Etliche Leser werden die vor gut einer Woche zum Beispiel vom SWR verkündete frohe Botschaft mitbekommen haben:
„Nun hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach einem Eilantrag (von Grünen, Linken und der FDP) entschieden, dass betreute Menschen mit geistiger Behinderung auch schon an der Europawahl Ende Mai teilnehmen dürfen.“
Das war allerdings nur noch eine Formalie, denn schon Ende Januar 2019 hatte das BVerfG bereits grundsätzlich in der Sache zugunsten der „Behinderten“ entschieden.
Beide BVerfG-Entscheidungen beziehen sich aber nicht auf „betreute“ behinderte Personen, sondern auf den wesentlich kleineren Personenkreis, der unter Totalbetreuung Stehenden, deren kognitive, soziale und alltagspraktische Kompetenzen also so eingeschränkt sind, dass eine alle Lebensbereiche umfassende gesetzliche Vollbetreuung erforderlich wurde. Es handelt sich also um diejenigen, die es besonders schwer getroffen hat.
Wenn ein Sprecher vom Verein Lebenshilfe (für geistig Behinderte) im Deutschlandfunk kürzlich äußerte, dass es für die Betroffenen „sehr schade“ wäre, könnten sie bei der Europawahl nicht mitwählen, muss man dem aus nüchterner, vielleicht etwas kaltherzig wirkender medizinisch-psychiatrischer Sicht schlicht entgegenhalten: Nein, das trifft nicht zu. Denn die allermeisten von ihnen kriegen entweder überhaupt nicht mit, dass eine Europawahl ansteht, oder aber sie können mit dem Begriff „Wahl“ oder gar „Europawahl“ nichts anfangen – auch wenn die pädagogischen Mitarbeiter sich vielleicht noch so abmühen, ihnen das zu verklickern.
Das BVerfG-Urteil folgt dem Zeitgeist
Im August 2018 hatte ich mich auf Achgut.com schon einmal mit dem Problem des Wahlrechtes der unter Vollbetreuung stehenden „Behinderten“ auseinandergesetzt. Leider ist mir, wie vielen anderen auch, dabei ein Fehler unterlaufen: Dass es nämlich vermeintlich ausschließlich um die unter Vollbetreuung stehenden geistig Behinderten gehe, da eine hör-, sprach, oder sehbehinderte Person ja in aller Regel keine Vollbetreuung benötigt, wenn überhaupt irgendeine gesetzliche Betreuung. Mittlerweile habe ich aber dazugelernt: Unter den Behinderungsbegriff werden bei dieser Diskussion um die Wahlfähigkeit – aus medizinischer Sicht allerdings nicht ganz korrekt – auch chronisch psychisch Kranke gefasst.
Dennoch gilt – sieht man von der kleinen Gruppe der unter Vollbetreuung stehenden psychisch kranken Straftäter ab –, dass von den ansonsten etwa 81.000 unter Vollbetreuung stehenden Personen gut die Hälfte geistig behindert sind. Die zweitgrößte Gruppe stellen die Demenzkranken dar, mit etwa 25 Prozent. Weitere unter Vollbetreuung stehende Gruppen leiden etwa an Schizophrenie, den Folgen einer Schädel-Hirn-Verletzung oder eines Schlaganfalls.
Dass dieser Personenkreis bisher nicht wählen durfte, fanden nicht nur SPD und Grüne diskriminierend, sondern auch einige Betroffene beziehungsweise deren rechtliche Vertreter. In der von Letzteren angestrengten Verfassungsbeschwerde beim BVerfG wurde Ende Januar das Urteil gesprochen. Es fällt nicht wirklich überraschend aus: Alle, wirklich alle, dürfen künftig wählen. Und das, obwohl auch das BVerfG den Wahlrechtsausschluss für bestimmte Gruppen grundsätzlich für verfassungskonform hält, „wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen dem Volk und den Staatsorganen nicht in hinreichendem Umfang besteht.“
Da ist man natürlich gespannt auf die Begründung. Hat das BVerfG vielleicht dahingehend argumentiert, dass die kognitiven Anforderungen an die Wahlfähigkeit immer schon überschätzt worden seien und eine dazu passende Variante des Kommunikationsprozesses „zwischen dem Volk und den Staatsorganen“ entwickelt? Oder etwa, dass die kognitiven Fähigkeiten von unter Vollbetreuung stehenden Personen mit schwerer geistiger Behinderung oder einer schweren Alzheimer-Demenz von den Medizinern immer schon systematisch unterschätzt worden seien? Oder vielleicht, dass es sich bei den Behinderungen und Krankheiten bloß um soziale Konstrukte handele?
