Heute feiern die Briten ihren eigenen Fourth of July mit einer Parlamentswahl, die voraussichtlich ebenfalls einer Revolution gleichkommt. Nach 14 konservativen Regierungsjahren wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Labour-Chef Keir Starmer von King Charles den Regierungsauftrag entgegennehmen.
Der 4. Juli (Fourth of July) gehört eigentlich den Amerikanern. Aber was kümmert die ehemaligen Kolonialherren der Tag, an dem die Amerikaner dem englischen König George ihre Unabhängigkeit erklärt haben. Jetzt feiern die Briten ihren eigenen Fourth of July mit einer Parlamentswahl, die voraussichtlich ebenfalls einer Revolution gleichkommt. Nach 14 konservativen Regierungsjahren wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Labour-Chef Keir Starmer von King Charles den Regierungsauftrag entgegennehmen. Und er wird sich mit ebenfalls an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Unterhaus auf eine Mehrheit von geradezu historischem Ausmaß stützen können.
Warum diese Revolution, nachdem Boris Johnson bei der letzten Wahl ebenfalls eine bombastische Mehrheit gewonnen hatte? Dazu gleich mehr. Aber erst einmal ein paar Worte zu der Frage: Was bedeutet der kommende Machtwechsel für uns auf dem Festland? Er bedeutet vor allem eines: Keir Starmer wird versuchen, sich schritt- und scheibchenweise wieder an die Europäische Union und die einzelnen kontinentalen Nachbarn heranzuflirten.
Warum tut er es so zaghaft? Weil er sich in Sachen EU seiner Wähler nicht sicher sein kann. Bei der Brexit-Abstimmung vor acht Jahren haben jede Menge ehemalige Labour-Wähler aus der immer noch existierenden Arbeiterklasse für einen Abschied von der EU gestimmt. Und bis heute ist nicht klar, wie viele von ihnen immer noch der Überzeugung sind, ihr Königreich sollte sich nicht wieder dem europäischen Leviathan ausliefern. Wenn diese Wähler demnächst bei Starmer ihr Kreuzchen machen, dann nicht, weil sie plötzlich von Europa-Phoben zu Europa-Fans mutiert sind. Sondern weil die Konservativen ihren Brexit vermasselt haben.
Jedenfalls hütet sich der Labour-Mann bisher davor, irgendetwas Konkretes oder gar Begeistertes zum Thema Europa zu sagen. Lediglich eines, was aber auch der konservative Rishi Sunak sagt: Die militärische Zusammenarbeit mit Europa ist in Zeiten des Ukrainekriegs so eng wie schon lange nicht mehr.
Langeweile zur hohen Kunst entwickelt
Als Boris Johnson mit seinem „Let's get Brexit done“ zur Wahl angetreten war, haben Hunderttausende ihre traditionelle Anhängerschaft an die Labour-Partei vergessen. Sie wählten konservativ, in der Hoffnung, dass Johnson nach einem grotesken Hickhack um Theresa May den Brexit zum Erfolg führen würde. Von da an ging es erst recht bergab. Wirtschaftlich und mit der Liebe zu den gerade noch triumphierenden Torys.
Die in Umfragen massenhafte Rückkehr zu Labour ist vor allem eine frustrierte Abkehr von den Konservativen. Aber auch ein Verdienst des geschickten Keir Starmer. Er hat das Nichts-Sagen und die gepflegte Langeweile zur hohen Kunst entwickelt, um niemanden zu verprellen, der sich von den Konservativen abwenden und ihm wieder zuwenden möchte. Vor allem hat er seine Partei vom wenig populären, strammen Links-Kurs seines Vorgängers Jeremy Corbyn energisch auf Mitte getrimmt. Seine Labour-Partei wirkt heute so mittig, dass sie stellenweise unserer CDU ähnlicher sieht als der Schwesterpartei SPD. Und Corbyn wurde schlichtweg zur Unperson erklärt.
Dieses Erfolgsrezept hätte allerdings ohne Mithilfe der konservativen Konkurrenz kaum funktionieren können. Es begann mit dem Spektakel um Theresa May, die bei ihren im Kern vernünftigen, partnerschaftlichen Brexit-Verhandlungen mit Brüssel von ihrer eigenen Partei immer wieder unterlaufen wurde. Ihr Nachfolger Boris Johnson leitete eine Politik der immer konsequenteren Entfernung von der EU ein. Das Verhältnis zu den kontinentalen Nachbarn wurde toxisch. Daheim in Downing Street machte er während der Corona-Epidemie Party, während er seine Landsleute quasi zum Hausarrest verdonnert hat.
Seine Nachfolgerin Liz Truss wirbelte mit einer extremen Steuersenkungspolitik die Finanzmärkte derart durcheinander, dass sie den Rekord als Regierungschefin mit der kürzesten Amtszeit aufstellte. Nach der 50-Tage-Premierministerin hatte Rishi Sunak nun die unmögliche Aufgabe, den verfahrenen Karren wieder flott zu machen. Er leistete eigentlich solide Arbeit mit einer brutal zerstrittenen Partei im Rücken. Aber die Schlacht war nach vier Premierministern in rascher Folge längst verloren.
