I. Die Grenzöffnung im Herbst 2015 war ein tiefer Einschnitt in der deutschen Geschichte. Ihre Tragweite können wir heute erst annähernd ermessen. Deutschland ist mit dieser Entscheidung zu einer Art Kanzlerinnen-Autokratie geworden. Weder das Parlament, geschweige denn die Bevölkerung, wurde zur Frage der Masseneinwanderung und ihren Folgen befragt. Die Bundestagsabgeordneten haben ihr Recht, darüber abzustimmen, nicht einmal reklamiert, sondern sammelten sich mal in stiller, mal in lauter Gefolgschaft.
Wenn auch Bundeskanzlerin Merkel und die allzu willfährigen Medien die sichtbarsten Akteure einer wohl irreversiblen Entwicklung waren, die Ereignisse im Herbst 2015 sind ebenso als ein massenpsychologisches Phänomen zu deuten und hätten ohne die breite Unterstützung in Teilen der Bevölkerung niemals diese suggestiven Bilder erzeugen können. Für die sog. Willkommenskultur, die nicht allein ein mediales Phänomen war, kann man vielfache Erklärungsversuche finden. Ich selbst habe an anderer Stelle auf tieferliegende Motive, historische Linien und mentale Muster für ihre Entstehungsbedingungen hingewiesen (vgl. Die Eitelkeit des Guten). Nirgendwo sonst in Europa gab es diese Willkommenskultur in reiner, konzentrierter Form. Die Szenen an deutschen Bahnsteigen und vor Sammelkunterkünften können als eine massenpsychologische und massenmediale Selbstbegeisterung gedeutet werden, die einem Gefühlsrausch diente, der Politik und Moral in eins setzte und jegliche Reflexion über die Folgen bei Strafe des sozialen Ausschlusses verbot.
Gibt es ein vergleichbares Ereignis in der deutschen Geschichte, das auf Tiefenstrukturen verweist, die unabhängig von historisch völlig anderen Voraussetzungen im Kern Ähnlichkeiten hat? Es ist für mich erstaunlich, dass noch niemand die Ereignisse im August 1914 mit denen des September 2015 verglichen hat. Die Kriegsbegeisterung 1914 ist für uns ein Ereignis wie aus einem anderen, längst versunkenen Zeitalter. Für den September 2015 gilt das in gewisser Weise schon heute. Die täglichen Meldungen über die Folgen der Massenmigration in den beiden letzten Jahren lassen selbst ein so nahes Ereignis wie die Grenzöffnung hinter einem dichten Schleier verschwinden. Tatsächlich befand sich Deutschland, präziser ein Teil der deutschen Gesellschaft, vor zwei Jahren in einer Art Traumland, an das sich heute nicht einmal die eifrigsten Befürworter der Grenzenlosigkeit gerne erinnern. Wahrscheinlich will auch bald niemand mehr dabei gewesen sein.
Natürlich wäre es unsinnig, die Ereignisse von 1914 mit 2015 gleichzusetzen. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. Die folgenden Ausführungen wollen deshalb nur zum Nachdenken anregen und auf einige Gemeinsamkeiten aufmerksam machen, anhand derer weitergedacht werden müsste: die Anrufung einer historischen Mission Deutschlands, der starke idealistische Gehalt der Begeisterung, die massenpsychologische Dimension des Vorgangs, die massive Abwertung der Kritiker und Zweifler, die eschatologische Komponente, die Ziellosigkeit des eigentlichen Vorganges und das rasche Ende der Euphorie, begleitet von einer aggressiven Abwehr der Kritiker und einer Ignoranz der realen Entwicklungen.
Wie eine Ironie der Geschichte wirkt es, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Soldaten 1914 bei der Ausfahrt aus den Bahnhöfen an die Front mit Jubel verabschiedet, während 2015 die Ankommenden wie siegreiche Heimkehrer begrüßt wurden. Nicht Auszug, sondern Einfahrt ins Paradies Deutschland, zu Mama Merkel, wie auf manchen Schildern zu lesen war. Dass in der Regel junge Männer (im kriegsfähigen Alter), mit Teddybären und Plüschtieren begrüßt wurden, zeigt nur den Infantilisierungsgrad eines Teils der deutschen Gesellschaft, der seine abstrakte Xenophilie auf die Ankommenden übertrug. Der „Andere“ als empirische Gestalt wurde erst gar nicht wahrgenommen. Allabendlich durfte man sich dafür in den Nachrichten als Teil des „hellen Deutschland“ betrachten und bewundern. Man hatte ein Zeichen gesetzt.
