Rainer Bonhorst / 17.11.2018 / 14:00 / Foto: Eluveitie / 20 / Seite ausdrucken

Engländer lassen sich nicht durchregieren

Die spinnen, die Engländer. Oder? Ihre Premierministerin Theresa May hat mit den EU-Oberen eine Übergangsvereinbarung zum Brexit ausgehandelt, und was machen die Politiker in Westminster? Sie brechen doch tatsächlich eine leidenschaftliche parlamentarische Debatte vom Zaun. Wie in einer richtigen Demokratie. Unglaublich.

Das verstehe, wer will, in einem Land, in dem die Alternativlosigkeit zum politischen Gesetz geworden ist. In einem Land, in dem kaum einer die Parteilinie verlässt, weil er sonst von der Reserveliste fliegt. Das verstehe, wer will, in einer europäischen Union, in der die Halbdemokratie zur Unions-Raison gehört. In einer EU, in der Demokratie-Lehrlinge aus den Osten den britischen Ur-Demokraten sagen wollen, wie herum sie ihre Schafe zu scheren haben. Oder so ähnlich.

Ich halte es zwar für eine Dummheit, dass die Briten den europäischen Verein verlassen. Das haben sie sich eingebrockt, weil sie das Referendum den älteren Herrschaften mit seniler Bettflucht und Weltreich-Phantasien überlassen haben. Während die jungen europäisch sozialisierten Briten nach harten Stunden im „Turk's Head“ oder im „Red Lion“ zu müde waren, um ins Wahllokal zu gehen. Shit happens, wie der Engländer sagt.

Und nun haben sie den Salat, wie der Deutsche sagt. Und zu dem Salat gehört, dass es im Königreich eine heftige parlamentarische und außerparlamentarische Debatte gibt. Es gibt eine Bewegung, die ein neues Referendum fordert. Es gibt Rücktritte aus der Regierung. Es gibt ein argumentatives Hin und Her, teils parteipolitisch, teils parteiübergreifend. Patrioten, Realisten, Opportunisten, politische Zyniker, Kompetente und Inkompetente, Seriöse und Kuriose, Moderne, Gestrige und Vorgestrige melden sich zu Wort. Eine Premierministerin, die immer einsamer wird, kämpft für ihre Sache und um ihr politisches Überleben. Und sie alle müssen ab und zu heim in ihre Wahlkreise und sich dort loben oder ausschimpfen lassen. Denn keiner steht auf irgendeiner Liste, die ihn oder sie absichert.

Ja, es ist der Teufel los in England. Chaostage in Westminster. Es geht drunter und drüber. So kann es kommen in einer Demokratie. So muss es gelegentlich sogar kommen in einer Demokratie, wenn es um wirklich wichtige Fragen geht. Die Idee, in einer wichtigen Angelegenheit, möglichst unbehelligt durchzuregieren, ist keine demokratische Ursprungsidee. Ja, es ist schwer zu sagen, wer oder was in England am Ende dabei herauskommt. Mann, ist das lästig. Aber auch das ist Demokratie. Die schlechteste Regierungsform außer allen anderen, wie Winston Churchill sagte. 

Es ist eine Schande, dass Europa diese wunderbar demokratisch-chaotische, leicht spinnerte Insel verliert. Wäre Europa selber etwas demokratischer und weniger verbeamtet, das alles wäre nicht passiert. 

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Leserpost

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Jörg Themlitz / 17.11.2018

Da verstehe ich Frau Merkel und Rückenschmerzen Juncker nicht. Wie man Parlamente diszipliniert, da liegen doch Erfahrungen (Stasiakten) vor. Schon die DDR Führung hat für das Bundesdeutsche Parlament Disziplinierungsmaßnahmen vorgenommen, das sogenannte nudging (Belohnung, Erpressung, Bestechung, Diffamierung, Romeo) von Abgeordneten. Heut ist das nudging wohl Listenplatz. Warum kann man die Briten nicht disziplinieren? Der Fehler scheint ein nationaler zu sein. Die lesen wohl eher “1984” und “Farm der Tiere” des Briten George Orwell. (Gibt es schon Buchhandlungen in DE, die diese Bücher auf den Index gesetzt haben?) Als Werke des deutschen Politiker Karl Marx, des Chinesen Mao oder des Russen Wladimir Iljitsch Uljanow.

Peter Zentner / 17.11.2018

“Wäre Europa selber etwas demokratischer und weniger verbeamtet, das alles wäre nicht passiert”, schreiben Sie, lieber Herr Bonhorst. || Wie wahr! Die Briten haben bis heute keine Verfassung, dafür aber ein antikes Dokument: Die “Magna Carta” (Endfassung anno 1225) ist immer noch Grundlage des Rule of Law, des Rechts und der Macht des Parlaments. Viele der ursprünglichen Artikel wurden zwar durch Statute Law Revsion Acts abgeschafft, ersetzt oder modifiziert || Aber dieses weltweit älteste Regelwerk einer konstitutionellen Monarchie, also frühdemokratisch, blieb über all die Jahrhunderte intakt; für die Söhne und Töchter Albions ist “the good old Carta” geradezu heilig. || Die Bevormundung des UK durch ungewählte EU-Kommissare und entsorgte Hinterbänkler der Mitgliedsländer hat den Briten schon lange gestunken, Seit einigen Jahren reicht’s ihnen halt, und sie wollen raus, “Come what may, good or bad; it’s our country.”

