Früher war alles langweiliger. Vor allem im Sommer. Wenn die Deutschen in den Urlaub fuhren, tat sich das mediale Sommerloch auf. Das Gegacker des Politikzirkus verstummte für ein paar Wochen. Talkshows versendeten nur mehr, was sie für ein Best-of ihrer bisherigen Darbietungen hielten. Kaum ein neuer Film oder ein neues Buch oder eine neue CD wurde auf das Publikum losgelassen. Im Sommerloch wurden (und werden immer noch) ausgeblichene TV-Krimis wiederholt oder Schmonzetten unter weißen Segeln recycelt.
Keine Bundesliga, kaum Skandalisierungen. Printmedien hoben Stücke aus dem Stehsatz, welche ansonsten zu Recht dort verharrt wären. Etwa Betrachtungen über den Urlaub als Chance, irgendwie zu sich selber zu finden. Nicht belegt, aber ziemlich wahrscheinlich ist die Annahme, dass auch Nessie seine anhaltende Medienpräsenz hauptsächlich dem Sommerloch verdankt.
Sogar Verbrechen jeder Natur, das Medienfutter schlechthin, schienen sich im Sommerloch seltener zu ereignen. Weil die hellste Zeit des Jahres dunklem Treiben nicht zuträglich ist?
Seit einiger Zeit, besonders seit ungefähr anderthalb Jahren, ist es mit dem Sommerloch vorbei. Zwar halten Politiker, Showstars und andere Nervensägen weiterhin sommers meist den Rand. Dafür steht der real existente Crime-Sektor jetzt durchgehend in Blüte. Wolf Wondratscheks genialer Buchtitel „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“ könnte in aktualisierter Form „Heute beginnt der Tag mit einem Messerstich“ lauten. Der Medienjunkie, ob er am Morgen Newsportale anklickt oder noch die guten alten Holzprodukte konsumiert, darf erwarten, endlich auch bei zwanzig Grad plus was Scharfes lesen zu dürfen.
Kurz, es ist immer öfter krass was los!
Denn beinahe täglich wird irgendwo im Land gemessert. Die stolze Kanak-Sprak-Ansage „Isch mach disch Messer“, als sogenanntes Kiezdeutsch von einer Potsdamer Germanistin namens Heike (gebürtige Kartoffel, versteht sich), anno 2009 laut „Welt“ zur „lebensweltlichen Äußerung“ erhoben, ist mittlerweile voll krass und ganz realiter in unsere Lebenswelt, nun ja, eingedrungen.
Mal sticht ein Mann auf seine Ehefrau/Ex-Partnerin/Schwester ein, mal ein anderer auf Kunden im Edekamarkt oder auf Passanten in einem U-Bahnhof. Mal gibt es Tote, mal Verletzte, mal beides. Ist ein Polizist in der Nähe, der die prägende Phase seiner Ausbildung nicht gerade in einem Berliner Deeskalationsteam verbracht hat, so wird der Messermann gelegentlich auf durchschlagende Art von weiteren Aktionen abgehalten. Manchmal sind es auch couragierte Mitbürger, die den Täter vergrämen oder sogar dingfest machen.
Sie werden dann für einen Tag oder zwei als Helden in der Lokalpresse gefeiert; besonders, wenn es sich um ausländische Mitbürger handelt. Kurz, es ist immer öfter krass was los! Vorbei die öde, nachrichtendürre Zeit, in der sich Medien mit Reportagen über den Sommer hangeln mussten, welche zum Beispiel von Menschen erzählten, die ihre Ferien seit reichlich dreißig Jahren auf dem miefigen Campingplatz einer sterbenslangweiligen Elbinsel verbringen und darob den Reportern vorschwärmten, eingekleidet in Unterhemd und Jogginghose.
Nun macht nicht jedes banale Gemessere gleich bundesweit Schlagzeilen. Die führenden Onlineportale wie „bild.de“, „t-online.de“ oder „spiegel.de“ melden gewöhnlich nur jene Vorfälle prominent, bei denen es Tote oder Schwerstverletzte gab und ein Zusammenhang mit der (täterseitig selbstredend missverstandenen) Religion des Friedens sich auch bei viel gutem Willen schwerlich ausschließen lässt – Allahu akbar-Rufe während der Tat, was aus dieser Richtung.