Ein historisches Ereignis, das in der Rückschau eines postheroischen Zeitalters unerklärlich erscheint
II. Die Begeisterung, oder: wie es viel präziser genannt wurde, das Erlebnis des August 1914, war ein historisches Ereignis, das in der Rückschau eines postheroischen Zeitalters unerklärlich erscheint. Arbeiter, Intellektuelle, Konservative wie Sozialdemokraten schlossen sich dem Jubel nach der Kriegserklärung durch Kaiser Wilhelm II. an. Bei näherer Betrachtung muss diese These aber zumindest relativiert werden. Die Begeisterung über den Kriegsausbruch war in der Wirklichkeit weniger einheitlich als uns die Bilder und die tradierte Geschichtsschreibung suggerieren. Zudem handelte es sich mehr um eine Begeisterung der „Nation an sich selbst“ und weniger um eine Begeisterung für den Krieg an sich. Am deutlichsten zeigte sich das sog. Augusterlebnis dann auch beim Bildungsbürgertum, bei Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern. Bezeichnenderweise, so Joachim Radkau in seiner Studie Das Zeitalter der Nervosität, „kulminierte die Kriegspsychose keineswegs auf dem platten Land, in den Kernregionen des altkonservativen Monarchismus, sondern vor allem in den Großstädten, am meisten in Berlin.“ Eine Beobachtung, die wohl auch für die Willkommenskultur im Herbst 2015 Geltung hat.
Die bedeutsamen politischen Entscheidungen in Deutschland wurden 1914 ausnahmslos vor der Kulisse begeisterter Massen getroffen. Demonstrationen und Kundgebungen verlangten nach einer Bestrafung Serbiens und seiner Verbündeten, Mobilmachung und Kriegserklärung wurden lautstark gefordert. Modris Ekstein kommt in seinem Buch Tanz über Gräben angesichts dieser Volksaufwallungen zum Schluss:
„Es führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass in Deutschland die Massen die politische Initiative an sich gerissen hatten. (…) Kein politischer Führer, der einem derart entschlossenen Ruf des Volkes nach entschlossenem Handeln hätte widerstehen können.“
Insofern und in Analogie dazu, wirkt der Titel von Robin Alexander: Die Getriebenen, eine Geschichte der entscheidenden Monate rund um die Grenzöffnung 2015, mehr als plausibel. Ich erinnere hier nur an eine Situation: Merkels Auftritt im Juli 2015 beim Bürgerdialog in Rostock und die Tränen des libanesischen Mädchens Reem. Nach Merkels Auftritt ging im Netz unter #merkelstreichelt ein Shitstorm über die Kanzlerin nieder. Sie sei gefühlskalt, ohne Empathie, ein eiskaltes Wesen, kurz: ein Unmensch. Merkel hätte längst lernen müssen, so die prantelsche SZ am 16. Juli 2015, „das Flüchtlinge, aus welchen Gründen auch immer sie nach Deutschland kommen, für Deutschland ein Gewinn sind.“
Die allermeisten Medien und weite Teile der Öffentlichkeit waren sich in der Bewertung Merkels einig. Das Gute plädierte gegen die Herzlosigkeit. Die Verwandlung der eiskalten Politikerin in die No-Border Kanzlerin war eine Metamorphose, die unmittelbar auf den (moralischen) Druck von außen reagierte. Hätte irgendeiner der damals amtierenden Politiker in Deutschland gegen die Stimmung in den Massenmedien und dem „moralisch erhabenen“ Teil der Zivilbevölkerung, gegen die kulturellen und intellektuellen Eliten, handeln können? Hätte irgendein Politiker in Deutschland den Mut oder den Willen gehabt, die „hässlichen Bilder“ an der deutschen Grenze öffentlich in ARD oder ZDF, bei Maischberger oder Maybret Illner, zu rechtfertigen? Ich bezweifle das. Niemand in der Regierung wollte die Verantwortung für unangenehme Entscheidungen übernehmen. Es waren Feigheit, Mutlosigkeit und nicht Kalkül oder humanitäre Gründe (auch wenn sie eine Rolle gespielt haben mögen), die die Grenzöffnung veranlassten.