Vier? Vorher war da ja noch David Cameron, der die Brexit-Abstimmung anzettelte, in der Überzeugung, seine Landsleute würden ein für allemal ihren Verbleib in der EU erklären. Kürzlich war er als Sunaks Außenminister wieder aus der Verbannung zurückgekehrt, eine Verzweiflungstat des Premierministers. Nun muss sich Cameron seelisch auf seine zweite große Pleite einstellen.
Zu viele unerfüllte Versprechen
In Umfragen liegt Labour seit geraumer Zeit satte 20 Punkte vor den Konservativen, und daran konnte auch Sunak nicht mehr rütteln. Persönlich war er beim Publikum ohnehin nie besonders beliebt. Sein größtes psychologisches Manko war und ist, dass er dank seiner Frau an Reichtum sogar den König übertrifft. Inwieweit ihm bei dem einen oder anderen Briten auch sein indischer Migrationshintergrund zum Nachteil gereicht, bleibt unausgesprochen, ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen.
Im Übrigen konnte auch er das Brexit-Versprechen, die britischen Grenzen dichtzumachen und die Einwanderung zu reduzieren, nicht einhalten. Der Migrationsstrom, der so viele Briten veranlasst hat, den Brexit zu wählen, lässt nicht nach. Vor allem aber ist das Versprechen enttäuscht worden, ein von der Brüsseler Bürokratie befreites Königreich könne sich ungebremst zu neuen wirtschaftlichen Höhen aufzuschwingen.
Zwar ist England nicht in den Ruin gestürzt, den mancher Pro-Europäer vorhergesagt hat. Doch die Insel erlebt einen langsamen, aber dauerhaft spürbaren wirtschaftlichen Abstieg. Der freie, weltumspannende Handel mit den Ländern des Commonwealth konnte bisher nicht einmal ansatzweise den Verlust ausgleichen, den der bürokratisch erschwerte Austausch mit den europäischen Nachbarn nach sich zog und zieht. Viele Mittelständler haben ihren Handel mit dem Kontinent ganz eingestellt, oder sie sind einfach über den Kanal in die EU umgezogen. Ein doppelter Verlust für das Königreich.
Wieviel von diesem Abstieg tatsächlich auf den Brexit, auf die Covid-Krise und auf die Kosten des Ukrainekriegs zurückzuführen ist, gehört zu den kaum lösbaren Debattenthemen. Auch der Hinweis, dass Deutschland ohne Brexit dem Königreich bei den miserablen Wirtschaftsdaten Konkurrenz macht, ändert nichts an der Grundstimmung.
Und die ist so: Die Wirtschaft und ihre Probleme stehen heute an oberster Stelle der Themen, die Englands Wähler beschäftigen. Die Torys stehen als die Schuldigen da, Labour als Leuchtturm der Hoffnung. Der Brexit ist in der Tabelle der Themen weit nach unten gerutscht. Aus Enttäuschung und wohl auch im Bewusstsein, dass eine Rückkehr in die EU in den Sternen liegt. Brexit-Reue ist vor allem bei den jüngeren Briten weit verbreitet. Aber von einer Heimkehr als verlorene Söhne und Töchter sprechen die wenigsten Politiker. Auch Keir Starmer nicht.
Das Unausgesprochene
Wie wird sein Annäherungsversuch aussehen? Hier ein bisschen und da ein bisschen. Mal sehen, ob Brüssel bei diesem „cherry picking“ mitmacht. Ein norwegisches Modell mit Anschluss an den Binnenmarkt und die Zollunion schließt er bisher aus. Sollte Labour aber, was die Parteioberen hoffen, über eine längere Strecke in Downing Street verweilen, wird sich vielleicht auch Keir Starmer eines Tages sagen: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“ Zum Interessantesten an dieser Wahl gehört das, was nicht ausgesprochen wird.
Und dann sind da noch die schwer zu berechnenden Dinge. Da ist zum Beispiel Englands härtester EU-Gegner, der frühere Europa-Abgeordnete Nigel Farage mit seiner „Reform UK“. Er ist plötzlich aus dem Hintergrund nach vorn getreten und wird den Konservativen weitere Stimmen stehlen. Aber nicht nur ihnen. Auch Labour ist da nicht ganz immun. Interessant auch die Liberaldemokraten. Ihr Erfolg hängt auch davon ab, wie klug sie sich mit Labour abstimmen. Das englische Wahlsystem gibt ja nur jedem Wahlkreissieger einen Platz im Unterhaus. Je weniger sich Labour und die befreundeten LibDems gegenseitig das Wasser abgraben, desto besser für beide.
Keir Starmers lästigste Sorge ist derzeit Israel. Er steht zu Israels Recht auf Selbstverteidigung, hat aber unter seinen potenziellen Wählern viele moslemische Israel-Hasser und linke Palästinenser-Romantiker. Sich da durchzulavieren, ist angesichts der hochfliegenden Emotionen ein ernstes Problem. Da drohen ein paar Rückschläge, auch wenn sie sicher nicht wahlentscheidend sein werden.
Also, eine ganz freie Bahn gibt es nicht einmal für den ungekrönten König dieses vierten Juli.
Rainer Bonhorst, geboren 1942 in Nürnberg, arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung