Das vierte Album von Jeff Lynne und seinem Electric Light Orchestra war zugleich das erste, das der Bezeichnung „Orchester“ auch wirklich gerecht wurde.
Wie hätten die Beatles wohl geklungen, wenn sie im Stil von „Sgt. Pepper“, „Strawberry Fields Forever“ und „I Am The Walrus“ weitergemacht hätten? Vielleicht so wie das Electric Light Orchestra in seiner Anfangszeit? Zumindest hatten dessen Mitglieder das erklärte Ziel, da anknüpfen zu wollen, wo die Fab Four Ende 1967 mit ihrer psychedelischen „Magical Mystery Tour“ aufgehört hatten.
Das Electric Light Orchestra (oder kurz ELO) begann als Ableger der Band The Move aus dem englischen Birmingham. Gegen Ende der 60er Jahre hatte sich Songwriter und Multiinstrumentalist Roy Wood immer mehr in den Vordergrund gedrängt und zunehmend den Hauptgesang übernommen.
Sehr zum Missfallen des eigentlichen Sängers Carl Wayne, der schließlich 1970 die Band verließ. Für ihn kam der singende Gitarrist Jeff Lynne, dem vor allem Woods neue Vision reizte, stärker mit Elementen klassischer Musik zu experimentieren und diese mit Rockmusik zu vereinen.
Roll Over Beethoven
Neben Wood und Lynne gehörte auch noch Move-Schlagzeuger Bev Bevan zur Gründungsbesetzung des Electric Light Orchestras, das in seiner Anfangszeit vielmehr ein Trio als ein Orchester gewesen ist. So war dann auch das Debütalbum von Roy Woods sägender Bearbeitung seines Cellos geprägt, dem allenfalls durch mehrfach übereinander aufgenommene Spuren und einigen von Gastmusikern beigesteuerten Bläser- und Streicher-Overdubs der Anschein eines Orchesters verliehen wurde.
Nichtsdestoweniger schafften sie gleich mit der ersten Singleauskoppelung, dem von Lynne komponierten „10538 Overture“, den Sprung in die Top 10 der britischen sowie der französischen Charts des Jahres 1972. Doch schon während der Sessions zum zweiten Album verließ Roy Wood das ursprünglich von ihm initiierte Projekt wieder und gründete eine neue Band namens Wizzard. Die startete aus dem Stand voll durch und erreichte 1973 mit ihrem Song „See My Baby Jive“ Platz 1 der britischen und Platz 5 der deutschen Hitliste.
ELO machten unterdessen unter der Ägide von Jeff Lynne weiter und holten sich neue Musiker zur Verstärkung; darunter auch ein Streichertrio. Mit ihrer neuen Single konnten sie sich abermals unter den ersten Zehn der UK-Charts platzieren. Diesmal mit einer Coverversion von Chuck Berrys „Roll Over Beethoven“, die mit dem berühmten Anfangsmotiv von Beethovens Fünfter beginnt, das abrupt von Berrys typischem Gitarren-Intro unterbrochen wird. „Roll over Beethoven, and tell Tchaikovsky the news!“
Warum nicht mal eine Symphonie?
Nach einem weiteren Album und einer Single, die außer in Großbritannien, wo sie knapp die Top 20 verfehlte, nirgendwo Spuren hinterließ, war es höchste Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Wahrscheinlich dachte sich Lynne so etwas ähnliches wie: „Hey, wir nennen uns doch Orchester. Warum dann nicht mal eine Symphonie?“ Dazu ersann er die Geschichte eines jungen Mannes, der sich in Tagträumereien flüchtet, um seinem drögen Alltag zu entkommen. In Anlehnung an das sagenumwobene Goldland im Herzen Südamerikas gab Lynne der Traumwelt seines Protagonisten den Namen „Eldorado“.
So sollte dann auch die neue Scheibe heißen, die dazu den Untertitel: „A Symphony By The Electric Light Orchestra“ erhielt. Um dieses Versprechen musikalisch einzulösen, heuerte Lynne ein dreißigköpfiges klassisches Orchester mit Chor an. Und wie es sich für eine Symphonie gehört, steht am Anfang erst einmal die „Eldorado Overture“.
An diese schließt sich dann nahtlos das erste Highlight des Albums an: „Can't Get It Out Of My Head“ ist eine Ballade, die auch von John Lennon hätte stammen können. Die Singleversion wurde zu ELOs erstem Top-10-Hit in den Vereinigten Staaten; wohingegen sie in ihrer britischen Heimat kaum Beachtung fand.