Dem Jubel der Massen lagen vielfältige und vielfach irrationale Motive zugrunde
III. Dem Jubel der Massen im August 1914 lagen vielfältige und vielfach irrationale Motive zugrunde: patriotische Wunschträume, Ausbruch aus der als beklemmend empfundenen Atmosphäre der wilhelminischen Zeit, hegemoniale nationalistische Phantasien, die Vorstellung von Abenteuern und lustvoller Verantwortungslosigkeit anstelle bürgerlicher Ordnung und nicht zuletzt die Möglichkeit persönlicher Verwirklichung in der Extremsituation des Krieges. Der Profanierung der eigenen Existenz wurde mit Kriegsbeginn ein vermeintliches Ende gesetzt; es galt, eine höhere Mission Deutschlands in der Welt zu erfüllen.
Im Herbst 2015 sahen ebenfalls manche die Chance gekommen, eine Art heilige Mission zu erfüllen, die einem von Konsum gesättigten Leben einen höheren Sinn gab und gleichzeitig im Fremden den Erlöser von moralischer Schuld (reich, weiß, Ausbeuter etc.) zu begrüßen. Unter den heutigen Eliten gilt es ja als fortschrittlich, mit den Stichworten Globalisierung oder „One-World“ deutsche Verpflichtungen in der ganzen Welt zu behaupten, die Handlungsimperative zur Folge haben. Wir müssen mehr tun, wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, wir zeigen mit dem moralischen Zeigefinger auf andere, wir lösen die Probleme der Welt, wir haben aufgrund unserer Geschichte eine wichtige Mission zu erfüllen.
Man wird hier unweigerlich an die ganzen Welt-Komposita erinnert, die den Jargon Ende des 19. Jahrhunderts prägten und offensichtlich tiefe Spuren in der deutschen Seele hinterlassen haben. Weltmacht, Weltpolitik, Weltwille, Welthandel, Weltseele, Weltspiegel, Weltbürger, Weltgeschichte und besonders aktuell: Weltoffenheit. In Deutschland wurde schon immer in großen Kategorien gedacht.
Die imaginierte Größe, die narzisstische Überhöhung der eigenen Stärke und moralischen Überlegenheit, liefert den idealen Bezugspunkt für von allen Friktionen der realen Welt abgelöste Projekte: Deutschland konnte 1914 aber nicht zur Weltmacht gegen eine globale Allianz von Gegnern aufsteigen, genauso wenig wie 2015 zum Retter und Gewissen der Welt. In beiden Fällen wurde, aus Gründen der selbst zugeschriebenen kulturellen bzw. moralischen Überlegenheit eine historische Mission Deutschlands behauptet. Eine kolossale Egozentrik, die in sich alle Anzeichen einer Selbstdestruktion trägt.
Die relative Neuheit des deutschen Nationalstaates, der beklagte Mangel an sichtbaren Beweisen für den deutschen Einfluss in der Welt, der Übergang Wilhelms II. von der europäischen Politik hin zu einer „Weltmachtpolitik“, aber auch die wegweisenden deutschen Inhalte in Musik, Philosophie oder Theologie: all das gab dem deutschen Nationalismus von 1914 einen starken idealistischen Gehalt. Man stand über den profanen Werten der materialistischen Krämerseelen, insbesondere Englands.
