Vor einigen Tagen begab sich in Berlin Ungeheuerliches: Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, "Bevollmächtigte des Landes beim Bund" und "Beauftragte für Bürgerschaftliches Engagement", sollte ein Grußwort für die Jahreskonferenz der Deutsch-Indischen Gesellschaft (DIG) halten; der Vorsitzende der Gesellschaft und Botschafter a. D. Hans-Joachim Kiderlen erkannte die Beamtin offenbar nicht, jedenfalls sagte er: "Die Staatssekretärin ist noch nicht da. Ich würde sagen, wir fangen mit den Reden dennoch an." Als Chebli sich von ihrem Platz aus meldete und mitteilte, sie sei doch anwesend, antwortete Kiderlen, er habe keine so junge Frau erwartet. "Und dann sind Sie auch noch so schön." Jedenfalls wissen wir das alles von Chebli, die ihr Trauma in einem Facebook-Eintrag unter der Überschrift "Unter Schock – Sexismus" verarbeitete. Dort schilderte sie, wie sie in eine Männerwelt geraten war: "Vier Männer sitzen auf dem Podium."
Und spätestens hier beginnt das Problem der Sawsan Chebli. Denn auf dem Podium saßen eben nicht nur Männer, sondern auch Cornelia von Oheimb von der DIG. Dass ein Sexismusopfer, das sich darüber beklagt, übersehen worden zu sein, ihrerseits eine Frau übersieht, ist schon bemerkenswert genug. Nun sagte Oheimb allerdings auch, Chebli sei zu spät gekommen und habe sich nicht auf den für sie reservierten Platz gesetzt. Sie könne ihr nur raten, das nächste Mal etwas professioneller aufzutreten. Möglicherweise hatte Kiderlen sie also tatsächlich nicht gesehen, weil sie nicht gekommen war, wie sie sollte, und sich nicht dorthin plazierte, wo der Gastgeber es vorgesehen hatte. Vielleicht wollte der Diplomat a. D. Cheblis Unhöflichkeit auch nur mit einer spitzen Bemerkung rügen. Die Schilderungen Oheimbs bestreitet Chebli auch gar nicht.
Damit hätte das Thema Lokalnotiz bleiben können. Blieb es aber nicht. Die "Berliner Zeitung" vom 18. Oktober widmete dem Vorfall ihren Aufmacher auf Seite 1 unter dem Titel, der offenbar immer schon im Stehsatz wartet, wenn es um so genannte gesellschaftliche Themen geht, die angeblich ganz Deutschland diskutiert: "Wir müssen reden". Unterzeile: "Die Berliner Politikerin Sawsan Chebli hat öffentlich den Sexismus angeprangert. Jetzt wird sie heftig attackiert. So ist es schon vielen mutigen Frauen ergangen. Warum ist das so?"
Die Geschichte von der mutigen Anprangerfrau
Es folgt die Schilderung der Angelegenheit aus Cheblis Sicht, dann die mittlerweile auch schon rituelle Feststellung: "Auf ihrer Facebookseite wird die Politikerin seitdem beschimpft und beleidigt." Und zwar wie? "Viele schreiben, sie solle nicht so einen Aufstand machen, es habe sich sich nur um ein Kompliment gehandelt. Der Rassismus, sagt Swasan Chebli, habe sie erschrocken." Wieso es jetzt plötzlich auch um Rassismus gehen soll, teilt die Redakteurin der "Berliner Zeitung" nicht mit. Aber nach der Zusammenfassung irgendwelcher Facebook-Kommentare schreibt sie weiter: "Am Dienstag meldete sich auch noch Cornelia von Oheimb von der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Sie warf Chebli Ungereimtheiten vor und verteidigte den Botschafter, dessen Äußerungen gut gemeint gewesen seien."
Was heißt hier: "Auch noch?" Erst also Facebook-Kommentierer, und dann meldet sich "auch noch" die andere Seite der Auseinandersetzung, die zu hören und zu zitieren - und zwar ebenso ausführlich wie Chebli - journalistische Pflicht gewesen wäre.
