Wie man mit der Waffe Erkämpftes durch freie Wahlen rückgängig machen kann, deutet sich jetzt in Tunesien an. Selbst eine Revolution setzt die Grundlegung der Gesellschaft voraus. Sie aber ist in Arabien nicht gegeben. Wo der Ausgangspunkt fehlt, im politischen Fall, der Gemeinsinn der Bürger und seine Geburt aus dem Willen zur Freiheit und der Gabe des selbstständigen Handelns, kann es auch mit der Demokratie nicht weit her sein. Sie ist nicht ein Instrument der Macht, sondern der Vernunft, die die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln hat.
Es kommt nicht allein darauf an, die Bastille zu stürmen, es geht auch darum, was man aus ihr symbolisch zu machen versteht. Ein Museum? Ein neues Amt? Demokratie ohne Vernunft kommt im Ergebnis einem Staatsstreich gleich. Im Klartext: Falls die Islamisten in freier Wahl die Macht ergreifen, ist die Bezeichnung „Arabischer Frühling“ obsolet.
Dann ist die Jugend umsonst auf der Straße gewesen, dann hat letzten Endes eine politische Religion gesiegt, die ihren Machtanspruch sozial verbrämt, in Wirklichkeit aber die Vormundschaft über die Bürger anstrebt und den individuellen Freiheitsanspruch mit der Moralkeule in die Schranken weist.
Eine politische Religion greift nach dem Staat, um ihn sich unterzuordnen. Da hilft es auch nicht weiter, von gemäßigten Islamisten zu sprechen, deren Vorbild ein Erdogan sei. Die Wahrheit ist, in Tunesien gab es bisher eine säkulare Diktatur, und nun kündigen sich die Vorboten des Gottesstaates an.
Bei einer schwachen Selbstverankerung des kollektiven Wissens um Recht und Rechte half früher die Orientierung am regionalen Gesamtzusammenhang. Dieser ist heute nicht mehr gegeben. Die Befreiungsrhetorik der Tricontinentale von Che Guevara und Frantz Fanon hat den Freiheitsbegriff auf fatale Weise zu einem nationalen Komplex reduziert, sie hat ihn zum Instrument des Antikolonialismus gemacht, und das wiederum hat den Ausbau der Bürgergesellschaft verhindert und die Durchsetzung der Moderne insgesamt. Während sich ihre Sprecher an der Weltpolitik berauschten, fand die Innenpolitik des Dritte-Welt-Raums ihre Achse nicht.
Woran hätte sich die Gesellschaft der Maghrebländer auch orientieren sollen, nachdem sie sich Paris verboten hat? Was bitte wäre der Westen ohne Frankreich? Es ist die Dritte-Welt- Ideologie, die der arabischen Region die Entwicklungsfähigkeit genommen hat, zuerst durch einen antikolonialen Nationalismus, der vor allem durch Korruption und Amtsmissbrauch ins Gerede kam, und danach mit dem Allheilmittel der politischen Religion, dem Islam.
Damit schadet man vor allem sich selbst, zumal das neu gewählte Parlament auch verfassungsgebende Versammlung sein wird.