Derselbe Idealismus und die Ablösung von der materiellen Welt, in der Ressourcen begrenzt sind, etwa: Arbeitsplätze, Wohnraum, Integrationskraft, zeigte sich 100 Jahre später in der wiederholten Anrufung an das Volk mittels einfacher Durchhalteparolen („Wir schaffen das!“), als auch in der Idee einer Läuterung, die die rasch entstandene Krise angesichts 100.000er Einwanderer aus tribalistischen, patriarchalen und gewaltaffinen Gesellschaften als eine Art Examen für eine bessere Zukunft sah. „Ich habe das absolut sichere Gefühl, dass wir aus dieser – zugegeben komplizierten – Phase besser herauskommen werden, als wir in diese Phase hineingegangen sind," so Merkel in einer Rede zur Lage der Nation im Herbst 2016.
Es geht mir in der Zuspitzung, das sei hier noch einmal explizit betont, nicht um eine simple Gleichsetzung, es geht mir um die Maßlosigkeit der politischen Agenda, das Abkoppeln von jeder Realpolitik, die gläubige Heilserwartung, die Anrufung eines höheren Endziels und die Absage an jegliches logische und kohärente Denken. Strukturelle Muster, die wir 1914 und 2015 finden können.
Das Hineinschlittern in eine ausweglose Situation, ohne Plan
IV. Die Ziellosigkeit, das Hineinschlittern in eine ausweglose Situation, ohne klaren Plan oder Idee, ist ein weiteres Merkmal für die Verwandtschaft der beiden Ereignisse. Noch bis zum September 1914 konnten weder Regierung noch Militärs konkrete Kriegsziele vorweisen. Statt einer politisch-militärischen Strategie stand eine Vision, die eine Expansion Deutschlands in einem eher existenziellen als physischem Sinne meinte. Auch „Wir schaffen das!“ beantwortete weder die Frage nach dem Was noch nach dem Wir. Es gab und gibt keinen Plan. Die Anrufung eines imaginären Kollektivs bleibt so vage und unbestimmt. Bis heute ist völlig ungeklärt, was die deutsche Gesellschaft denn schaffen soll? Inzwischen wird diese Frage auch gar nicht mehr gestellt.
Das Ende der Euphorie kam in beiden Fällen rasch. Entscheidend war 1914: die Begeisterung galt einem ganz bestimmten Krieg, einem Krieg wie ihn auch die Militärs in schnellen Offensiv- und Umfassungsschlachten erträumten. Einem Krieg, der dem von 1870/71 ähnlich war, einem kurzen Krieg, den Wilhelm II. seinen Soldaten ja versprochen hatte und der die Gesellschaft als Ganzes nicht tangieren würde. Noch bevor das erste Laub von den Bäumen fiel, sollten die Soldaten, so der Kaiser in einer Ansprache, wieder zurück sein. Der Überschwang war also Folge einer absoluten Fehleinschätzung der Logik der industriellen Feldschlachten. Als spätestens mit dem Rückzug an die Marne klar wurde, dass dieser Krieg länger dauern würde, legte sich die Euphorie des August 1914 rasch und war auch trotz Dauerpropaganda nicht mehr herstellbar.
Eine vollkommene Verkennung der Lage, eine absolute Fehleinschätzung der Zahl und der kulturellen Prägungen der Ankommenden und den daraus folgenden Probleme kann auch 2015 attestiert werden. Die ursprünglichen Versprechungen von ökonomischem Aufschwung durch gut gebildete Flüchtlinge, die Absicherung des demografischen Wandels, die kulturelle Bereicherung, Parolen wie „Wertvoller als Gold“ oder „Chance für Deutschland“, klangen immer absurder, je mehr die Wirklichkeit der Masseneinwanderung im Alltag sichtbar wurde. Vielleicht haben ihre Protagonisten, außer einigen Politikerinnen der Grünen, auch nie an diese Voraussagen und Formeln geglaubt. Trotz aller redlichen Bemühungen der öffentlich-rechtlichen wie auch fast aller privaten Medien, das Bild des „edlen Refugee“ weiter zu verbreiten, waren und sind immer weniger Menschen bereit, ihr eigenes Erleben und die tägliche Realität auszublenden. Es gibt nun mindestens zwei Wirklichkeiten in Deutschland.