Es kommt aber auf Seite 1 der "Berliner Zeitung" noch besser. Denn worin nun diese "Ungereimtheiten" Cheblis bestehen könnten, davon erfahren die Leser zumindest in diesem Blatt kein Wort. Das folgt auch einer gewissen Logik, denn sonst hätte die Autorin Sabine Rennefanz nicht die Geschichte von der mutigen Anprangerfrau schreiben können. Die Methode erinnert an die Praxis von DDR-Medien - dazu gehörte die "Berliner Zeitung" auch einmal - die sich über Berichte in - wie es seinerzeit hieß - "westlichen Gazetten" erregten und Textbausteine folgen ließen, aus denen aber keiner erfuhr, was nun eigentlich Unerhörtes in den Gazetten gestanden hatte. Um das herauszubekommen, musste man RIAS hören.
Die Chebli-Nichtaffäre ist die dritte innerhalb sehr kurzer Zeit, in der die sogenannten Qualitätsmedien demonstrierten, wie es um sie steht. In ihren Berichten von der Frankfurter Buchmesse berichteten Zeitungen und Onlinerportale reihenweise die Geschichte "Rechte verprügeln Abgeordneten" (TAG 24: "Sie riefen dabei Sieg Heil: Frankfurter Stadtverordneter auf Buchmesse verprügelt", BILD: "Buchmesse: Rechte verprügeln Abgeordneten"). Das heißt: sie schrieben die Story von dem Twitter-Account des Frankfurter Stadtverordneten Nico Wehnemann von der PARTEI ab, eine Story, an der sich alles als falsch herausgestellt hat.
Ein aggressiver Linksextremist als rechter Schläger
In Wirklichkeit hatte Wehnemann versucht, auf der Buchmesse eine Absperrung zu durchbrechen; er war von einem Mitarbeiter des Buchmesse-Sicherheitsdienstes abgefangen und kurz zu Boden gedrückt worden. Davon gab es auch mehrere Videos. BILD garnierte ihre Berichterstattung zunächst trotzdem mit dem Foto eines aggressiven glatzköpfigen tätowierten Linksextremisten am Stand des Antaios-Verlages und suggerierte, der Mann sei einer der rechten Schläger.
Ähnlich qualitätsmedienmäßig lief es ab, als am Wahlabend in Niedersachsen gut ein Dutzend Medien schrieben, die ehemalige Grünen-Abgeordnete Elke Twesten - zur CDU gewechselt und damit Anlassgeberin für Neuwahl - habe dem ZDF ein Interview verweigert, beziehungsweise, sie habe es "wortlos" abgebrochen (Focus Online: "Elke Twesten will nach Wahl in Niedersachsen nicht mit ZDF-Reporter reden"). Auch daran stimmte nichts: Twesten sprach mit dem ZDF, sie brach das Gespräch auch nicht ab. Wer mag, kann die saubere Tranchierung der Journalistenenten auf www.uebermedien.de nachlesen.
In allen drei Fällen gibt es ein und dasselbe Grundmuster: Im Kopf eines Journalisten taucht jeweils ein Satz auf. Chebli ist ein tapferes Sexismusopfer. Die Frankfurter Buchmesse ist voller Nazis. Twesten ist eine üble Verräterin. In der Folge geht es nur noch darum, aus Vermutungen, Erfindungen und abgeschriebenen Tweets einen Text zu fabrizieren, der diesen einen Satz illustriert. Recherchieren, die andere Seite hören, Distanz herstellen – das ist, würde ein junger Haltungsjournalist oder -istin sagen, "so was von Neunziger".
Wir sehen gerade einer Art Kernschmelze dieser Medien zu, deren Autoren nur noch die Bühne sehen, um dem Publikum ihre Meinung über irgendetwas mitzuteilen. Diese Meinung ist allerdings nicht nur nicht originell, sondern auch - von der Frankfurter Rundschau bis zum ZDF - immer und überall die gleiche. Das wirkliche Rätsel besteht darin, wie Medienhäuser glauben können, mit Bekenntnisaufsätzen plus herrauskopiertem Social-Network-Plunder dauerhaft Geld verdienen zu können. Wie zügig die Abbrucharbeiten in den etablierten Medien laufen, kann jeder in den IVW-Zahlen über immer schneller sinkende Auflagen nachlesen. Die öffentlich-rechtlichen Sender immerhin müssen sich nicht für den Markt interessieren. Aber dass es der Rest auch nicht tut und nicht nur auf einen Eisberg zusteuert, sondern auch noch die Bodenventile aufdreht und das ganze noch für eine grimmepreisverdächtige Haltung hält – das ist ein großartiges Theater. Eine Tragödie ist es eher nicht.