Die Nachricht vom Ende der Atomenergie und der fossilen Energieträger war ausgesprochen verfrüht. In der Energiepolitik bleibt derzeit kein Stein auf dem anderen. Und was über Jahre kaputt gemacht wurde braucht auch Jahre um wieder hergestellt zu werden.
Manche Leute werden nur durch Schaden klug. Sie verstehen den Sinn einer Feuerwehr erst, wenn ihr Haus brennt. Erst jetzt, wo die Panzer rollen, kapieren sie, warum ein Land eine Armee braucht. Und die Gefahr, dass Putin uns entweder den Gashahn zudrehen oder zumindest den Erdgaspreis in eine neue Dimension schrauben könnte, musste erst durch den Einmarsch in die Ukraine glaubhaft gemacht werden, um Zweifel an der deutschen „Energiewende“ zu wecken.
Man hat dieses Risiko bislang nie lange ernst genommen. 2014, nach der russischen Annexion der Krim, wurde die gleiche Debatte um russisches Erdgas geführt wie heute, Bundeskanzlerin Merkel wollte „die gesamte Energiepolitik überprüfen“. Doch schnellt geriet das Thema wieder in Vergessenheit. Ist Russland nicht auf die Einnahmen aus dem Gasverkauf angewiesen, so dass Putin es sich gar nicht leisten kann, darauf zu verzichten? Ja, aber was, wenn er das Gas in einigen Jahren nach China verkaufen kann, über eine Pipeline, auf deren Bau Moskau und Peking sich soeben verständigt haben?
Nicht nur CDU-Politiker wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff geht nun ein Licht auf; selbst der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck kennt nun „keine Denktabus“ mehr und will über eine Laufzeitverlängerung für Kernkraft- und Kohlekraftwerke nachdenken. Es ist schade, dass das Denken für Habeck bislang tabu war. Warum bloß? Die Frage ist natürlich auch und zuerst an die Hauptschuldige zu richten, an Angela Merkel.
Nun also tut die Bundesregierung etwas Unerwartetes: Sie handelt. Irgendwie. LNG-Terminals sollen nun gebaut werden, kündigt Bundeskanzler Scholz an. LNG (Liquified Natural Gas) ist Erdgas, das durch Abkühlung auf minus 163 Grad Celsius verflüssigt wird. Anschließend wird es in spezielle Schiffe gefüllt, zum Kontinent des Bestimmungsorts verschifft und dort wieder in Gas verwandelt.
Flüssiggas Jahre im voraus ausverkauft
Durch den bloßen Bau eines LNG-Terminals wird allerdings kein einziges Erdgasmolekül mehr nach Deutschland kommen. Es gibt solche LNG-Terminals in Europa ja bereits, wenn auch nicht in Deutschland. Das ist aber auch gar nicht nötig. LNG aus den USA oder Katar mit Zielort Deutschland könnte auch zu Terminals in Italien, Frankreich oder Belgien verschifft werden. Wo in Europa es ankommt, ist egal. Schließlich haben wir ein europäisches Pipelinenetz, durch das es weitertransportiert werden kann. Wenn ein deutsches LNG-Terminal in Brunsbüttel oder Wilhelmshaven für Deutschland Vorteile bieten soll, dann sowieso nur dann, wenn dort zukünftig auch LNG-Schiffe vor Anker gehen. Das Problem: Es gibt auf dem Weltmarkt kaum LNG-Kontingente zu kaufen. LNG wird nur von relativ wenigen Staaten der Welt – dazu gehören etwa Katar, Kanada, die USA, Trinidad und Tobago und Australien – verkauft, zum großen Teil über langfristige Lieferverträge mit Kraftwerksbetreibern und der Industrie.