Was folgte, war eine ungeheure Spaltung der deutschen Bevölkerung
V. Der deutsche Einheitsrausch der Augusttage 1914, auch das eine Analogie zum Herbst 2015, wurde bald schon eine ferne Erinnerung, was folgte, war eine ungeheure Spaltung der deutschen Bevölkerung zwischen denen, die eine fanatische Durchhaltementalität ausbildeten, und den anderen, die sich immer offener zu ihrer Friedenssehnsucht bekannten. Daraus entwickelte sich ein tiefer Hass, der in der Weimarer Republik mit in den Bürgerkrieg führte. Auch heute ist der Hass gegen die moralisch Verwerflichen, insbesondere in linksextremen Kreisen, weit verbreitet. Auf der guten Seite zu stehen erlaubt jegliche Abwertung, bis hin zur physischen Gewalt gegenüber dem "Unmenschen". Das gute Gewissen wird davon nicht tangiert. Der schlimmste Effekt der sog. Flüchtlingskrise ist, gerade weil in ihren Kosequenzen eine für Deutschland existenzielle Frage beantwortet werden muss, denn auch die gesellschaftliche Spaltung, die quer durch Familien und Freundschaften verläuft. Es ist faktisch unmöglich, einen solchen Riss in einer politischen Gemeinschaft zu schließen. Selbst im Privaten gelingt das in den wenigsten Fällen.
1914 sollten noch alle in die Volksgemeinschaft eingeschlossen werden. Schon am 1. August rief Kaiser Wilhelm II. in Berlin die berühmten Worte: „In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne Ich in Meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche.“ Mit Fortgang des Krieges wurden dann vermeintlich Schuldige (Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten) gefunden, die die Einheit der Nation untergruben und den schon sicher geglaubten Sieg verhinderten.
100 Jahre später wird zwar auch die Nation als Ganzes angerufen („Wir schaffen das!“), zugleich aber von Beginn an auf die Parias im Inneren gezeigt. Pack, Dunkeldeutschland, Nationalisten, Rechtspopulisten können nicht Teil der Volksgemeinschaft, heute das „helle Deutschland“ genannt, sein. Wer die Willkommenskultur verweigerte, sah sich außerhalb der legitimen Diskursräume. Darauf stand berufliche, soziale und private Ausgrenzung.
Der manifeste Hass des „hellen Deutschland“ erklärt sich, neben der Idee der Reinheit, wohl auch aus der eigenen Anstrengung, alles das abzuwehren, was das eigene Ideal-Bild und die auf Fiktionen aufgebaute Realität zerstören kann. Die moralisch erhöhende Haltung, alle, die sich nicht den weltoffenen Jargon des Juste Milieu angeeignet haben, als rassistisch zu denunzieren, ist selbst im besten Sinne sozialrassistisch zu nennen. Die Abscheu gegenüber allem Ländlichen, Provinziellen, dem abgehängten und tumben Osten, den apolitischen „kleinen Mann“, die Abwertung der Erfahrungen derjenigen, die vor Ort Leidtragende der Masseneinwanderung junger, muslimischer Männer sind: Polizisten, Lehrerinnen, Sicherheitspersonal, Krankenschwestern, die Verachtung der Eckkneipe oder des viel zitierten Stammtisches – dieser Hass, der sich in einem aggressiven Antirassismus manifestiert, ist geradezu ein Ausweis moralischer Haltung. Man liebt den Fernsten und hasst den Nachbarn, der sich der verordneten Willkommenskultur verweigert.
Am Ende stand im November 1918 Kapitulation und Niederlage. Ein jähes Aufwachen aus dem Traumland, ein tiefer psychischer Schock, den die Nation nicht überwinden konnte und der mit in die spätere Apokalypse führte. Wie die Kriegsbegeisterung von 1914, trotz der Propaganda des nationalsozialistischen Regimes 1939 aber nicht mehr herstellbar war, ist auch die Begeisterung des September 2015 unter keinen Umständen wiederholbar. Sie bleibt ein singuläres Ereignis der deutschen Geschichte. Einen weiteren September 2015 wird es nicht geben. Seine Folgen werden unsere Zukunft aber mehr als alles andere mitbestimmen.