Erstes ELO-Album, das den Namen „Orchestra“ verdient
Das Albumcover zeigt übrigens eine Szene aus dem frühen Fantasyfilm „Der Zauberer von Oz“ von 1939, wo die böse Hexe versucht, sich Dorothys magischen roten Schuhen zu bemächtigen. Wie das jetzt genau mit „Eldorado“ zusammenhängen soll, konnte bis Redaktionsschluss nicht mehr geklärt werden. Weiter geht's auf jeden Fall mit viel orchestralem Trara und dem Song „Boy Blue“, bei dem sich – wie ebenfalls beim letzten Stück der A-Seite „Poor Boy (The Greenwood)“ – definitiv auch der Einfluss von Bob Dylan auf Lynnes Songwriting bemerkbar macht.
Dazwischen liegt mit „Laredo Tornado“ eine Nummer, in der sich schon der aufkommende Disco-Sound ankündigt, dem sich Lynne noch ausgiebig auf dem 1979er ELO-Album „Discovery“ und seinem Beitrag zu dem Musical-Film „Xanadu“ widmen sollte. Die zweite Seite beginnt dann mit einem Midtempo-Stück namens „Mr. Kingdom“,das vielleicht etwas zu offensichtlich von Lennons „Across The Universe“ abgekupfert ist und von manchem Musikkritiker mit halluzinogenen oder zumindest schlaffördernden Drogen in Verbindung gebracht wurde.
Das schönste Stück des Albums ist für mich jedoch der Titeltrack „Eldorado“, der Lynne zufolge davon handelt, dass der Protagonist aufwacht, aber bald schon feststellt, dass es ihm in seinem Traumland besser gefallen hat und deshalb gleich wieder versucht, einzuschlafen. Und das instrumentale „Eldorado Finale“ setzt dem ersten ELO-Album, das den Namen „Orchestra“ auch wirklich verdient und darüber hinaus neue Maßstäbe im Symphonic-Pop setzte, einen würdigen Schlusspunkt.
Träume gehen in Erfüllung
Auch wenn ihre großen Hits erst auf den nachfolgenden Alben kommen sollten, so kann „Eldorado“ als Ganzes vielleicht doch als ihr gelungenstes Album betrachtet werden, das man einfach auflegen und durchlaufen lassen kann – was sich beileibe nicht von allen ihren Platten sagen lässt. Mit den Beatles von 1967 und „I Am The Walrus“ hat das allerdings nicht mehr allzu viel zu tun (obgleich es an Anspielungen nicht mangelt). Dafür darf sich Lynne rühmen, als Mitglied der Traveling Wilburys mit Ex-Beatle George Harrison und Bob Dylan in einer Band gespielt zu haben.
Und das ist noch nicht alles: Bei der virtuellen Wiedervereinigung der Fab Four Mitte der 90er Jahre wurde Lynne von den übriggebliebenen drei Beatles als Co-Produzent engagiert; was er umgehend dazu nutzte, den beiden neuen Stücken „Free As A Bird“ und „Real Love“ seinen Stempel aufzudrücken (was man insbesondere am Schlagzeug-Sound hört). Er durfte sogar eine E-Gitarre einspielen und im Hintergrund mitsingen, was ihn – zumindest vorübergehend – zum fünften Beatle werden ließ. Damit dürfte sich sein größter Traum erfüllt haben.
Oder doch eher durch den überwältigenden Zuspruch, den er seit 2014 mit seiner eigenen Musik erfährt? Unter dem Namen Jeff Lynne's ELO füllt der 77-Jährige heute die größten Hallen und Stadien. Das gab es nicht einmal zu klassischen ELO-Zeiten. Inzwischen hat er auch zwei neue Alben veröffentlicht. Besonders herausragend finde ich den rührenden autobiografischen Song „When I Was A Boy“, der musikalisch direkt an die beiden neuen Beatles-Stücke anknüpft und in dem Lynne erzählt, wie er als kleiner Junge davon träumte, ein berühmter Musiker zu werden. 2016 wurde Jeff Lynne mit seinem Electric Light Orchestra in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen.
YouTube-Link zur „Eldorado Overture“ und „Can't Get It Out Of My Head“ bei einem Live-Konzert im BBC aus dem Jahr 2019
YouTube-Link zum Albumtrack „Boy Blue“
YouTube-Link zum Titel-Song „Eldorado“
Hans Scheuerlein verarbeitet auf der Achse des Guten seit 2021 sein Erschrecken über die Tatsache, dass viele der Schallplatten, die den Soundtrack seines Lebens prägten, inzwischen ein halbes Jahrhundert alt geworden sind.