Constanze Rüttger / 17.11.2018

Ich beneide die Briten und zwar nicht nur, weil sie so herrlich schrullig sind und einen so wundervollen Humor haben. Ich beneide sie, weil sie vermutlich aus der EU austreten werden. Und ganz besonders beneide ich sie, weil man ihnen immerhin die Möglichkeit gibt, per Referendum selber zu entscheiden. Diese Möglichkeit wird man uns in Deutschland niemals geben, wäre ja noch schöner, dass das Volk entscheiden darf. Und selbst, wenn es jemals ein Referendum zu irgendendetwas geben würde, könnte man ja zur Not auch immer noch die Stimmen schätzen, statt auszählen *Ironieaus*.

Dr. Gerhard Giesemann / 17.11.2018

Ich hoffe, dass die jungen Briten das rückwärtsgewandte “Yes” korrigieren, mit dem schlichten Argument: Das Referendum war zu keinem Zeitpunkt bindend für die Regierung. Aber ein Abrücken vom Yes muss natürlich demokratisch aussehen - dafür lohnt sich das Theater, eine PM, die immer GEGEN den Brexit war wird angegangen, vielleicht tritt sie zurück unter den widrigen Umständen, dann kann man die Karten neu mischen, ein neuer PM kann sogar das Referendum neu anfordern unter den Klarstellungen: Es geht um die Zukunft, das Empire ist Vergangenheit, lasst es uns neu beginnen. Ich glaube immer noch nicht, dass der Brexit kommt - weil ich es nicht glauben möchte im Namen meiner vier englischen Vettern. Die allesamt entsetzt waren über das Yes, ein Yes, mit dem niemand gerechnet hatte, so wenig wie mit einem Wahlsieg Trumps ... . Macht das Beste daraus, meine Engländer, so oder so. Und wir brauchen euch für ein vernünftigeres Europa, mehr denn je.

E. Albert / 17.11.2018

Immer diese Verwechslung mit “Europa” und der “EU”. GB bleibt nach wie vor ein europäisches Land, auch wenn sie das undemokratische Bürokratie-Monster “EU” verlassen. Warum sollte man also plötzlich aufhören, miteinander Handel zu treiben oder miteinander zu sprechen? Ersteres wird vielleicht ein wenig komplizierter werden, aber nicht unmöglich. Ich habe eher den Eindruck, dass hier die Technokraten aus Brüssel befürchten, dass das der Beweis werden könnte, dass es auch OHNE sie geht. Das wäre für die natürlich der GAU, denn dann könnten auch andere Länder auf den Geschmack kommen…Das hieße am Ende noch “Adieu Versorgungsposten”...das will von denen natürlich keiner. Wohin auch sonst mit abgehalfterten “Partei-Freunden”?

Hermann Volkmann / 17.11.2018

Ich bin einigermaßen entsetzt über die Trivialisierung , die aus Ihrem Artikel herauszulesen ist, lieber Herr Bonhorst!  Und zwar über den wahren Gehalt der kommenden Brüsseler Diktatur. Halb ist sie schon verwirklicht. Die Briten tun gut daran , vor ihr wegzulaufen , was die Herrschenden nicht mögen. Täusche ich mich? Haben Sie wirklich nicht verstanden? Oder gehören eigentlich auch zu deren Fürsprechern? Haben Sie keinen Garten oder ähnliches, wo sie ihre Langeweile abarbeiten können, statt in Neunmalklugen Ergüssen, die niemandem wirklich dienen? Viele Ihrer Artikel z.B. über Trump sind ähnlich substanzlos. Mit frdl. Güssen.

Andreas Möller / 17.11.2018

Neben vielen anderen richtigen Aussagen in Ihrem Artikel gebe ich Ihnen insbesondere in dem letzten Satz recht, keinesfalls jedoch in dem vorletzten. Denn meiner Meinung nach ist es gut, dass gerade Großbritannien die Möglichkeit hatte, über den Verbleib in der EU abzustimmen. Wer dabei nun hellwach oder schlaftrunken war, finde ich eigentlich zweitrangig. Vordergründung sehe ich mindestens den Vorteil, dass sich England nun im Gegensatz zu uns und allen anderen EU-Mitgliedern von diesen knallharten Abzockern, krankhaften Regulierern und beispiellosen Versagern in Brüssel nicht mehr das Leben schwer machen lassen müssen. Diesbezüglich beneide ich die Engländer außerordentlich.

Uta Buhr / 17.11.2018

Volle Zustimmung, Herr Bonhorst. In der Tat, in einer Demokratie darf nicht nur, sondern muss gestritten werden. Und genau das tun die Briten. Diese Art Parlamentarismus würde uns, die wir uns seit langem in der Geiselhaft der Alternativlosigkeit befinden, sehr gut tun. Die bleierne Zeit des sturen Durchregierens hierzulande muss umgehend ein Ende finden und den Weg frei machen für offene und faire Debatten im Deutschen Bundestag. Wobei die Betonung auf f a i r liegt. Die Frage ist, ob die zahlreichen notorischen Pöbelanten im Hohen Haus mit diesem Begriff überhaupt etwas anfangen können.

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