Freundin hat ihr vorgeworfen, „rechts“ zu sein, und ihr deshalb die Freundschaft gekündigt. Auch erwartet der Eigentümer der Supermarktkette von seinen Mitarbeitern ein Bekenntnis zu Ausländerfreundlichkeit und Diversität. Würde sie sagen, dass sie eine Partei wählt, die sich dagegen ausspricht, wäre ihr Arbeitsplatz in Gefahr.

Faktisch eine Teilenteignung

Bisher konnte die Bürgerin davon ausgehen, dass sie in einem (National-)Staat lebt. Nach der Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek versteht man darunter ein soziales Gebilde, dessen konstituierende Merkmale ein von Grenzen umgebenes Territorium (Staatsgebiet), eine darauf als Bevölkerung ansässige Gruppe von Menschen (Staatsvolk) sowie eine auf diesem Gebiet herrschende Regierung mit Gewaltmonopol sind (Staatsgewalt). Außenstehende konnten nur unter bestimmten Voraussetzungen Mitglied des Staatsvolkes werden; die Voraussetzungen dafür wurden vom Staatsvolk beziehungsweise dessen Vertretern festgesetzt.

Aus dieser Stellung als Staatsbürger ergeben sich konkrete Rechtspositionen. Denn die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln einer Gesellschaft, ihre Institutionen, ihr Sozialsystem sowie ihre Infrastruktur wurden meist über einen langen Zeitraum aufgebaut und finanziert.

Wer daran als Bürger mitgewirkt hat, auch wenn es durch erzwungene Steuer- und Abgabenzahlungen war, hat eine eigentumsähnliche Rechtsposition erworben. Neben der sozialen Sicherung sind dies Nutzungsrechte an Infrastruktur (Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, öffentliche Straßen und Gebäude), Hilfe im Ausland (Botschaften, Konsulate) und vor allem Sicherheit (Polizei, Armee, Grenzschutz).

Wer nun fordert, jeder Beliebige dürfe an dieser eigentumsähnlichen Rechtsposition durch Einwanderung partizipieren, unterscheidet sich im Prinzip nicht von einem Kommunisten, der verlangt, jeder müsse seine Wohnung und sein Vermögen mit allen Bedürftigen teilen. Das ist faktisch eine Teilenteignung der bisherigen Bevölkerung.

Eine Menschenrechtsideologie, die von angeborenen (Teilhabe-)Rechten spricht und den Eindruck erweckt, man könnte solche Rechte wie persönliches Eigentum besitzen und an jeden beliebigen Ort der Erde mitnehmen, verkennt: Rechte sind Verhältnisse zwischen einem, der ein Recht beansprucht, und einem anderen, der diesen Anspruch anerkennt.

Wenn jemand ein bedingungsloses Recht auf eine materielle Zuwendung hat, etwa ein Zuwanderer auf Teilhabe am Sozialstaat, muss es jemand anderen geben, der eine Pflicht hat, diese zu erbringen, und zwar ohne dafür irgendwelche Rechte zu erhalten, da sie ja auf der anderen Seite bedingungslos sind. Ein solches Postulat ist nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch ein äußerst fragwürdiges Unterfangen.

Der bisherige gesellschaftliche Deal, dass die Regierung versucht, den Wohlstand der Regierten im Rahmen der gegebenen Normen zu mehren, wurde einseitig aufgekündigt. Die neuen Regeln lauten, dass eine beliebige Anzahl von Außenstehenden jetzt Anspruch hat, an dem von den Regierten erschaffenen Wohlstand zu partizipieren, und dass die eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Normen nicht mehr für alle verbindliches Leitbild sind.

Aber gehört nicht zu Freiheit und Selbstbestimmung auch das Recht, darüber zu entscheiden, mit wem man zusammenleben will?

Auch noch schuld, dass sich das Weltklima ändert

Aber das ist noch längst nicht alles, was unserer Verkäuferin zugemutet wird. Sie mag von Cantillon-Effekt und Geldmengentheorie noch nie etwas gehört haben. Was sie aber merkt, ist, dass die Mieten immer teurer werden, ihr Einkommen aber nicht im gleichen Masse steigt. Das ist kein Wunder, denn die Geldplanwirtschafter haben Null- oder gar Negativzinsen festgelegt. Noch ein historisch einzigartiges Experiment, dessen Verwerfungen unsere Verkäuferin ausbaden muss.