Bemüht wird ein argumentativer Notausgang gesucht
Nein, natürlich nicht. So plump argumentiert ein BVerfG nicht. Das bleibt Politikern, Journalisten und Sozialwissenschaftlern vorbehalten. Aber man merkt der Urteilsbegründung an, dass hier etwas bemüht ein argumentativer Notausgang gesucht und gefunden wurde, um sich am Ende nicht gegen den herrschenden Zeitgeist stellen zu müssen bzw. um das faktische Wahlrecht für alle verkünden zu können.
Der Wahlrechtsausschluss von voll betreuten Personen verstoße nämlich gegen den „Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl“. Denn: „(…) es unterbleibt eine Betreuerbestellung aber, soweit der Betreuungsbedürftigkeit des Betroffenen auf andere Weise, insbesondere durch die Erteilung einer Betreuungs- oder Vorsorgevollmacht oder hinreichende Versorgung im Familienkreis, Rechnung getragen werden kann.“ Und weiter: „Letztlich ist der Wahlrechtsentzug damit davon abhängig, ob wegen des Vorliegens eines konkreten Betreuungsbedarfes die Bestellung eines Betreuers erfolgt oder ob diese aufgrund fehlender Erforderlichkeit unterbleibt.“ Außerdem wird seitens des BVerfG noch ins Feld geführt, dass unbekannt sei, wie groß diese Gruppe ist, die eigentlich vollumfänglich betreuungsbedürftig, aber nicht aktenkundig ist, weil das Problem anders gelöst wird. Man unterstellt aber, ohne irgendwelche Quellen nennen zu können, dass diese Gruppe nicht wesentlich kleiner sei als die unter gesetzlicher Vollbetreuung stehende.
Um den Gedanken des BVerfG noch einmal zu verdeutlichen: Sollte der Autor dieser Zeilen irgendwann einmal an einer Alzheimer-Demenz bis hin zu einem schweren Stadium erkrankt sein, würde – Stand heute – meine Frau auf der Grundlage einer ihr jetzt bereits vorliegenden Vorsorgevollmacht sich um meine Angelegenheiten kümmern. In regelmäßigen Abständen erhielte ich dann weiterhin die Wahlunterlagen. Ob meine Frau die sofort vernichtet, doppelt wählt oder aber mich ein Kreuz machen lässt – möglicherweise bei den Grünen, denn der unter einer bereits fortgeschrittenen Demenz Leidende lebt ja „gedanklich“ meist irgendwo in der Vergangenheit –, muss offen bleiben.
Das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
Sollte meine Frau, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr zur Verfügung stehen, würde irgendjemand einen Bereuungsantrag stellen, an dessen Ende eventuell die Vollbetreuung steht. Dann wäre – nach der bisherigen Rechtslage – Schluss mit dem Wählen. Aber nach dem Urteil des BVerfG dürfte ich nun auch in diesem Fall mein Kreuz bei den Grünen machen. Oder doch bei der SPD? Schließlich habe ich auf Willy Brandt damals große Stücke gehalten. Aber auf keinen Fall bei der AfD, nie gehört. Wer ist das denn?
Das BVerfG stand bei seiner Entscheidung vor der Wahl, entweder bei der bisherigen, gut praktikablen und pragmatischen Lösung des Wahlausschlusses der unter Vollbetreuung Stehenden zu bleiben oder das Kind mit dem Bade auszuschütten. Vielleicht hätte es stattdessen dazu beitragen können, mögliche Ungerechtigkeiten abzustellen. Denn auf Grund des zwischen einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlichen (relativen) Anteils von Vollbetreuungen hätte das BVerfG anregen können, bei jeder Vollbetreuung dezidiert auch Stellung zu nehmen dazu, ob die (kognitiven) Voraussetzungen der Wahlfähigkeit noch vorhanden sind oder nicht.
Stattdessen entschied das BVerfG sich für eine radikale Lösung, weil man mit der bisherigen Methode eine Teilgruppe von ebenfalls nicht wahlfähigen psychisch kranken oder geistig behinderten Personen nicht erfassen würde. Es stellt bemerkenswerterweise keinerlei Überlegungen an, wie dieser Zustand abgestellt oder zumindest abgeschwächt werden könnte. Stattdessen vergrößert es das Problem durch seine – von medialer und politischer Seite natürlich ganz überwiegend gelobte – Entscheidung, jetzt auch den einfach zu identifizierenden Nicht-Wahlfähigen de facto das Wahlrecht zuzusprechen.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.