Minderschwere Ereignisse bleiben meist in der Regional- und Lokalpresse hängen, wobei unter minderschwer auch schon mal brutalstmöglicher Raub, sexuelle Belästigung oder versuchte beziehungsweise vollzogene Vergewaltigung fällt. Die lokalen Medien füllen ihre Spalten gern mit derlei Vorfällen, gerade im einstigen Sommerloch. Halten sich aber überwiegend an die strengen Leitlinien des Deutschen Presserates, wonach in der Berichterstattung über Straftaten darauf zu achten ist,
"dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte".
Und nun das kleine Sommer-Rätsel
Da die Glaubwürdigkeit der Medien spätestens seit Silvester 2015 ein wenig gelitten hat, verwenden Berichte über Straftaten, Randale und allerlei kunterbunten Terz mittlerweile öfters ganz bewusst – so jedenfalls mein Eindruck – leicht zu entschlüsselnde Codes. Womit sie bezüglich möglicher Presseratsrügen aus dem Schneider sind, gewieften Lesern aber dennoch zu verstehen geben, in welchen Milieus sich einschlägige Vorfälle abspielten. Der Bericht über einen zunächst harmlosen, sodann „eskalierenden Streit“ von Müttern um den Kinderwagenstellplatz in einem Bremer Bus zum Beispiel ist astrein presseratskonform verfasst, schließt durch seine Detailfreude eine Möglichkeit aber sicherlich aus. Lesen und decodieren Sie den Bericht!
Fast schon subversiv-fremdenfeindlich erscheinen Überschriften und Teaser von Artikeln über Vorfälle, die mir im Gedächtnis geblieben sind (Aufzählung sehr unvollständig):
Vorfall in der Shisha-Bar
Messerstecherei im Wettbüro
Schüsse vor der Spielhalle
Tumult am Kulturzentrum
Schlägerei im Fitnessstudio
Pistolenüberfall im Handyshop
Massenschlägerei am Bahnhof
Familien/Hochzeitsfeier eskaliert
Familiendrama in Duisburg-Marxloh
Großfamilien gehen aufeinander los
Familienstreit in Berlin-Gesundbrunnen
Gruppe junger Männer streitet um Frauen
Mann ruft nach Streit per Handy Brüder zu Hilfe
Mann schüttet Partnerin Säure ins Gesicht
Männer attackieren Rettungskräfte
Schwere Übergriffe im Krankenhaus
U-Bahn-Schubser war polizeibekannt
30 bis 40 Mann starke und mit Schlagwerkzeugen bewaffnete Gruppe taucht plötzlich auf
Streit zwischen zwei Kindern wird zur Massenschlägerei mit 40 Personen
Teenager blockieren Rettungswagen
Der Sommer bleibt hoffentlich noch ein Weilchen. Wir dürfen also nicht nur weitere spannende News erwarten, sondern uns auch schon mal auf Wetten vorbereiten. Angenommen, demnächst fährt ein „Teenager“ mit einem Auto in eine Menschenmenge – wer wird als allererste(r) um „die Opfer der grausamen Attacke trauern“?
a) A. Merkel
b) Th. de Maizière
Welches Medium wird als erstes den Verdacht äußern, der Täter sei wahrscheinlich „psychisch instabil“ respektive „ein einsamer Wolf“, keinesfalls aber ein „überzeugter Islamist“?
a) Spiegel online
b) Zeit online
Falls der Täter sich aber doch als islamistisch geeicht entpuppen sollte, wer wird zuerst schreiben: Jede Bombe des Westens zeugt neue Terroristen. Jeder getötete Terrorist hinterlässt zwei neue.
a) Jakob Augstein
b) Jürgen Todenhöfer
Schließen Sie jetzt Ihre Wette ab! Es handelt sich um eine Win-win-Situation! Völlig daneben liegen Sie in keinem Fall.