Das US-Unternehmen Cheniere Energy, das seit 2016 von zwei Standorten aus – Sabine Pass an der Grenze zwischen Louisiana und Texas sowie Corpus Christi in Texas – LNG verschifft, hatte schon Jahre bevor der Bau der dazu nötigen Anlagen abgeschlossen war, einen großen Teil der zukünftigen Produktion für 13 oder 15 Jahre an europäische und asiatische Energiekonzerne verkauft. Es ist also nicht so, als gäbe es Verkäufer von LNG, die nur auf Käufer aus Deutschland warteten. Wenn die Bundesregierung LNG-Lieferverträge abschließen will, dann wird sie sich vermutlich an solche Firmen in den USA wenden müssen, deren LNG-Terminals noch im Stadium der Planung und Finanzierung sind. Auf die Schnelle geht das nicht.
Das ist eine Erinnerung daran, warum es keine gute Idee ist, Entscheidungen über die Energieversorgung nach kurzfristigen Stimmungstrends auszurichten, wie Bundeskanzlerin Merkel es tat, als sie im März 2011 wegen eines Tsunamis im Pazifik die Abschaltung jener deutschen Kernkraftwerke befahl, deren Laufzeitverlängerung der Deutsche Bundestag erst vier Monate zuvor beschlossen hatte. Die CDU habe das tun müssen, weil die Grünen ihnen sonst bei den Wahlen immer mehr Stimmen weggenommen hätten, erklärte mir ein CDU-Politiker seinerzeit.
Kohle ist in Deutschland der wichtigste Energieträger
Darum also werden Ende des Jahres die letzten drei Kernkraftwerke abgeschaltet. Bei der Kohleverstromung sieht die Sache etwas anders aus: Die politische Klasse tut so, als wäre sie entbehrlich, weiß aber, dass das nicht stimmt. Kohle ist in Deutschland der wichtigste Energieträger. Weltweit wurde 2021 so viel Strom aus Kohle gewonnen wie nie zuvor.
In anderen Ländern macht sich Realismus breit, auch beim Thema Kernenergie. In Finnland wurde im Januar ein neues Kernkraftwerk in Betrieb genommen. Auch die Niederlande, Tschechien, Polen, Großbritannien, Ägypten und die Türkei planen den Bau neuer Kernkraftwerke. Länder wie China und Russland sowieso. In Polen will Europas größter Kupferproduzent, die KGHM Polska Miedz mit Sitz im niederschlesischen Lubin, seine eigenen Kernkraftwerke bauen, um sich mit Strom zu versorgen. „Es gibt keinen anderen logischen Weg für die europäische Industrie, um basierend auf sauberer Energie zu wachsen als über Kernenergie“, sagte der Vorstandsvorsitzende Marcin Chludzinski in einem Interview. „Selbst wenn wir trotz steigender Gas- und Stromkosten eine profitable Produktion aufrechterhalten können, werden einige europäische Stahl- und Eisenproduzenten das nicht mehr länger können.“
Argentinien und China haben letzten Monat einen Vertrag über den Bau des vierten argentinischen Kernkraftwerks, Atucha III, unterschrieben. Attucha III, das im Norden der Provinz Buenos Aires gebaut werden soll, soll eine Leistung von 1.200 MW haben und mindestens 60 Jahre lang Strom produzieren. In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron Anfang Februar die „Renaissance der zivilen französischen Atomenergie“ angekündigt. Mindestens sechs neue Atomkraftwerke sollen gebaut werden. Warum hat Frankreich trotz seiner Kernkraftwerke mit die höchsten Strompreise weltweit? Das liegt nicht an den Kraftwerken, sondern an der Politik, die von Planwirtschaft geprägt ist.