Da aus Anleihen und Spareinlagen keine nennenswerten Zinserträge mehr zu generieren sind, legen alle, die es können, in Immobilien an. Das steigert die Immobilienpreise und letztlich auch die Mieten. Der Traum vom Eigenheim rückt für immer grössere Bevölkerungsschichten in immer weitere Ferne. Auch was man unserer Verkäuferin bisher erzählt hat, dass sie sparen und für ihr Alter vorsorgen müsse, erscheint nun zunehmend sinnlos. Sie weiss nicht einmal mehr, ob ihre Währung in zehn Jahren noch existieren wird.

Stattdessen ist unsere Verkäuferin jetzt auch noch daran schuld, dass sich das Weltklima ändert und soll in Zukunft gefälligst auf den hart ersparten Urlaubsflug sowie auf Fleisch und Autofahren verzichten. Ihre ganze Lebensweise soll sie umstellen, weil in hundert Jahren die globale Durchschnittstemperatur um ein bis fünf Grad steigen wird, so genau weiß man das nicht.

Dass bisher sämtliche CO2-Modelle bei der Voraussage der Temperaturentwicklung versagt haben: geschenkt. Dass etwa die deutsche Energiewende bisher 200 Milliarden gekostet hat und der Effekt auf das Weltklima exakt null beträgt: geschenkt. Vielleicht arbeitet ihr Bruder im Kohlebergbau in der Lausitz. Sie kann ihm nicht erklären, warum die Zerstörung seines Arbeitsplatzes sinnvoll ist, obwohl es den Klimawandel in keiner Weise messbar beeinflusst und sich keines der großen Kohleländer von diesem „Vorbild“ anleiten lässt. Das Gefühl einiger hüpfender Kinder und vieler Journalisten, etwas total Gutes getan zu haben, scheint real zerstörte Existenzen mehr als aufzuwiegen.

Der bisherige Gesellschaftsvertrag wurde also nicht nur in Randbereichen, sondern grundlegend zu lasten der Bürger geändert. Diese müssen nun einen Umbau von Bevölkerung und Lebensweise, ein nie dagewesenes Zinsexperiment und eine Einschränkung ihrer gesamten Lebensweise hinnehmen. Allerdings ohne dass sie dazu um ihre Zustimmung gefragt worden wären.

Was macht nun unsere Verkäuferin, wenn sie damit nicht einverstanden ist? Wenn sie ihr berechtigtes Interesse wahrnehmen will, dass der Gesellschaftsvertrag nicht derart schwerwiegend geändert wird? Was bleibt ihr überhaupt übrig, wenn sie nicht einmal offen diese Meinung äußern kann, ohne Nachteile befürchten zu müssen? Vielleicht ein Kreuz bei populistischen Parteien, die Abhilfe versprechen?

Entweder wir leben in der besten aller Welten und sind voll auf dem richtigen Kurs, oder die Situation hat sich für viele Menschen so zum Nachteil verändert, dass sie an den Institutionen zu zweifeln (oder zu verzweifeln) beginnen.

Beides zugleich ist nicht möglich. Nur eine Seite liegt hier richtig. Ich würde dabei nicht unbedingt aufs Establishment wetten.

Zuerst erschienen in der in der Neuen Zürcher Zeitung. Wir danken dem Autor und der NZZ für die Abdruckerlaubnis.

Foto: Joseph M. Buliavac U.S. Navy via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Gabriele Klein / 15.10.2019

PS: natürlich kann man auch einen Dienst beauftragen in sofern entbindet das Alter nicht von der Pflicht so das hochrichterliche Argument. Nur, was wenn der bislang fitte Alte plötzlich heimgesucht wird vom Infarkt, oder Tod? Ist es naheliegend diese Möglichkeit bei über 60 jährigen in Betracht zu ziehen wenn daraus dann ein Unfall resultiert?

Gabriele Klein / 15.10.2019

Richtig und ich darf noch hinzu fügen: Nicht nur der Gesellschaftsvertrag sondern auch das Recht wird aufgekündigt wenn man angehalten wird für die Arbeit zu bezahlen, die man selbst verrichtet wie z.B. die Sicherung von Straßen. Sofern Sie nicht nachhaltig beweisen dass sie dies mit 65 nicht können, und der einzig wirklich nachhaltigste Beweis ist der Tod, sind sie gehalten die Straßenränder notfalls bäuchlings zu rupfen und zwar ganz genau in dem Ausmaß wie es dem Nachbar beliebt (sollte der den Ordnungsbeamten kennen). Objektive Kriterien wann des Arbeitsdienstes genug ist gibt es leider nicht, Jedes Pflänzlein will gerupft sein auch bei 36 Grad Hitze . Wer ein Grundstück hat das z.B. 2m breit ist und mit 40-50 m Länge an das Stadteigentum grenzt hat Pech gehabt. Er arbeitet u.U. mehr für das Eigentum der Stadt als für das Eigene und zwar von 65 bis 100 bis dass ihn der Tod aus der Knechtschaft deutschen Privateigentums befreie. Für den Mieter gilt fast das gleiche. Nun lese ich da andrerseits auf Juraforum: “Eine Definition für grobe Fahrlässigkeit gibt es nicht.  Sie wird immer in jenen Fällen angenommen, in denen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt von einer Person in sehr hohem Maße außer Acht gelassen worden ist. Auch, wenn naheliegende Überlegungen nicht angestellt worden sind, wird von „grober Fahrlässigkeit“ gesprochen. Wow, Wäre jetzt die Vermutung dass der von der Stadt in Dienst genommene Blinde ein herannahendes Fahrzeug nicht sieht naheliegend oder nicht? Und wäre es naheliegend zu vermuten dass auch ein fitter 95 gerade dann wenn sein Einsatz für die Sicherheit andrer gefordert ist mit tod auf der Couch liegen könnte naheliegend? Seltsam Jugendliche werden vor dem Einsatz im Militär gemustert. Jene,, die der Arbeitsvertrag mit dem Rentenalter ausmustert für den nachfolgenden Dienst auf der Straße nicht.  Zu teuer? Ah. da ist noch die Sache mit der Haftung z.B. wenn man nach der Ausmusterung in die Rente falsch eingemustert hätte…........

Dr. Joachim Lucas / 15.10.2019

Wenn man immer die gleichen Leute der Blockparteien wählt, die das immer gleiche schon seit Jahren propagieren und tun, kann man nicht erwarten, dass sich etwas ändert. 87% haben die Entkernung Deutschlands per Wahl, letztmalig 2017, genauso gewählt.

Werner Kramer / 15.10.2019

Sehr vernünftige Analyse. Leider habe ich den Eindruck, dass die Restvernunft in diesem Lande (vielleicht sogar auf dem ganzen Planeten) massiv schwindet.

sybille eden / 15.10.2019

Herr Gereon Stupp, dann waren ATHEN, SPARTA,TROJA und das RÖMISCHE REICH keine STAATEN ???

M.R.W. Peters / 15.10.2019

Das Checken der Leserbriefe dauert ja ewig! Dadurch kommen Reaktionen / Kommentare zu vorherigen Beiträgen zu kurz. Schade und neu zu bedenken…

Silas Loy / 15.10.2019

Das ist eine sehr gelungene Zusammenfassung der Lage; so einfach, klar und überzeugend kann man das darstellen. Vielen Dank!

Marie-Jeanne Decourroux / 15.10.2019

Off topic: Liebe @Ilona G. Grimm: Machen Sie sich nichts draus, das sind die inneren Widersprüche des Atheismus. Man kann an einen unbekannten Gott glauben - und wir Christen tun es. „Deo quasi ignoto coniugimur“, schrieb schon Thomas v. Aquin [„Wir sind mit einem quasi unbekannten Gott verbunden“]. Aber man kann keinen Gott leugnen, den man nicht kennt. Ohne einen Glauben und damit eine gewisse Vorstellung von Gott ist die Aussage »Es gibt keinen Gott« so inhaltslos wie der Satz »Es gibt kein X«. Er bleibt reine Syntax - ohne Semantik. Herr Heinz Gerhard Schäfer irrt wie alle, die sagen, sie erhofften »nichts«, zumindest. darin Es erscheint nicht gewagt anzunehmen, dass auch er hofft, morgen keine Zahnschmerzen zu bekommen. Beim »Paradies« verhält es sich wie mit »Gott«: ohne Begriff davon bleiben alle Aussagen reine Syntax - nicht mehr (vielleicht ist das Paradies ja nur der Ort, wo man keine Zahnschmerzen bekommt

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