In Frankreich gibt es einen quasi-staatlichen Monopolisten, Électricité de France (EDF). Der hoch verschuldete Konzern ist ein Versorgungswerk für seine 160.000 Angestellten und eine Armee von Rentnern. EDF-Angestellte gehen im Durchschnitt im Alter von 55 Jahren in den Ruhestand. Das kostet. Der Verkauf des Stroms wiederum wird vom Staat geregelt. In einem System namens ARENH ist EDF gezwungen, einen Teil seines Stroms an die Industrie und an Weiterverkäufer zu verkaufen, zu einem Preis, der 2021 um 75 Prozent unter dem Marktpreis lag, bei 42 Euro/MWh. Die Käufer machen ein gutes Geschäft, wenn sie den Strom vier- oder fünffachen Preis weiterverkaufen. Sie haben keinen Anreiz, selbst in die Stromproduktion zu investieren. EDF wiederum braucht sich um die Zufriedenheit seiner Kunden auch keine Gedanken zu machen – und tut es auch nicht.
Schauen wir auf die USA. Im US-Bundesstaat Kalifornien haben sich 80 Wissenschaftler in einem Brief an Gouverneur Gavin Newsom gewandt und ihn beschworen, mit Rücksicht auf die „Gefahr des Klimawandels“ auf die geplante Stilllegung eines kalifornischen Kernkraftwerks zu verzichten. Kalifornien hat viele Windräder und Solaranlagen, ist aber der größte Stromimporteur der Vereinigten Staaten. Der importierte Strom stammt vorwiegend vom Intermountain Power Plant, einem Kohlekraftwerk in Utah.
Deutschland droht Deindustrialisierung
US-Präsident Joe Biden hat die Kernenergie zum zentralen Bestandteil seiner Energiepolitik gemacht. „Kohlenstofffreie Atomkraft ist ein absolut entscheidender Teil unseres Dekarbonisierungsplans“, sagte Energieministerin Jennifer Granholm Anfang November 2021 bei einer Online-Konferenz des Nuclear Energy Institute, die zeitgleich mit der UN-Klimakonferenz in Glasgow stattfand. Sie betonte, dass das nicht „nur Gerede“ sei und wies darauf hin, dass im Haushalt 2022 1,8 Milliarden US-Dollar für den Erhalt der amerikanischen Kernkraftwerke zur Verfügung gestellt werden, mehr als 50 Prozent als im Vorjahr. Es geht um 93 Reaktoren, die zusammen rund 20 Prozent des amerikanischen Stroms produzieren. „Wir müssen mehr Wege finden, sie am Laufen zu halten.“
Die Regierung Biden setzt dabei auch auf den Bau neuer „Mini“-Kernkraftwerke. Anders als die deutsche Bundesregierung scheint das Weiße Haus einen Plan zu haben. Dabei sind die USA als weltgrößter Erdöl- und Erdgasproduzent keineswegs in einer so misslichen Lage wie Deutschland. Vor einem Jahr titelte der Spiegel: „Die Welt baut neue Atomkraftwerke, Deutschland schaut zu.“ Zuschauen wird nicht reichen. Aufgrund der rein ideologisch motivierten Energiepolitik droht Deutschland eine Deindustrialisierung.
„Die Lage ist so ernst, dass selbst standorttreue mittelständische Unternehmen aus diversen Branchen über eine Verlagerung ins Ausland nachdenken müssen“, sagte der Präsident des Industrieverbandes BDI, Siegfried Russwurm. Letzten Monat. Der BDI stützt sich auf eine Umfrage unter 418 mittelständischen Unternehmen verschiedener Größen, Regionen und industrieller Branchen. Demnach sahen in den gestiegenen Energiepreisen 65 Prozent der befragten Unternehmen eine „starke“ und 23 Prozent sogar eine „existenzielle“ Herausforderung.
Zum Schluss etwas zum Lachen: Es ist gerade einmal zwei Jahre her, da warnte Daniel Eckert, der Finanzredakteur (!) der Tageszeitung Die Welt, in einem Beitrag mit dem Titel „Kursziel null. Wegen Klima“, dass die Aktienkurse von Unternehmen, deren Geschäft die Öl- und Gasförderung ist, wegen des „Ausstiegs aus der Kohlenstoffwirtschaft“ auf „null“ fallen könnten. Statt dessen erreichen sie gerade neue Allzeit-Hochs.